Das Fett eines Erhängten
#1
Rainbow 
Das Fett eines Erhängten

Diagnose: Arbeitsfähig. Es war spät geworden und Gloria saß in der mäßig beleuchteten Stube über ein mäßig beleuchtetes Pergamentpapier gebeugt und notierte das Rezept und den Therapieplan für den klumpfüßigen Sohn des Hafenmeisters. Sie errichtete vor ihrem geistigen Auge das Bild eines Jungen, der zu dieser Stunde im Bett lag und schlief und ertappte sich bei dem Gedanken, dass er von ihnen beiden das bessere Los gezogen hatte.

Wenn sie zu Reginald sah, stellte sie sich vor, dass der Bewegungsapparat und das Gehirn des Mediziners nicht aus Nervengewebe, Sehnen und Muskeln bestand, sondern aus kleinen Zahnrädern, die einem Uhrwerk gleich arbeiteten und immer neue Befunde erzeugten. Sein Blick war einzig darauf geeicht Symptome, Krankheitsverläufe und Risikogruppen zu erkennen und zu deuten und entsprechend der Diagnose Tinkturen und Salben zu verabreichen. Beinahe gewann man den Eindruck, dass er niemals aufhörte medizinischen Rätseln auf den Grund zu gehen. Sie fragte sich, ob er hin und wieder schlief, oder ob er sich einfach für ein paar Minuten am Tag abstellte. Wahrscheinlich klappte er einfach sein Gehäuse auf und ölte den Mechanismus, der für den Lidschlag verantwortlich war. Es war wohl so, dass man Gefühle und Empfindungen nicht in der Art erzeugen konnte, wie eine Feder das Pendel schwingen lässt und deshalb - so schien es - hatte er keine.

Ihr geistiges Fassungsvermögen reichte aber gerade noch aus, um zu ahnen, dass er nicht im eigentlichen Sinn streng und hartherzig war, sondern die Ungeduld und seine direkte Art der Beschleunigung des Informationsflusses dienten. Er arbeitete unermüdlich und sie staunte über die Beharrlichkeit und die Konsequenz, mit der er sich der Forschung widmete.

Als er an diesem Abend noch zu einem Patienten aufbrechen wollte und sich anschickte den Raum zu verlassen, war sie bereits im Sitzen eingeschlafen und ahnte nichts von der Gestalt, die wenig später die Treppe und schließlich die Stube betrat. Sie erwachte dann irgendwann aus einem traumlosen Schlaf in die dumpfen Kopfschmerzen, die sie seit dem Schlag auf den Hinterkopf plagten und für die Herr Loewi so wenig Verständnis zeigte und musste feststellen, dass er seinen Koffer mit den Arzneien und Notizen vergessen hatte.

Was dann passierte, wird von ihrer Erinnerung ewig verklärt werden, denn sie überantwortete es ihrer Ungeschicklichkeit und nicht dem Stoß, der sie zu Fall brachte, als sie über die Treppe stürzte und den Inhalt des Koffers über den Boden verstreute. Im Haus waren nur Mitglieder der Familie, die Angstellten und Leibeigenen und wer sollte ihr Böses wollen? Sie wusste nicht wie lange sie bewusstlos gewesen war, aber als sie erwachte, bot sich das Ausmaß des Schlamassels auf sehr anschauliche Weise und rief ihr sofort ins Gedächtnis was Herr Loewi zu der Ordnung in seinem Koffer gesagt hatte: "Niemals angreifen!" Die Phiolen in ihren verschiedenen Größen und Formen waren aus ihrer Verankerung gefallen. Die eigentümlichen Gerätschaften, die kleinen Tiegel für die Salben, die Notizen und das Verbandszeug lagen in einem wilden Durcheinander im Koffer und es blieb ihr nichts anders übrig als sie einer neuen Ordnung zuzuführen. Die meisten Gefäße waren unbeschriftet oder mit einem grünen oder roten Faden gekennzeichnet, andere verrieten ihren Inhalt: Quecksilber, Baumrinde, Schwefelkristalle, das Fett eines Erhängten, eine Alraunenwurzel, Krähenaugen, Petersilie, … Ein Sammelsurium der Wunderlichkeit, ein Gruselkabinett en miniature und keine Möglichkeit für sie, die Dinge zu einer sinnvollen Ordnung zu sortieren. An diesem Abend kroch sie vorsichtshalber in das Schlaflager ihres Vater.


"Wer flüstert nachts in mein Ohr?"
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#2
"Na, was ist, Schweinenase? Kommt das kleine Schweinchen nicht den Baum hoch?". Reginald musste fürchterlich lachen - Seitenstechen inbegriffen - und fast wäre er selbst wieder von der breiten Eiche gestürzt, als er Zeuge der ungeschickten Kletter-Versuche seines besten Freundes wurde. So sehr er den Jungen auch mochte, so war es doch eine gewisse Genugtuung zu sehen, wie ihm die Verhätschelung durch seine Eltern nun in dieser Situation einen Stock zwischen die Beine warf. Als Sohn eines Bienenzüchters, und wer konnte candarischem Honig schon widerstehen, und einer Bäckerin sah man ihn fast ständig irgendwelche süße Pastetchen in seinen breiten Mund stopfen. Böse Zungen würden behaupten Reginalds Einfall, mit Hilfe eines Seils den größten Baum im benachbarten Wald zu erklimmen, wäre überhaupt nur dadurch entstanden um seinen übergewichtigen Kameraden in diese Situation zu bringen.

Der beste Zeitpunkt um Gloria zu beobachten zeigte sich, ganz ohne Zweifel, immer dann, wenn sie in ihre Schreibarbeit vertieft war. Sie hatte ihr eigenes Tempo und das nicht auf die Erledigung ihrer Aufträge, sondern viel eher ihr gesamtes Leben bezogen. Auch der Heilkundige hatte sich schon ein ums andere Mal dabei erwischt, sich die Innenwelt ihres Schädels vor seinem geistigen Auge auszumalen - und 'Malen' war das Stichwort. In seiner Vorstellung hatten die Götter schlicht die Schädeldecke des Mädchen geöffnet und den Inhalt zahlreicher Farbtöpfe hineingeschüttet. Jeder Farbton war enthalten, alle Grundfarben, alle Zwischentöne und natürlich auch all jene, die es überhaupt erst noch durch die Forschung zu entdecken galt. Desweiteren, spann man den Gedanken weiter, musste eine Art Ventil zwischen ihrer Mundhöhle und dem Farbraum existieren, das sich immer dann öffnete, wenn sie zu sprechen begann. Der Inhalt(oder Farbton) wäre dabei nicht von der Situation, sondern vielmehr davon abhängig welche Farbe zu welchem Zeitpunkt über dem Ventil kreiste. Eine dünne Schutzschicht um jede einzelne Farbe verhinderte dabei das Vermischen zu einem einzigen Ton, dessen chaotische und abstrakte Beschaffenheit mit großer Wahrscheinlichkeit zur Geisteskrankheit führen würde. Sie war ein faszinierendes Geschöpf und auch aus diesem Grund erhob er nicht das Wort, als sie an einem bestimmten Abend trotz seines Verbotes den Arztkoffer ergriff und sich in Richtung der Treppe aufmachte. Hatte sie ihn übersehen? Ein überstürzter Versuch seine Gehilfin aufzuhalten lief fürchterlich schief und so konnte er nur noch zusehen, wie sie seinem Griff entglitt und die Stufen herunterstürzte.

"Oink! Oink! Oink!" Das Gesicht des pummeligen Jungen war bereits knallrot angelaufen, die Handflächen durch die Reibung aufgebrannt, als er sich die Hälfte des Seiles nach oben gekämpft hatte. Reginald standen die Tränen in den Augen, dermaßen komisch fand er den beschwerlichen Aufstieg seines Gefährten. Das Lachen sollte erst verstummen, als sein Freund den Halt verlor und ein gutes Stück am Seil hinabrutschte, ehe sich dieses unglücklich um seinen Hals wickelte und dem rapiden Fall mit einem lauten Knacksen ein jähes Ende setzte. Es verstrichen mehrere Sekunden bis der Spötter realisierte was da gerade passiert war; und dieses Mal war es nicht der Hohn, der die Tränen in seine Augen trieb. Hilflos und verloren, panisch und erschüttert, kletterte er überstürzt den breiten Baumstamm herab und lief. Lief und lief. Er lief zurück ins Haus und fort von seinem besten Freund, der reglos an dem Strick herabbaumelte und ihm mit aufgerissenen Augen vorwurfsvoll hinterher sah.

Zum Glück war man Lärm auch zu später Stunde im Anwesen der Ganters gewohnt und so war er der Einzige, der den Sturz Glorias überhaupt mitbekommen hatte. Er untersuchte das liegende Mädchen - sie war in einen tiefen Schlaf gefallen - auf bleibende Schäden und insbesondere ihr Schädel genoss, nicht zuletzt auf Grund der vorangegangenen Verletzung, einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit. Sah man einmal von ein paar blauen Flecken ab(ob die Hülle einer der blauen Farbstoffe wohl beschädigt worden war?), schien sie die Situation geradezu irritierend unbeschadet überstanden zu haben und hatte damit der Ordnung seines Koffers, die erbarmungslos zerstört war, einiges voraus. Es schmerzte, beides in dem aktuellen Zustand zurückzulassen und doch war es ein nötiger Schritt, um eventuellen Schuldzuweisungen zu entgehen. Und so verließ er die Szene.

"Wir sagen einfach, dass der Junge fortgelaufen ist. Was macht es schon für einen Unterschied? Reginald wird nicht reden, immerhin hat es drei Tage gedauert bis er gebeichtet hat. Ah, wir sind fast fertig". Es war nicht das erste Mal, dass er seinen Vater und den Mitarbeiter an der Tür belauschte, um Einblick in deren Arbeit zu bekommen. Für sein junges Alter wusste er schon erstaunlich viel über die verschiedenen Stoffe die in der Medizin ihre Anwendung fanden, dafür hatte sein Erzeuger gesorgt. Dieses Wissen war es auch, das ihm verriet warum sein Freund nicht mehr dort war, wo er ihn zurückgelassen hatte. Ein brodelndes Geräusch verhinderte weiteres Lauschen, doch als er Stunden später das Labor seines Vaters betrat, standen dort zahlreiche Gefäße, gefüllt mit schmieriger Substanz, deren Duftnote ihn geradezu höhnisch an Schwein erinnerte.
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#3
"Aaaarghh! Verfluchter Dreck, ramm' mir doch gleich ein Messer in den Schädel, dann hab ichs hinter mir!" Der zappelnde Mann mittleren Alters, dessen Gliedmaßen mit festen Lederriemen an den Untersuchungstisch geschnallt waren, zappelte, zuckte, brüllte und schrie. Es war ein faszinierender, wenn auch verstörender Anblick für Reginald, der gerade groß genug war um überhaupt über die Tischkante blicken zu können. Hin und wieder ließ sein Vater ihn bei der Behandlung der Kranken zusehen um ihn, so erklärte er der Mutter, für die Arbeit eines Arztes zu sensibilisieren. "Was hat der Mann, Papa?", erkundigte er sich, ohne den Blick auch nur einen Moment von der schnaufenden und sabbernden Gestalt zu wenden. "Ein Teil seines Schädelknochens wurde zertrümmert, Reginald. Er wird höchstwahrscheinlich nicht mehr lange leben, doch wir werden versuchen, was wir können. Bring mir das kleine Fläschchen aus dem zweiten Regal ganz rechts, aber pass auf, dass du nicht verschüttest!". Der Junge konnte den strengen Blick bohrend in seinem Rücken fühlen, als er das durchsichtige Behältnis zwischen die Finger nahm und neugierig betrachtete.


Das Gemüt des Doktors war immer noch erhitzt, als er sich an diesem Abend in sein Arbeitszimmer zurückzog und einen befüllten Teekessel über die Flammen hängte. Die letzten Tage waren von einigen überraschend erfreulichen Ereignissen gespickt, aber wie es nun einmal seine Art war, erinnerte er sich vornehmlich an die schlechten Situationen. Schwester Marianna, die erfolgreich die Durchsetzung seines Willens verhindert hatte, wäre da als erstes Beispiel aufzuführen und die Erinnerung an das Treffen der Heiler hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Er würde sie schon bald zur Untersuchung bitten und dann würde sie sehen, dass Doktor Reginald Loewi in Fragen der Medizin stets das letzte Wort haben sollte. Als dann aber, einige Tage darauf, auch noch sein Titel von niemand geringerem als Godwin Ganter angezweifelt wurde, war das Fass zum Überlaufen gebracht und er sah sich gezwungen einen Beruhigungstee zu sich zu nehmen. Da die candarische Pflanze, welcher er eben jene besänftigende Wirkung zuschrieb, durch das Sperren der Grenze nicht mehr zu bekommen war und sein Vorrat zur Neige ging, war dieser Genuss wirklich nur den äußersten Notfällen vorbehalten. Das Wasser begann zu kochen.

"Was gibst du ihm da?", wollte Reginald mit hörbarer Neugierde wissen, als der Mediziner die bräunliche Flüssigkeit in den Rachen des gefesselten Patienten schüttete. Es dauerte nicht lang bis das Zucken ein Ende fand und auch die Schrei nahmen ab, bis sie zu einem leisen Stöhnen geschrumpft waren. "Es ist ein wirksames Mittel zur Benebelung der Sinne, Reginald. Es ist einfach herzustellen aus dem Fleisch der Tollkirsche, zerriebenes Bilsenkraut und .. das zeige ich dir, wenn du groß genug bist. Aber du darfst es nur in geringen Dosen einsetzen, denn anderenfalls kann es zur Geisteskrankheit führen und darüber hinaus abhängig machen. Also: Finger weg!".

Ein routinierter Griff in seinen Arztkoffer und wenige Sekunden später befand sich die gewünschte Tinktur in dem gefüllten Becher; oder zumindest dachte er das. In seinem aufgebrachten Zustand vergaß er die Unordnung, die dank dem Zusammenstoß mit Gloria in seinem Werkzeugkasten herrschte, und war darüber hinaus nicht aufmerksam genug um die bräunliche Färbung des Wassers rechtzeitig zu bemerken. Und er konnte fühlen, wie die Kreativität und die Leichtlebigkeit ohne anzuklopfen über die Schwelle seines Bewusstseins traten um sich für die Dauer ihres Aufenthaltes einen gemütlichen Platz zu suchen.
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#4
Ein Traum. Nichts weiter als ein böser Traum. Als Reginald seinen Koffer öffnete und sämtlichen Inhalt penibel kontrollierte, fand er das Fläschchen mit der bräunlichen Flüssigkeit unversehrt an seinem angestammten Platz. In Wahrheit war es nichts weiter als eine Tinktur, die man gegen Fußpilz einzusetzen pflegte und abgesehen von dem penetranten Geruch hatte sie mit dem erträumten Mittel nicht viel gemein. Dieses nämlich trug er in einer verkorkten Phiole zu jeder Zeit bei sich, wann immer die Wirkung nachließ und seinen Körper zu verlassen drohte. "Die Geisteskrankheit ist ein treuer Freund des Mediziners, wenn er sie zu kontrollieren weiß .."

Nachdem die letzte Patienten sein Behandlungszimmer verlassen hatte, kontrollierte er sorgfältig alle Räumlichkeiten, verriegelte die Türen und verhängte die Fenster mit dunklen Laken. Nur der helle Schein einer einzelnen Kerze erhellte den Raum, als er den eingewickelten, weiblichen Körper aus seinem Versteck hinter den Holzkisten befreite und auf der Fußbodenmitte in Szene setzte. Reginald genoss den Anblick, gab es doch nichts was einer Frau besser zu Gesicht stand als der Tod. Die Sanftheit, die Ruhe, die Endgültigkeit. Trotz allem musste er sich eilen, denn die ersehnten Zutaten würden nicht mehr lange frisch sein und so verabschiedete er sich mit einem Kuss auf ihren Lippen, ehe die Messer gewetzt und in das bleiche Fleisch getaucht wurden. "Es war mir eine Freude, Marianna."
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