Ganz und gar
#21
Die feine Nadel schiebt sich durch den Stoff. Wird wieder hervorgezogen. Wieder hineingestochen. Die filigranen Fingerspitzen verkrampfen sich einen Deut um das noch viel filigranere Nädelchen. Ein zischendes Geräusch entweicht den Lippen der jungen Frau, deutliches Zeichen ihres aktuellen Unwillens. Mit einer sanften Bewegung streicht sie über den weichen, glatten Stoff des entstehenden Kleides, als wäre es ein kleines Häschen auf ihrem Arm. Doch auch diese Liebkosung ist nicht von allzu langer Dauer.
Sie wusste nicht, ob sie wütend oder traurig sein sollte. Wobei das nicht so ganz der Wahrheit entsprach, denn im Grunde war sie beides. Wütend und Traurig. Traurig und Wütend. Unklar war lediglich, welche Emotion dabei an erster Stelle kam. Aber so war das immer mit den Emotionen… damit kannte sie sich aus. Oder eben auch nicht.
Es war nicht so, als hätten sie einander nahe gestanden – aber dennoch hatte sie stets den Eindruck gehabt, dass man füreinander Sorgen würde. Dass man wenn auch nicht die gleichen, so doch ähnliche Probleme hatte, im selben goldenen Käfig saß. Möglicherweise war Gloria noch etwas behüteter… aber gleichzeitig auch mit mehr Freiheiten ausgestattet… gewesen. Es fiel ihr schwer es zu verstehen, obwohl sie im Grunde doch vollstes Verständnis hatte, als wäre sie selbst aufgebahrt. Irgendjemand war auf den kleinen Vogel getreten und hatte ihn zertrampelt. Hatte sein Gemüt so zerrüttet, dass er sich kopfüber aus dem Vogelnest geworfen hatte. Wie gerne hätte sie den kleinen Vogel in ihre Hände genommen und ihn zurück ins Nest gelegt,… Soviel zur Trauer.
Sie fühlte sich allein gelassen. Nicht, dass Gloria jemals eine Hilfe bei irgendwas gewesen wäre, aber… war nicht jede Schwester und jede Cousine in diesem dreckigen Loch eine wichtige Verbündete? War sie jetzt die einzige, die in keine der vorgefertigten Schablonen zu passen schien? Greta hatte sich immerhin ihre eigenen Regeln erarbeitet und diese sogar verhältnismäßig oft durchgesetzt, aber die selbst… schien in keine Nische zu passen. Zumindest bildete sie sich das ein. Die kleine Nadel arbeitete unkontrolliert weiter Löcher in den feinen Stoff, drauf und dran diesen damit zu ruinieren. Einfach so zu fliehen… war feige. Nicht, dass Galaria es selbst nicht oft genug in Erwägung gezogen hätte. Allzu oft in Erwägung ziehen würde. Im Grunde jeden Tag gegen diesen Impuls ankämpfen würde. Als hätte sie sich nicht bereits 100 verschiedene Möglichkeiten zu sterben und damit diesem Elend zu entfliehen ausgemalt, aber… nachgeben? Nein, das wünschte sie sich weder für sich selbst noch für Gloria. Mit einem entnervten Seufzen lässt sie die Nadel im mittlerweile wirklich ruinierten Stoff stecken um sich zu erheben. Vielleicht würde ihr ein wenig frische Luft gut tun, ehe es dunkel wurde.
Gideon konnte sagen was er wollte, doch sie würde niemals behaupten, sie wäre ermordet worden. Höchstens von sich selbst.

Und nun zur Wut…
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#22
Manchmal war es erstaunlich, wie unterschiedlich das sein konnte, was man gemeinhin unter dem Wort „Familie“ zusammenzufassen versuchte. Zwei alte Greise, die sich lange nichts mehr zu sagen hatten und von niemandem gebraucht wurden, waren ebenso eine Familie, wie der weise Patriarch im andächtigen Kreise seiner Kinder, Enkel und Urenkel. Ein glücklich strahlendes Ehepaar mit einer Schar lärmenden Nachwuchses waren eine Familie, und gleichsam konnte auch ein Geschwistergespann, das seine Eltern kaum kannte, das Gleiche von sich behaupten. Manche Familien hatten nicht viel mehr als ein paar ewig hungrige Mäuler und ein gemeinsames Dach über dem Kopf, andere erschlugen einen mit jahrhundertealten Genealogien und der schieren Zahl an Mitgliedern und Verwandtschaftsbeziehungen.

Was Gwendolin anging, so passte ihre Familie in eine kleine Zelle und war kompakt genug, sich mit ihr eine Decke zu teilen – wenn denn mal eine zur Verfügung stand. Sicherlich, würde man jemand Anderen fragen, wäre die Antwort ganz anders ausgefallen. Würde man jemanden fragen, so gehörte das Mädchen vielmehr zu einer jener Ansammlungen von Genealogien und wichtigen Personen, die aus einer Familie ein krakenartiges Gebilde zu formen vermochten, auch wenn Gwendolin selbst sich eher ganz am Boden jeglicher zugehörigen Hierarchien wiederfand.
So etwas nannte man eine Dynastie, und jede Dynastie die etwas auf sich hielt, schleppte schließlich ein paar kleine Schandflecke mit sich herum, die irgendwo am Bodensatz der allgemeinen Familiengeschichte existierten. Alles andere wäre auch ganz und gar verdächtig gewesen und hätte nach Leichen im Keller gerochen – manchmal im sprichwörtlichen Sinne.


Und obgleich eine solche Antwort auf die familiäre Einordnung der jungen Frau absolut korrekt gewesen wäre, erschien sie Gwendolin selbst völlig verkehrt. Ihre Kindheitserinnerungen hielten, von einigen vagen Bildern des Sumpfes einmal abgesehen, nicht viel von den üblichen Gegebenheiten wie Familienfestivitäten oder geschwisterliche Querelen bereit.
Sie erinnerte sich vielmehr an abgesperrte Türen, an die eigenen gellenden Schreie im Ohr, an Räume, die unter ihren Füßen verschwanden und Tage, die sie kaum von der Nacht hatte unterscheiden können. Irgendwo drumherum waren natürlich auch Menschen gewesen, Gesichter, die erst mit den Jahren an Konturen gewonnen hatten, und noch einmal Jahre gebraucht hatten, um auch Namen zu erhalten. Heute sprachen die Gesichter sogar – damals waren sie jedoch kaum mehr als wabbernder, manchmal furchteinflößender Hintergrund in einem ewigen verworrenen Fiebertraum gewesen.

Bis auf eine Ausnahme, natürlich – es musste immer irgendwo eine Ausnahme geben. An Njals Gesicht erinnerte sie sich auch von damals schon, und obgleich sich die Züge längst geschärft und die Gestalt gestreckt hatte, waren das vertraute Krähennest schwarzer Haare und die dunklen Augen darunter die Gleichen geblieben. Der Leibeigene war heute da, wie er damals da gewesen war: Und hier handelte es sich kaum um bloß körperliche Anwesenheit. Nein, er war da in vollstem Sinne dieses Wortes.
Er war da gewesen als sie mit kaum jemandem sprechen konnte, und hatte gewartet bis sie zumindest nicht mehr schrie. Er war da gewesen als sie sich einbildete, Würmer in ihrer Suppe zu haben, um den Teller so lange neu zu befüllen, bis sie tatsächlich aß. Er hatte sie an der Hand gehalten als sie erstmals in der Lage gewesen war, ihr Zimmer zu verlassen und sich davor gefürchtet hatte, von den ausgestreckten Fluren des alten Landsitzes aufgefressen zu werden.
Er hatte ihr beigebracht wie man Andere ansprach und wie man ohne sich Ohrfeigen einzufangen durch den Tag kam, wie man sich nützlich machte, später auch wie man las und schrieb und wie man mit ehrlichen Augen log (wenn auch Letzteres mit wechselndem Erfolg). Er war stets mit Hühnerbrühe und stinkenden Tees zur Stelle gewesen wenn sie krank war, oder mit einem Haufen an Verbandszeug wenn sie sich mal in den Finger piekste, und dann einfach nur da, wann immer sie von Albträumen gejagt aus dem Schlaf schreckte.

Am Ende hätte das Mädchen lange und hart nachgrübeln müssen um irgendetwas zu nennen, was ihr nicht von dem Leibeigenen beigebracht worden wäre, oder sich an irgendeine Gegebenheit zu erinnern, bei der er nicht da gewesen wäre um auf jeden ihrer Schritte aufzupassen.
Kurzum: Würde man Gwendolin fragen, wer ihre Familie war, wäre die Frage schnell mit einem einzigen Namen beantwortet gewesen.


Es war insofern kaum verwunderlich, dass ihre Familie in eine kleine Zelle passte und sich mit ihr eine Decke hätte teilen können – wenn denn eine zur Verfügung gestanden hätte.
Da nun aber keine da war, begnügte sich die junge Frau vollends damit, sich an den Schwarzschopf zu drücken und in das Halbdunkel der Kerkergänge zu starren. Manchmal döste sie auch ein, nur um alsbald hochzuschrecken, und doch nichts außer dem fahlen Schein weniger Fackeln und der hin und her gehenden Gestalt Garions im Gang zu erblicken. Keine Toten. Keine Geister. Nur der Sonnenlegionär vor der Zelle, Njals Atem auf dem eigenen Haar, und die langsam über aller Angst aufsteigende Entschlossenheit, dem toten Ding seinen toten Hals umdrehen zu wollen, sollte es noch einmal auftauchen.
Schließlich ging es um die Familie.
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#23
Es war lange her, dass die Dunkelheit da gewesen war. Eigentlich das letzte Mal in ihrer Kindheit, als sie sämtliches Begreifen, sämtliche Erinnerungen an das geschluckt hatte, was Gwendolin am Ende in das Haus Ganter geführt hatte. Auch danach war das Dunkel noch da gewesen, durchbrochen von vagen Momenten der Klarheit, fahrigen Erinnerungen an ein karges Zimmer, an erst neblige, dann zunehmend bekannte Gesichter, an den schwarzen Schopf Njals, der sich seit damals kaum verändert zu haben schien.
Und je weiter ihre Gedanken in den Jahren voranrückten, desto weniger Dunkelheit war da, desto mehr Erinnerungen nahmen ihren Platz ein. In den letzten Jahren kam das Dunkel höchstens in ihren Alpträumen einmal vor – und auch da selten, denn schließlich gab es ganz andere Dinge in den Träumen des Mädchens, vor denen es sich zu fürchten galt.
Kurzum: Es war so lange her, dass sie im Dunkeln gewandelt hatte, dass Gwendolin sich kaum daran erinnerte, wie es eigentlich war. Bis heute.


Sie hätte es ja eigentlich erwarten müssen. Die Geister, die Untoten, der Gestank der Kryptagänge, Menschenreste, auf den Tempelstufen verteilt, hallende Schritte eines dunklen Reiters in ihrem Haus – die Ereignisse der letzten Wochen hatten sich hoch und höher aufgetürmt. So hoch, dass sie sich in den letzten Tagen gar nicht mehr sicher war, was noch geträumt und was echt war, und sich irgendwann hauptsächlich mit der Sorge getragen hatte, sich diese Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Sie wollte ja nicht wieder eingesperrt werden.

Dummerweise war es mit aufgetürmten Problemen ähnlich wie mit allem, was man auftürmte: Irgendwann brach der Haufen über einem zusammen. Ihr Begreifen pfiff noch einige Male aus dem letzten Loch, als Marcus durchdrehte. Dann noch ein Mal, als es dem Patriarchen die Lüge um seinen Hermelin aufzutischen galt. Und ein allerletztes Mal, schrill und hoch, als ihre baldige Ehe mit dem Schlächter endgültig bestätigt wurde.
Sie erinnerte sich noch, in die Gesichter der Anwesenden gestarrt zu haben, die mit ganz Anderem beschäftigt blieben, verschwammen, und schließlich verschwanden. Sie erinnerte sich an einen grotesken Tanz und dass sie sogar mit jemandem geredet hatte – die Götter mochten wissen, mit wem genau, sie hätte ihn bloß gern tot gesehen.

Danach hatte Stille geherrscht, und die Dunkelheit folgte ihr auf dem Fuße, ließ nur noch kleine Inseln von Bewusstsein zu, die keine Verbindung mehr zueinander zu haben schienen.

....

Sie setzte ein Hermelin in Godwins Arbeitszimmer. Hermes.... echt oder auch nicht, das hatte gar keine Bedeutung. Sie setzte das Hermelin hinein, weil es da am richtigen Platz war.

Dunkelheit.

Sie stand in der Küche vor dem großen Eintopfkessel, in der Hand ein Fläschchen. Das Fläschchen gehörte Onkel Gaius.
„Ein Tropfen zu viel davon, und ich wache nie mehr auf.“
Sie erinnerte sich zum Glück noch daran, dass Njal aus dem Kessel essen könnte, und kippte den Inhalt doch nicht hinein.


Dunkelheit.

Sie klopfte an der Türe der Zuflucht, eine ganze Weile, bis ihr klar wurde, dass das Haus längst verlassen war.

Dunkelheit.

Menschen beteten am Tempel Mithras'. Sie beteten falsch, und die Toten würden wieder über sie kommen. Die Toten waren nie wirklich fort – wenn man genau hinsah, sah man ihre Schemen in der Menge der Betenden stehen.

Dunkelheit.

Die Stadt war leer, und sie irrte durch die Gassen auf der Suche nach dem Leibeigenen. Sie war sich nicht sicher, ob sie in den richtigen Gassen suchte und ließ es irgendwann sein.

Dunkelheit.

Ein Schrein. Man musste etwas verschenken, also leerte sie ihre Taschen und legte alles, was sie darin fand, als Opfer ab. Ihre Finger zitternden grässlich, und ließen erst den Stift, dann die wenigen Heller auf den Boden fallen. Das war ärgerlich. Kalte Erde sammelte sich unter den Fingernägeln, als sie die Sachen immer wieder aufhob.

Dunkelheit.
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#24
Sie stand noch lange im Dunkeln da, blinzelte nachtblind zwischen den Wänden umher und horchte in die Stille des Hauses hinein, bei jedem zufälligen Knirschen oder Knarzen nervös aufschreckend. Vielleicht würde man sie ja doch gleich holen. Vielleicht käme gleich jemand zurück und riefe sie mit sich. Nach unten, wo es Licht gab und Stimmen und interessante Sachen zu erfahren. Es ging da unten um die Zeitung, hatte Lisbeth gesagt. Sie half doch auch bei der Zeitung. Onkel Gaius hatte sie sogar bei Gesprächen mitschreiben lassen. Sie war doch auch... oder nicht? Vielleicht nicht mehr. Vielleicht brauchte man sie nicht mehr.
Gwendolin stand trotzdem da, wartete und wartete, auf das Prasseln des Regens und die Stille im Inneren des Hauses lauschend. Erst als verabschiedende Stimmen draußen aufklangen und Schritte auf der Treppe zu den Schlafräumen nebenan knarzten sah sie endgültig ein, dass niemand sie holen würde.

Sie schluckte es still herunter, gab sich einen Ruck und holte langsam neue Kerzen aus dem Vorratsregal – deswegen war sie schließlich gekommen. Vorhin. Vor Urzeiten. Dann ging sie noch eine Weile in den nun endgültig schlafenden Häusern um, tauschte Kerzenstummel gegen frische Wachsstängel. Sie selbst brauchte kein Licht dafür, kannte die Route und die Stellen, an welchen Kerzenständer im Anwesen standen, gut genug.
Allein die Schlafräume wurden ausgelassen: Gwen musste schon vor einiger Zeit verwundert feststellen, dass die Leute aus irgendeinem Grund gereizt reagierten, wenn sie Nachts hereinkam um ihre Kerzen zu wechseln. Einmal war sogar ein Nachttopf nach ihr geworfen worden. Dabei hatte sie es jedes Mal nur gut gemeint, und sich auch möglichst leise verhalten, die Kerzen sogar beim Einstecken mit einem Messerchen angespitzt, damit sie still und mühelos in die Halterungen glitten. Das mit dem Messer war jedoch plötzlich auch ein Stein des Anstoßes gewesen – man nahm es ihr nach dem Nachttopfvorfall weg, und so war das Ende vom Lied, dass sie sich nur noch tagsüber der Beleuchtung der Schlafräume annahm.
Was wiederum völlig widersinnig erschien, denn wen interessierten Kerzen tagsüber schon? Der Tag war eine ganz und gar falsche Zeit zum Kerzenwechseln. Aber manchmal waren die Leute komisch im Kopf und sahen das nicht ein, das musste man eben so hinnehmen.
So vor sich hin grübelnd und murmelnd beendete sie ihren Rundgang endlich in der Küche, steckte dort die letzte mitgebrachte, besonders große Kerze in den schweren Leuchter auf dem Tisch, und verharrte dann wieder mit den Taschen voller Wachsstummel. Die galt es noch wegzubringen – heimliches Entsorgen im Kanal eignete sich bekanntermaßen besonders gut, wenn man nicht im Regen zur Müllgrube laufen wollte – und dann war sie eigentlich fertig und würde sich auch hinlegen können.


Einige Minuten später erwischte Gwen sich dabei, wie sie doch zur Müllgrube ging, und das nicht auf dem kürzesten Weg. Die Straßen waren wie leergefegt, was wenig verwundern mochte: Klammer Regen, der einem in den Kragen fiel und nicht minder klammer Wind, der überall da unter die Kleidung kroch wo der Regen nicht hinkam, ließen kaum Gründe offen, mitten in der Nacht noch unterwegs zu sein. Außer man ging zur Müllgrube. Auf dem möglichst langen Weg.
Weil... weil... im Grunde weil sie sich nicht schlafen legen mochte, so musste das Mädchen es sich eingestehen. Es war viel, viel zu gruselig in der Nacht aus einem Alptraum aufzuschrecken, ohne dass bereits jemand an ihrem Ohr flüsterte, dass sie bloß schlecht geträumt hätte. Viel zu gruselig, mit klopfendem Herzen allein in der Küche zu sitzen, zu grübeln, ob es nun ein Traum war oder nicht, und dann noch einmal lange auf bekannte Schritte zu warten, die doch nicht kamen.
Njal hatte zu tun, hieß es. Hatte was Wichtiges zu tun. Man sagte ihr nicht, was, aber am Ende war er nicht da – und sie begann sich wieder vor dem Schlafen zu fürchten und vor blutigen Schatten, die aus leeren Ecken krochen und von niemandem mehr vertrieben wurden.
Also wanderte sie Nachts herum, bis Kälte und Müdigkeit sie doch nach Hause treiben würden. Sie hätte auch gern jemanden besucht, aber Garion hatte sie in Wochen nicht gesehen, die Zuflucht gab es nicht mehr, und wo man Deagen suchten sollte, wusste sie auch nicht. Zu jemand Anderem traute sie sich in dieser Zeit nicht hin: Nachher würden bloß wieder Nachttöpfe fliegen.
Es blieb sich nur klamm zu wundern, wie die Leute plötzlich alle verschwunden waren. Als hätten die Untoten sie geholt. Aber vielleicht war es auch so? Vielleicht hatte man es ihr nur nicht gesagt, damit sie nicht durchdrehte und weiter jemand zum Wäsche machen und Kerzen wechseln da war?

Gwen schnappte nach Luft bei diesem Gedanken, der sich so plötzlich wie tückisch herangeschlichen hatte und nun seinen vollen Schrecken im regennassen Köpfchen entfaltete. Sie hätte beinah erschrocken aufgeschrieen – zum Glück ging das aber in kratzendem Husten unter, kaum, dass der Schwall kühler Herbstluft in ihrer Kehle ankam.
Zum Glück...besser Husten als Schreien, wurde ihr bald darauf klar, als sie sich schwer atmend an die nächstbeste Wand drückte, wartend, dass sich das Zittern der Knie wieder beruhigte. Schreien hätte doch recht peinlich enden können.
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#25
Wie jeden Abend dreht er nach seiner Runde in der Stadt ein paar zusatzrunden im Anwesen. Ein Prozedere das ihn beruhigt, eine alte gewohnheit eben. Ohne Licht, ohne Furcht vor den schatten in den dunkelsten Ecken des Gebäudes, sie sind alte bekannte. Doch seit einigen Tagen scheint irgendwas anders zu sein:

" Dieses Gebäude hat bereits viel erlebt seitdem die familie es besetzt hält, tragödien, Morde, intrigen und komplotte. Das alles stehts unter dem Wappen der Gans."

Seine schweren Stiefel scharren über die Holzdielen als er über die Hintertür von der Küche in den Laden tritt, von oben dringt das schnarchen und schlummern der Hausangestellten zu ihm durch.

" Doch nun ist es still, während Tags über die wenigen Angestellten ihrer Arbeit nachgehen und man stetig das stapfen von schuhen hören kann, ist die Nacht still... Totenstill. So wie sie sich untereinander bekriegen, kämpfen sie auch gegen Feinde von außerhalb."

Wenige schritte über die Vordertür in richtung hauptgebäude mit dem Büro des Patriarchen.

"Der Geist einer verstorbenen Tochter, die unfähigkeit der eigenen Kinder, das verschwinden von familienmitgliedern, das absetzten eines Waffenmeisters, eine Gans hat es nicht leicht wenn sie von Wölfen und Füchsen umzingelt ist. Jeder kampf ist ein kampf ums überleben und es scheint immer mehr danach auzusehen das die Gans letztendlich diesen kampf verliert"

Doch anstatt die Treppe hinauf zu nehmen dreht er sich nach rechts und tritt durch die Tür in den Keller. Feuchte luft gemischt mit den gerüchen alchemistischer zutaten kommen ihm entgegen. Langsam steigt er in der Dunkelheit die stufen herab und tritt durch die Stube.

"Sich in diese Dinge einzumischen ist gefährlich, ja gar tödlich falls man kein Ganter ist. Familienangelegenheiten sind Dinge der Familie wer sich dennoch daran versucht und dabei scheitert... nun für den steht viel auf dem Spiel wie man sehn konnte. Wache und gehorche, stell besser keine Fragen wenn die antwort dir nicht gefallen könnte und halt dich im Schatten damit die anderen im Licht wandeln können, in dem sie sich so gern Sonnen."

Laut hallen seine Stiefel in dem finsteren Kellergang und ein Schritt nach dem anderen nähert er sich der Treppe ins freie. Bei Lager und Archiv prüft er ob die Türen auch verschlossen sind.

" Doch in dieser Finsternis regt sich etwas, ein schatten, ein Geist, ein Gedanke? Man kann es spüren das sich etwas tut, der Wind dreht sich, ein neuer Kurs folgt und es scheint das diesem Haus noch ein wenig mehr Schrecken bevorsteht als bisher. Selbst in dieser Dunkelheit, bei meinem hundersten Rundgang, stellen sich meine Nackenhaare auf wenn ich daran denken muss. Die Schatten werden länger und drohen jeden zu verschlingen der zulange in dieser Finsternis wandelt. Wache, gehorche ,halt dich im Schatten und Stelle keine Fragen wenn dir die Antwort nicht gefallen könnte."

Fast hastig steigt er die Stufen hinauf und blickt nocheinmal in die gähnende Finsternis.

"War da was? Ich könnte schwö... nein. Es war bestimmt nur eine Ratte..."

Und als die Schritte der Hauswache verklungen sind, liegt das Anwesen wieder in seinem gewohntem Schlummer...
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#26
Sie mochte es hier am liebsten. Es gab keinen hübsch eingerichteten Schrein, keine Bänke, keine Plattformen für Feuerschalen und Opfer, ja, nicht einmal einen Trampelpfad gab es im hohen Gras, das zu selten betreten wurde, um solcherlei zuzulassen. Es gab überhaupt nichts außer Bäumen, Gras, und den stummen, mannshohen Steinen, vor Urzeiten in einem Kreis aufgestellt.
Sie waren, das sah man noch heute, von unbekannter Hand nur ganz grob in Form gebracht worden, ehe sie ihren Platz im Flüsterwald einnahmen – schätzungsweise zu einer Zeit, als der Flüsterwald noch andere Namen trug und ganz Servano einnahm. Allein die Jahre hatten mittlerweile dafür gesorgt, dass die Oberfläche kaum noch Kanten zeigte, sich hier und da beinah samtig unter tastender Hand anzufühlen vermochte.
Das gefiel Gwen. Das Ursprüngliche, das kaum Angerührte: Der Steinkreis trug etwas schmerzlich, fühlbar Wahrhaftiges in sich ohne all die Annehmlichkeiten, die man Opfer- und Gebetsstätten normalerweise zudachte.


Also kam sie hierher, so oft sie konnte, allein schon, um die Stimme nicht hören zu müssen. Stimmen, die mal leiser, mal lauter in ihrem Kopf aufklangen, und meistens rügten und mahnten.
'Das darfst du nicht'. 'So redest du nicht'. 'Seit wann kannst du den Kopf gerade halten?'. 'Das nimmt keiner ernst'. 'Es merkt doch jeder, dass es nicht deine Worte sind, wo hast du sie her?'
Und so weiter, und so fort, als hätte sich in ihrem Schädel eine eigene kleine, fiese Ganter-Familie eingenistet, die sie nun fortwährend traktierte, kaum dass sie den Mund aufmachte um...nun ja. Um den Göttern zu dienen.

Es kam hauptsächlich dann. In den Momenten, in denen sie nicht mehr als Bastard in der Ecke auftreten sollte, nicht durfte. In den Momenten, in denen sie tatsächlich irgendetwas Hilfreiches und Kluges herausbekommen musste, gegenüber Menschen, die in solchen Augenblicken verwirrter schienen, als sie selbst.
Plötzlich kamen sie alle und wollten reden, und sie wollten mit einer Druidin reden, nicht mit Gwen dem Bastard. Sie brauchten eine Druidin, also war sie eine. Für jene, die zu ihr kamen...für die Götter. Es gab in solchen Gesprächen keine Zeit für Zweifel und Überlegungen und Gestotter, keinen Platz für Angst oder Unsicherheit.

Erst wenn sie sich nach jedem dieser Gespräche unter einem Vorwand in den Keller geschlichen und die Tür fest versperrt hatte, wenn sie einmal durchgeatmet und in die Dunkelheit vor sich „Jetzt habe ich Zeit“ geflüstert hatte, dann kamen die Stimmen. Dann sprach sie mit ihnen.
Rechtfertigte sich, entschuldigte sich, jammerte, stotterte, kauerte in der Ecke, die Augen fest zusammengekniffen, bis es nachließ und das Geschrei in ihrem Inneren wieder abebbte.


Manchmal half aber auch das nicht. Dann rappelte sie sich irgendwann auf und schlich in den Wald, lehnte sich an die kühle Oberfläche eines Obelisken, und genoss die eintretende Stille.

Hier, im Angesicht der alten Götter, wagte es keine Stimme mehr, sich hören zu lassen. Es gab nur sie und den Steinkreis, nur das Rauschen von Blättern im Wind und das Schlagen von Trommeln weit, weit weg in den Sümpfen.
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