Stärke durch Einigkeit
#11
Ein Brief nach Ravinsthal

Nun stand sie am steinigen Abhang, der Bach rauschte unter ihr vorbei. Jener Bach, der sie von ihrer Heimat trennte. Wieder nahm sie einen Stein auf, etwa faustgroß, wog ihn kurz in der Hand, spähte nach drüben und mit einer raschen und mittlerweile geübten Bewegung warf sie ihn aus der Schulter heraus hinüber.

Viele Steine lagen mittlerweile auf dem kleinen Bergpfad. Die ersten waren entweder direkt am Felsen abgeprallt und in den Bach geplumpst, oder an der gegenüberliegenden Felswand abgeprallt, auf den Weg gesprungen und dann im Gras oder im Gebüsch liegen geblieben, einige durch den Aufprall soweit zurückgekullert, dass sie ebenfalls den Abhang hinunter ins Wasser gefallen waren.

Aber nun war sie sich recht sicher, dass sie es schaffen konnte, den Stein, den besonderen Stein dorthin zu bekommen, wo er von vorbeigehenden Wanderern gesehen werden musste.

In der Nacht zuvor, als alle zu Bett gegangen waren, hatte sie bei dem Licht einer kleinen Kerze lange Zeit über dem leeren Blatt Papier gesessen und überlegt, was sie schreiben sollte. Nur eine Nachricht, dass es ihr gut ging, dass sie sich drüben keine Sorgen um sie machen sollten. Und so hatte sie begonnen:

Zitat:Lieber Vater!
Liebe Mutter!
Meine liebsten Geschwister!

Sicher habt Ihr schon gemerkt, dass ich nicht, wie verabredet, in Rabenstein angekommen bin, um mir dort eine Anstellung zu suchen. Auf dem Weg dorthin wurde ich von bösen Räubern überfallen, die mich nach Servano verschleppt haben.

Sie machte eine Schreibpause und dachte über den letzten Satz nach. Das war eine glatte Lüge, aber wie hätte sie ihnen in einem Brief, nach so langer Zeit erklären können, dass es ihre Abenteuerlust war, die sie mit der Handelskarawane mitgehen ließ. Und ihre Naivität war es, die sie den Worten des 'schönen' Jeremias glauben ließ, dass in Löwenstein das Leben auf sie warten würde. Sie seufzte leise.

Ach, hätte sie es doch gewusst, was sie dort erwartet, nicht einen Schritt wäre sie vom Weg nach Rabenstein abgekommen. Aber es war besser, wenn die Daheim nicht wussten, dass sie freiwillig mitgegangen war. So tauchte sie die Feder ins Tintenfässchen und schrieb weiter:

Zitat:Zum Glück wurde ich recht schnell von einem edlen Ritter, der des Weges kam, wieder befreit und mir ist nichts geschehen. Doch stellt euch vor: Als ich zurück nach Ravinsthal wollte, wurde ich erneut verschleppt. Dieses Mal von der Obrigkeit selbst und zwar auf eine Insel. Sie sagten, die Keuche sei ausgebrochen und jeder neu Eingereiste habe dort einige Zeit zu verbringen, um zu prüfen, dass er die Krankheit nicht habe. Es war ganz furchtbar!

Als ich die Insel wieder verlassen konnte, habe ich eine Anstellung in Löwenstein gefunden. Die Grenzen waren mittlerweile geschlossen worden und so habe ich mich dort als Magd verdungen. Es ist eine Familie aus Hohenmarschen und sie behandeln mich gut. Sie heißen Jehann.

Wieder hielt sie inne und schaut nachdenklich auf. Sollte sie noch mehr preisgeben von ihrem Leben hier in Löwenstein? Von dem Mann, den sie geliebt hatte, wie noch keinen zuvor und keinen danach? Von ihrer geplanten Hochzeit, dem Kind, das sie erwartet hatte? Und von dem, was sie getan hatte, nachdem er ohne ein Wort einfach gegangen war? Sollte sie davon erzählen, wie dreckig es hier war? Wie gefährlich? Dass sie überfallen worden war? Dass sie...

Mit einer energischen Handbewegung verscheuchte sie all diese Gedanken, dabei einen kleinen Tintenklecks auf der Tischdecke hinterlassend. Nein! Nein, es war besser, sie damit nicht zu belasten. Sie sollten denken, dass es ihr ganz vorzüglich gehe, dass sie glücklich sei und dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten.

Zitat:Stellt euch vor, der oberste Herr, er nennt sich Patriarch, ist sogar ein ganz angesehener Bürger und Stadtrat! Ich glaube, ich genieße sein Vertrauen, denn er ist immer ganz nett zu mir. Ich hätte es nicht besser treffen können!

Auch der Rest der Familie ist immer nur sehr freundlich. Und ja, Mutter, ich halte mich an deinen Ratschlag!

An dieser Stelle begann sie zu kichern und ein kleiner Tintenklecks breitete sich auf dem billigen Papier aus. Bei allen Göttern! Sie hatte so ziemlich jeden bisherigen Ratschlag ihrer Mutter in den Wind geschlagen, seitdem sie hier in Löwenstein angekommen war. Und sie fühlte sich nicht sonderlich wohl dabei. Aber dieser spezielle Ratschlag, an den sie nun denken musste, auf den hätte sie hören sollen, bei diesem bereute sie es fast, ihn so bedenkenlos missachtet zu haben.

Zitat:Also meine Lieben, mir geht es sehr gut hier in Löwenstein und ich hoffe, dass es bei euch zu Hause auch alles seinen Gang geht. Wie geht es Ferdinand, Annalenchen, Kathrinchen, Josepha, Rupert und der kleinen Mechthild? Kann sie schon laufen? Oh, wenn ihr wüsstet, wie sehr ich sie alle vermisse und wie oft ich an euch alle denke!

Ich bete zu allen Göttern, dass dieser Brief, den ich über den Grenzbach nach Ravinsthal werfe, in den Händen eines gnädigen Finders landet, der ihn euch ausliefert. Macht euch um eine Bezahlung keine Gedanken, ich habe zwei Silberlinge als Belohnung mit daran gebunden.

Ich küsse und herze euch, meine lieben Geschwister und bin in Gedanken bei euch!

Mögen die Götter euch alle beschützen und für ein glückliches Wiedersehen sorgen, wenn sich die Grenzen eines Tages wieder öffnen sollten.

Eure Magdalena

Nachdem sie einigermaßen zufrieden mit den gefundenen Worten war, faltete sie das Papier, nahm dann einen weiteren Bogen zur Hand und beschriftete ihn mit einer detaillierten Wegbeschreibung zum Haus ihrer Familie, sowie einer Bitte an den 'edlen' Finder, ihn dort auszuliefern. Zwei silberne Münzen nahm sie zur Hand und klebte diese mit etwas Wachs auf die Innenseite der Wegbschreibung, ebenso wie den Brief. Dann nahm sie den Stein zur Hand und die roten und gelben Stoffstreifen, die sie sich eigens dafür zurecht geschnitten hatte.

Die ineinander gefalteten Papiere und Münzen wurden dann mit den auffälligen Stoffstreifen fest an den Stein gewickelt. Dies musste einfach die Aufmerksamkeit eines zufällig Vorbeikommenden erregen. Sie küsste den bunten Stein mehrmals und steckte ihn in ihre Tasche, bevor sie sich dann zur Ruhe begab.

Und nun stand sie hier, den Brief-Stein in der Hand und visierte die Stelle an, an der er landen sollte. Dann warf sie...
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