FSK-18 Wer schön sein will, muss leiden
#1
Ein ganz normaler Morgen. Sie streckte sich noch ein wenig, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Fensterchen fielen und bizarre Muster durch das verschlierte Glas auf die Wand warfen. Sie genoß den Luxus des späten Aufstehens. Seit der Auslieferung des Auftrages konnte sie sich einen Tag leisten, an dem sie nicht zu früher Morgenstund aufbrechen musste, um die taufrischen Kräuter zu sammeln und in der Markthalle zu verkaufen. Doch nach wenigen Minuten des Wachwerdens, Blinzelns, Streckens und Gähnens, schlug sie die leichte Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett.

Ein kurzer Blick in den Spiegel ließ sie leise seufzen. Es war mal wieder Zeit. Wie immer, hatte sie bereits am vorangegangen Abend reichlich Wasser geholt und so goß sie etwas davon in die Schüssel, nahm das saubere Leinentüchlein, holte die kleine Holzschachtel aus der Schublade, tunkte den um den Zeigefinger gewickelten Stoff zunächst in das Wasser, dann in das weißlich-grüne Pülverchen und begann sich die Zähne zu putzen. Der intensive Geschmack von Salbei breitete sich in ihrem Mund aus, während sie recht sorgfältig vor allem den vorderen Bereich der Zähne mit dem selbstgemachten Zahnpulver reinigte. Sie überlegte sich, ob sie den nächsten Ansatz nicht doch lieber wieder mit Minze machen sollte, der Geschmack war auf alle Fälle angenehmer. Nachdem sie gründlich gespült hatte, stand sie auf und öffnete die Fensterchen zur Straßenseite, um die noch kühle Morgenluft hinein zu lassen.

Nur mit einem Morgenmäntelchen aus verboten dünnem Stoff bekleidet, der so weich den Körper umschmeichelte, stieg sie die Treppe hinab und gab einige Brocken Wachs in den Kessel. Sie überlegte kurz, dann fügte sie noch Wachs hinzu, anschließend konnte sie vielleicht noch einige Kerzen ziehen. Nur ein kleines Feuerchen wurde darunter entzündet, ehe sie aus der kühlsten Ecke des Hauses, unter der Treppe, ein verschlossenes Kännchen mit hinaufnahm. Nachdem sie den Deckel gelöst hatte, schnupperte sie kurz am Inhalt, ehe sie einen Teil davon in die Schüssel mit dem Wasser goß. Es ging doch nichts über etwas Milch im Waschwasser, die die Haut schön zart und weich hielt. Einige Tropfen Rosenöl vervollständigten heute die Waschlauge.

Der Morgenmantel glitt von den Schultern und raschelte leise zu Boden, wo er mit den Zehen wieder angehoben und aufs Bett geschleudert wurde. Sie griff zum Schwamm, tauchte ihn in die milchig-wässrige Flüssigkeit, die nun wohltuend nach einem voll blühenden Rosenstrauch im Sommer duftete, drückte ihn ein wenig aus und begann sich zu waschen. Sie liebte dieses kleine Ritual des morgens, besonders im Sommer und mit zärtlich weichen Bewegungen glitt der Schwamm über den Unterarm, den sie weit von sich gestreckt hatte, zog seine feuchte Spur erst über den Unterarm, dann den Oberarm hinauf, kreiste zweimal unter der Achselhöhle und fuhr dann an der Unterseite wieder hinab. Erneut wurde etwas von der Waschflüssigkeit aufgenommen und nun liebkoste er Stirn, Augen und Wangen, das Kinn hinab zur weichen Haut des Halses. Noch weicher wurden die Bewegungen, als sie über das Dekolleté weiter hinab fuhren, die Brustansätze streichelnd und schließlich die sich mehr und mehr zusammenziehenden Knospen mit den Berührungen und der Kühle, der hinein streifenden Brise reizten.

Ihre Gedanken schweiften ab, zum gestrigen Abend. Worte, die sie in Erstaunen versetzt hatten.

"Ich werde Euch erobern!" hallte es noch immer nach.

Allerdings - Worte hatte sie schon so viele gehört, was allein zählte waren die Taten, die folgen würden. Sie war gespannt, wie es sich entwickeln würde.

Währenddessen war der Schwamm an den Oberschenkeln angekommen. Sie spreizte die Schenkel etwas, um die Scham besser erreichen zu können und das Gefühl der aufkeimenden Erregung ergriff für einen Moment Besitz von ihr. Viel zu lange war es her, dass ein Mann sie dort zärtlich berührt hatte. Doch sie wusste, dass dies gefährlich war. Das dunkle Ungeheuer, das sie meistens so erfolgreich in die hintersten Ecken ihres Seins verbannen konnte, lauerte darauf, zuschlagen zu können. Sie durfte nicht nachlässig werden! Und was eben noch ein lasziv-vergnügliches Ritual gewesen war, schlug nun rasch in den reinen Pragmatismus der körperlichen Reinlichkeit um. In nur wenigen Minuten war auch der Rest erledigt, den sie mit der üblichen Gründlichkeit vollzog.

Nachdem sie sich die auch die letzte Feuchtigkeit mit harschen Bewegungen vom Körper gerubbelt hatte, zog sie den Mantel wieder über und ging erneut nach unten.  Das Wachs war geschmolzen und sie zog den Kessel hinauf. Prüfend steckte sie vorsichtig den Zeigefinger in die goldgelbe Flüssigkeit. Es war noch sehr heiß, aber der Schmerz würde sie wieder auf andere Gedanken bringen. Sie griff in eine der vielen Schubladen neben sich und holte einige saubere Leinenstreifen hervor, die sie in das heiße Wachs tauchte und anschließend in eine Schüssel legte, um dann zurück nach oben zu gehen. Dort stellt sie sie auf dem Spiegeltisch ab, schlug den Mantel auf, nahm mit spitzen Fingern eins der wachsgetränkten Tücher, streckte das rechte Bein aus und legte den Stoffstreifen schließlich auf das Schienbein. Es war zu heiß! Und es würde die helle Haut röten.  Allerdings würde sie danach etwas Ringelblumensalbe auftragen, so dass die Schäden nicht allzu groß sein würden.

Es fanden noch mehrere von den wachsgetränkten Leinenstreifen ihren Platz auf dem Unterschenkel. Alle lüsternen Gedanken, alle düsteren Gedanken, alles was ihr gefährlich werden konnte, wurden durch die Hitze auf der nackten Haut wieder gebannt. Sie atmete flach und wartete eine Weile mit halb zusammengekniffenen Brauen und verzogener Miene darauf, dass das Wachs abkühlte. Und als es endlich soweit war, griff sie an den unteren Rand des ersten Leinenstreifens ...

Ritsch - mit einem Ruck wurden sämtliche Haare an ihren Wurzeln ausgerissen - der Schmerz überflutete sie und hinterließ eine wohltuende Leere in ihrem Kopf.

Ratsch - der nächste Streifen ...

Wer schön sein will, muss leiden!
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#2
Am Nachmittag zuvor:

Die Kräuter hatte sie schon vor einem Wochenlauf in den starken Alkohol eingelegt und als sie nun den Deckel des bauchigen Tongefäßes öffnete, um nachzusehen, schlug ihr ein strenger, alkoholgeschwängerter Geruch entgegen, der sie das Gesicht verziehen ließ. Mit einer kleinen Schöpfkelle entnahm sie etwas von dem Gebräu und begutachtete es genauer. Zerriebene Kräuterteilchen, die mittlerweile alle eine dunkle, bläulich schimmernde Schlammfarbe angenommen hatten, genauso wie die trübliche Flüssigkeit, schwammen träge darin herum. Es gab keine Möglichkeit zu prüfen, ob sie sich nicht doch in der Zusammensetzung vertan hatte, aber der Grat zwischen Heilung und Tod war in ihrem Gewerbe immer sehr schmal.

Im Kopf ging sie noch einmal die Zutaten durch: Tollkirsche, blauer Eisenhut, gefleckter Schierling, Bilsenkraut, wilde Malve, kriechendes Fingerkraut, und Schlafmohn. Sieben Zutaten mussten es sein, möglichst jedes an einem anderen Wochentag geerntet. Sieben Tage wurden die Kräuter getrocknet, dann die Blätter, oder Stängel im Mörser fein zerrieben, ehe sie sieben Tage in möglichst reinem Alkohol eingelegt wurden. Eine wichtige Zutat fehlte noch, doch diese würde sie erst hinzugeben, wenn sie die Salbe anrührte.

Während das giftige Gebräu träge durch den Leinenstoff in das darunterstehene Glas tropfte, überlegte sie, wieviel es davon benötigte, um einen Menschen zu töten, wenn man es, so wie es war, trinken würde. Sicherlich nicht viel mehr, als einen Fingerhut, möglicherweise zwei Fingerhüte voll. Sie hatte sich mit den Mengen zurückgehalten, denn das, was sie vorhatte, sollte niemanden töten. Sie hatte diese Rezeptur in einem der alten Kräuterbücher ihrer Mutter gefunden und sie war schlicht mit Flugsalbe betitelt worden. Sie war gespannt, ob wirklich das geschah, was der Name und die Beschreibung versprachen. So, oder so, morgen würde sie mehr wissen.

[Bild: gefleckterschierlingk48j8s.png]

Ein leises Piepsen aus dem Körbchen neben ihr, lenkte sie von ihren Gedanken ab. Es wurde Zeit, den Rest vorzubereiten, denn die Flüssigkeit war nun fast durchgelaufen, fern davon, wirklich klar zu sein, hatten sich zumindest alle groberen Kräuterteilchen in dem Leinentuch verfangen. Sie setzte das Wasserbad in den Kessel, unter dem nur ein leises Feuerchen simmerte und gab Wachs, etwas Öl und Schafswollfett dazu, von letzterem gerade mal eine Fingernagelspitze voll, wartete, bis das Wachs zu schmelzen begann und rührte dann stetig und gleichmäßig, bis die Mischung miteinander verschmolzen war.

Dann griff sie in den kleinen Korb und nach einigem Herumtasten hatte sie die junge Schwalbe behutsam mit ihrer Hand umschlossen. Ein Nachzügler, der wohl schon in ein oder zwei Tagen ebenfalls das Nest verlassen hätte, wie seine Geschwister. Manchmal wird man dafür bestraft, wenn man langsamer ist, als die anderen. Sanft streichelte sie dem Vögelchen mit der Zeigefingerspitze über das Köpfchen, sie konnte das kleine Herz fühlen, das aufgeregt in dem winzigen Körper pochte. "Gleich wird alles vorbei sein, hab keine Angst, kleines Vögelchen", raunte sie ihm noch zu, dann ein rascher Schnitt mit dem scharfen Messerchen, welches sie bereitgelegt hatte und das noch pochende Herzchen pumpte die kleine Menge Blut in die Salbengrundlage, während sie den Vogelkörper kopfüber darüber hielt. Mit der anderen Hand rührte sie nun wieder, damit sich auch diese wichtige Zutat gleichmäßig verteilte.

Vorsichtig goß sie unter stetigem Rühren eine kleine Menge von dem Kräutersud hinein und nachdem sich alles homogen zu verteilen schien, fügte sie noch einen kleinen Schluck hinzu. Schließlich war sie zufrieden mit der Konsistenz, allerdings vermied sie es, diese mit den Fingern zu prüfen. Die Anwendung dieser Salbe würde sie erst am Abend ausprobieren.
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#3
Doch erst einen Abend später kam sie dazu, ihre Salbe auszuprobieren. War es eine Vorahnung gewesen? Auf alle Fälle hatte sie eine unruhige Nacht hinter sich und sie konnte nicht einmal sagen, woran es genau lag. Ein Gefühl, als ob eine dunkle Gewitterwolke für einen Moment die Sonne an einem lauen Sommertag überschatten würde, ohne dass es wirklich zu einem Gewitter kommen würde.

Doch der Tag wischte all dies wieder weg und sie erinnerte sich kaum daran, als sie des Abend entspannt mit dem Fräulein Strastenberg auf dem Balkon saß und sich unterhielt. Die Röcke waren wunderbar geworden und sie freute sich schon darauf, einen davon auf dem Ball tragen zu können, falls es je einen solchen geben würde. Der Krieg, dieser verdammte Krieg! Wie lange noch?

Sie löste ihr Haar und stellte den Tiegel mit der Salbe auf den kleinen Hocker neben dem Bett. Die Tür zum Balkon hatte sie geöffnet, damit sie - falls die Salbe hielt, was sie versprach - davonfliegen könnte. Es wäre sicherlich nicht möglich, mit Flügeln eine Türklinke zu bedienen. Da sie um die Kraft wusste, die manchen Pflanzen innewohnte, vertraute sie auf die richtige Rezeptur, öffnete das Tiegelchen, tauchte einen Finger in die unappetitlich aussehende Salbe und strich sehr wenig davon auf die Aussenseite der Beine, den Bauch, die Arme, unter die Achseln und über Stirn und Wangen. Sorgfältig wurde der Tiegel wieder verschlossen und sie überlegte kurz, ob sie sich etwas überziehen sollte, verwarf den Gedanken aber sogleich wieder, jeglicher Stoff würde nur hinderlich sein. Also ließ sie sich rückwärts aufs Bett sinken, schloß die Augen und wartete auf die Transformation.

Nach einer Weile begannen die Hautstellen, an denen sie die Salbe aufgetragen hatte, zu prickeln, dann ein leichtes Brennen. "Sicherlich beginnen dort nun die Federn zu wachsen", dachte sie noch, ehe ihr Geist von den starken Drogen davon getragen wurde.

Sie saß auf dem weichen Gras unter einer riesigen Buche, dessen weit herabhängenden Äste ein schützendes Dach bildeten. Die Sonne funkelte hier und da hindurch und als sie den Kopf nach oben wandte wurde das Licht stärker. Zunächst nur ein sanftes Kitzeln auf Stirn und Nase, dann schoben sich die Äste des Baumes auseinander und sie wurde von einem gewaltigen Lichtstrahl erfasst, der sie unweigerlich nach oben zog. Mithras selbst breitete seine Arme aus, um sie willkommen zu heißen! Als sie aufstand und sich ihm entgegen streckte, die Arme weit erhoben, fühlte sie sich leichter und leichter werden und schließlich stieß sie sich mit den Füßen ab und schwebte zu ihm empor, dem Licht entgegen. Sie schwebte einfach, keine Anstrengung, kein Flügel schlagen, höher und höher stieg sie auf, bis sie den Baum hinter sich gelassen hatte und einen Blick auf die umliegenden Bäume und bald auf den ganzen Wald werfen konnte.

Für einen Moment überkam sie Schwindel, als sie nach unten schaute, so hoch, so  gefährlich, sie konnte fallen! Doch dann überwand sie diesen Moment der Angst und schwebte einfach weiter. Glücksgefühle übermannten sie, Mithras war gnädig! Sie durfte Zeuge dieser gewaltigen Schöpfung sein. Wo war sie? Es war gar nicht so einfach, sich zu orientieren, von hier oben aus. Südwald vielleicht? Oder der  Flüsterwald? Unmöglich zu sagen. Keine Häuser, keine Höfe waren zu sehen, nur hin und wieder spiegelten sich kleinere Wasserflächen in der Sonne. Es war ein gemächlicher Flug, der nur langsam voran ging. Neugierig sog sie die neuen Eindrücke in sich auf. Wie wunderbar es war, die Welt einmal von oben zu sehen! Doch halt! Was war das? In weiterer Ferne sah sie etwas am Himmel, eine weitere Gestalt, die langsam auf sie zu kam. Je näher sie sich kamen, desto vertrauter wurden die Umrisse und Bewegungen.

"Vater? Bist du es?" Es war ihr Vater und je näher er kam, desto mehr strengte sie sich an, mit rudernden Armbewegungen, ihm noch schneller näher zu kommen. Sie wollte rufen, doch kein Laut kam aus ihrem Mund. Und je mehr sie sich anstrengte, desto mehr verlor sie an Höhe und je verzweifelter sie versuchte, zu ihm zu gelangen, desto weiter trug es sie von ihm weg. "Das ist nicht richtig! Vater, bleib bei mir! Flieg nicht davon!" Ihre Füsse berührten die dunkle Erde, aber nur für einen Moment, ehe sie sich wieder abstieß und erneut empor stieg, schneller dieses Mal. Als sie die Baumwipfel überwunden hatte, schaute sie sich um. Der Himmel hatte sich verändert. Wo eben noch Mithras Sonne und das endlose Blau um die Wette strahlten, zogen sich nun dunkle Wolken zusammen, in der Ferne konnte sie Blitze sehen, die auf die Erde peitschten. Die Gestalt war verschwunden und das ganze Szenario hatte sie nun von vollkommener Glückseligkeit in etwas Bedrohliches gewandelt. Auch sie musste hier weg und zwar schnell.

Ein Sturm kam auf und trieb sie eine Weile vor sich her, ehe er sie gänzlich umfing, sie in einem gigantischen Wirbel umschloß. Wo war oben? Wo unten? Sie wirbelte so rasch umher, dass ihr schlecht wurde. Sie wollte die Augen schließen, doch das gelang ihr nicht. Sie wollte heraus hier, doch unbarmherzig war sie gefangen. Wenn sie nach unten schaute, konnte sie, wie durch einen Trichter, die Erde unter sich sehen. Bäume, Häuser sogar, die dort vollkommen reglos standen, als gäbe es diesen Sturm gar nicht. Schneller und immer schneller bewegte sich dieser Wirbel und trug sie mit sich, nur merkwürdigerweise stand sie selbst nun wieder still, als stünde sie inmitten dessen, ohne von den um sie herum wirbelnden Winden auch nur berührt zu werden. Kein Laut drang an ihr Ohr, was ihr aber erst nach einer Weile auffiel. Diese unnatürliche Stille, obwohl die Welt um sie herum aus tosendem Chaos bestand.

Dort unten war Löwenstein! Sie erkannte das große Tor, das Armenviertel zur rechten, die Neustadt zur linken. Die Bewegung wurde langsamer. Dort war die Bogengasse! Und dort sah sie eine vollkommen nackte, dunkelhaarige Frau auf dem Balkon stehen, die Arme weit in die Luft gereckt, die gerade das Bein hob, um auf die Balkonbalustrade zu steigen. "Nein, tu es nicht!" wollte sie ihr noch zurufen, doch wieder kam kein Laut aus ihrem Mund.

Als die Schwarzhaarige auf dem harten Pflaster aufschlug, umgab sie Schwärze. Immerhin hatte ihr Überlebensinstinkt sie davon abgehalten, kopfüber hinab zu springen, dennoch war der Aufprall schmerzhaft und sie blieb eine Weile benommen auf der Straße liegen. Doch selbst dieser Schmerz vermochte es nicht, ihre benebelten Sinne zurück zu bringen. Nach einer Weile rappelte sie sich wieder auf und zog humpelnd, verdreckt, an Knien, Händen und Armen blutend gen Stadttor.
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#4
Bogengasse. Altstadtweg. Schuldenturm und Hauptstrasse. 

Vertrauter noch als die Namen waren mit der Zeit die Wege selbst geworden: Die kleinen Abkürzungen, die oft nur jene kannten, die hier aufgewachsen waren. Die vermeintlichen Umwege, die Engpässe und Nadelöhre vermieden. Wenn man nur oft genug dem Verlauf der sorgsam aufgezeichneten Patrouillenpläne folgte, hörten die Namen auf abstrakt zu sein und die Entfernungen schrumpften zusammen. Ein guter Stadtwächter kannte sein Revier.

Nicht, dass Gerwulf sich im Augenblick "gut" gefühlt hätte. Die Benachrichtigung war von jener nüchtern Knappheit gewesen, die sich mit dem Abstand eines halben Jahres schmucklos in eine Akte einfügte: Datum, Uhrzeit. Genauer Ort. Anwesende Personen. Anwesende Stadtwächter. Objekte Schilderung der Umstände.

"Hilflos aufgefunden." stand da, gleich neben: "Nicht ansprechbar."

In Verbindung mit dem Namen war das genug gewesen. Genug, um alles stehen und liegen zu lassen. Genug, um die unangebrachten Witzchen zu überhören.

Trotz aller nüchternen Korrektheit des Berichtes war die Hoffnung ein eilender Begleiter.

Schuldenturm. Hauptstasse. Haupttor.

Der Anblick des dunklen Schopfhaares, fast versteckt unter der der weiten Decke, brachte ein Ende aller Zweifel. 

"Alle hinaus."

Die kleine Wachstube, hier am Haupttor war ein Beispiel für bürokratische Besessenheit, die sich darin gefiel Listen zu erstellen und abzuhaken. Zwei Regale Typ III, ein Wandschränkchen Typ XII, ein Waffengestell, ein Klappbett, ein Stuhl, ein Schreibtisch Typ IV-2, vier Decken Gruppe B (Sommer), die nicht nur als Zudecke, sondern eben auch als Laken gebraucht wurden.

Und in der Ecke, fast begraben unter einer der schweren Wolldecken, die Frau.

"Rahel?"

Keine Reaktion, aller Hoffnung zum Trotz - wann immer der Blick der offenen Augen sich auf etwas fokussierte, schien es in unbestimmter Ferne zu sein.

"Wer auch immer dir das angetan hat - wird bezahlen. Ich schwöre es."

Was genau das war, hatte der Bericht nicht im Detail geschildert, aber Gerwulf hatte Augen im Kopf um die Platz- und Schürfwunden zu sehen und es brauchte nicht viel um sich einen erbitterten Kampf auszumalen, an dessen Ende aller Widerstand vergebens gewesen war. 

Es war nicht die erste Frau, die Gerwulf in ähnlichem Zustand zu Gesicht bekommen hatte. Es würde nicht die letzte sein.

"Ich bringe sie ins Heilerhaus. Ergänzt den Bericht, ich will dass er morgen früh als erstes auf dem Tisch des Hauptmannes liegt."

Es war bereits hell, als der Wachmann den Marktplatz schliesslich zurückliess und die Marktgasse passierend in die Bogengasse zurückkehrte. Und da war er, der kleine, übermächtige Impuls, der ihn dazu brachte nicht etwa das eigene Heim anzusteuern, sondern dass der Frau, die nun von kundigen Augen bewacht an einem sichereren Ort ruhte. 

Verschlossen.
Ein Moment der Enttäuschung, gefolgt von heisser Verlegenheit. 

Die Scham brauchte bis zum Kübel kalten Wassers um zu verfliegen.
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#5
Obsession

Unruhig lief sie in ihrem Zimmer hin und her. Es war viel zu warm und stickig im Obergeschoß und selbst, als sie alle Fenster weit öffnete, brachte dies keine nennenswerte Abkühlung. Wenn sie sich wieder einem der Ostfenster näherte, ging ihr Blick hinaus, zu dem still daliegenden Haus schräg gegenüber. Sie war sich sicher, dass ihre Bewegungen beobachtet wurden.

Leuenberg war wie Mohnkrapfen, am Tag der Ankunft. Man freute sich das halbe Jahr auf diese besondere Leckerei, wenn man aber in den dritten hineinbiss, wusste man schon, dass es mit Bauchschmerzen und im schlimmsten Falle mit übler Kotzerei enden würde. Dennoch ...

Daumen und Mittelfinger hatten den hässlichen und auf eigenartige Weise überaus schönen Anhänger umfasst und ließen ihn auf der feinen Kette hin- und hergleiten. Warum löste sie diese Obsession in Männern aus? Er war nicht der erste und sie sandte ein Stoßgebet zu Mithras, dass es ein besseres Ende nehmen würde. Doch dieses leise Prickeln im Hinterkopf, das die Kopfhaut zusammen zog, wenn Gefahr lauerte, warnte sie nicht nur, sondern stimulierte sie auch. So fühlte sich Leben an.

Sie setzte sich im Halbdunkel vor den Spiegel und zog nacheinander die mit weißen Perlen besetzten Haarnadeln heraus, die sie mechanisch vor sich auf die kleine Tischplatte legte, noch immer mit den Gedanken ganz woanders. Eine dieser Nadeln rollte bis zur Kante und fiel herunter. Sie bückte sich und die Finger tasteten nach dem Gegenstand. Eine unglückliche Bewegung nur, als sie ihn ergreifen wollte und sie spürte einen kleinen Stich in der Fingerkuppe. Zunächst ärgerlich, über ihre Ungeschicklichkeit, starrte sie die feine, metallene Nadel einen Moment lang an, ehe ihr eine Idee kam, doch das hatte Zeit bis morgen.

Sie fiel schließlich in unruhigen Schlaf. Der Traum, den sie träumte, hatte sie schon lange nicht mehr heimgesucht und doch war das Gefühl so gegenwärtig, als sei es gerade erst geschehen. Eine kräftige Pranke legte sich auf ihren Hals und drückte zu, erst wenig, dann immer mehr, bis alles erst schwarz und dann weiß wurde, von einem unwirklichen Licht erfüllt. Das Gefühl des Todes, gepaart mit unbändiger Lust, das sie schließlich schweißgebadet hochschrecken ließ. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und die vereinzelten Vogelstimmen waren durch die geöffneten Fenster zu hören.

An Schlaf war nun nicht mehr zu denken und so streifte sie sich das dünne Negligé über, griff zu den Haarnadeln und machte sich auf den Weg nach unten. Sie hatte noch einige Fläschchen Versteinerungsgift vom letzten Auftrag in der Kommode liegen. Zwei davon öffnete sie, goß den Inhalt in ein Schälchen und stellte dies auf das Stativ. Darunter entzündete sie die Kerze und erwärmte es vorsichtig, so dass nach und nach ein Teil des Wassers verdampfte. Sie hoffte, dass diese etwas konzentriertere Form ausreichen würde. Nacheinander tauchte sie die Spitzen dreier Haarnadeln in die Flüssigkeit und legt sie behutsam zum Trocknen auf ein Kästchen. Dies wiederholte sie Mal um Mal, bis die grünliche Substanz auf den Nadelköpfen schon mit bloßem Auge erkennbar war.

Dann nahm sie ihren Ledergürtel zur Hand. Die Breite stimmte mit der Länge der Nadeln überein. Vorsichtig löste sie an zwei Stellen die Ziernaht, die zwei Lederschichten miteinander verband. Gerade mal zwei Stich breit sollten genügen, um die Nadeln dort unbemerkt unterbringen zu können. Die dritte würde sie vorsichtig in ihr Haar stecken. Sie war sich überhaupt nicht sicher, ob das jemals funktioneren würde, dennoch verlieh ihr diese kleine Vorsichtsmaßnahme ein Gefühl der Sicherheit.
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