Ein Stück vom Rüschenglück
#1
Ravinsthal, Hartung 1405

„Zia Ekelrock, Schneiderin des Hauses Eldberg vom Falkenklamm. Gert Ganter und Giesbert Ganter, Schmiede des großen Handelshauses Ganter. Imea Zobel und Aldera Zobel. Emanuel Hanson, Lucia Stein, Erin Felsenschinder, Ragnar Blech, Benjamin Graemer. Brandol Haegerson, Elisa Spindel, Lisa Raufaden. Sven Schlaghammer, Schmied des Hauses Daorah.“
 
Lucia Stein.
 
Für die meisten war es nur ein typisch nortgardischer Name in einer viel zu langen Liste an Namen, die am 22. Hartung, einen halben Stundenlauf nach der 8. Abendstunde, von einem jovialen Mann mit einer großen Axt vorgelesen wurden. Für zwei Menschen in diesem Hof war die Nennung dieses Namens ein Keulenschlag. Zehn Buchstaben nur, und mit ihrer nüchternen Erwähnung im Burghof Ravinsthals an einem kalten Abend das Ende ihres Anfangs in der Welt. Die endgültige Verunmöglichung einer Aussöhnung. Ein durchschnittener Faden zu einem alten Leben. Ein Ende vor der Zeit. 

Hammerhall, Wonnemond 1386
 
„Ein Stiefel in Guldenach und einer in Löwenstein, wie sieht das aus, Vigdis? Komm her, stell sie ordentlich zusammen.“ Eins in Guldenach, eins in Löwenstein. Anwendbar auf alles, was verstreut lag, was nicht an seinem ihm zugewiesenen Platz war. Yngvars Holzschwerter, Vigdis’ Notenblätter, die Milchkannen, von einer schlampigen Magd schief an die Hauswand gestellt. Ein täglicher Kampf gegen das dräuende Durcheinander, gegen Misswirtschaft, gegen Nachlässigkeit. Unordnung duldete sie nicht, die Mutter, Schludrigkeit schon zweimal nicht. Das halb missbilligende, halb belustigte Kopfschütteln dazu. Und die endlose Geduld. Dazu Hände, die immer in Bewegung waren und selbst abends vor dem Kamin, wenn man einander vorlas, noch Hemden zusammenlegten, Taschentücher falteten, Wäsche glattstrichen, Wollknäuel entwirrten. Dort, am Kamin, hatte Lucia Stein die Muße für Ideen, die sich aus dem Gewohnten ins Experiment wagten.
 
„Was wird das, Frau Mutter?“
 
„Ein Rüschenrock.“
 
„Sieht aber fein aus.“
 
„Aye, das ist er. Gib mir deine Hand – lass mich sehen, sie ist auch sauber, ja? Streich drüber. Merk dir, wie es sich anfühlt. Das ist der Stoff, aus dem Verschwendung gemacht wird, mein Kind. Nur reiche Leute leisten sich Rüschen.“
 
„Für wen ist der Rock, Frau Mutter?“
 
„Für eine Gräfin, Vigdis. Du kannst mir mit dem Saum helfen.“

Löwenstein, Wonnemond 1405
 
Es war frühmorgens und Marit Steins Wacht endete. Der Marktplatz war der belebteste Ort in Löwenstein um diese Zeit und die Ordensstreiterin genoss es, im Zentrum des städtischen Lebens zu stehen, die Stadt erwachen zu sehen und von den Treppen aus das oftmals so wirre Treiben zu beobachten. Ein Weißbrot wurde über den Brunnen geschleudert und von einem flinken Knecht aufgefangen, eine Ziege meckerte eine endlose Zeit lang missmutig vor sich hin, was einen aufgebrachten Aufschrei aus der Richtung der Vogtei nach sich zog, und zwei Marktweiber steigerten sich fidel in einen erbitterten Streit um den Preis eines Kohlkopfes hinein. 
 
Ein ausgeruhter Mitlegionär entbot ihr den Gruß der Legion – die Ablöse. Die Nacht war ruhig gewesen und sie dankte Mithras dafür. Der Gang durch die Straßen gestaltete sich ereignislos, aber selbst in diesem nachtbeschwerten Stadium kratzte sie die letzten Reste legionärlicher Aufmerksamkeit zusammen, bis sie im Mittelhaus der Marktgasse angekommen war. Die akribische Kontrolle der Zimmer im Untergeschoß war ihr nach der jüngsten Attacke zur Gewohnheit geworden. Sie setzte sich nicht mehr hin, bevor sie nicht das Haus auf lauernde Hexer kontrolliert hatte, auch wenn sie im Grunde ahnte, dass jene von Mithras verlassenen Scheusale Zugriff auf abyssalische Mächte hatten, die ihre Gestalt auch problemlos verbergen konnten. Die schon verschlossene Tür prüfte Marit Stein noch einmal, rüttelte an ihr und war erst zufrieden, als diese sich tatsächlich und wahrlich gut verschlossen zeigte.
 
Die Häuser lagen ruhig, niemand lauerte mit Kontrollkugeln hinter halboffenen Türen. Langsam erklomm sie die Treppen, schon im Gehen die Handschuhe abstreifend. Das Zimmer, das sie ebenso penibel kontrollierte wie das Untergeschoß, war mehr eine Zelle, ein Exempel an nüchterner, nortgardischer Einrichtung – kein Schnickschnack, kein überflüssiges Möbel, kein Zierrat. 
 
Als die Rüstung durch ein leichtes Kleid ersetzt worden war, trat Marit Stein an den leergeräumten Tisch heran. Sie hätte schlafen können. Stattdessen glättete sie die abends zuvor zurechtgelegten Hadern und griff nach einem Kohlestift. 
 
Um die Mittagsstunde suchte ein Bote die Baroness Savaen und Marie Strastenberg auf und überreichte beiden einen Umschlag.
 
„Gruß von Ehrwürden Stein! Sie sagt, Ihr hättet vielleicht Interesse daran? Is’n Muster, sagt se.“
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#2
Es regnete seit den frühen Nachtstunden unaufhörlich über den Dächern der Stadt, Straßen und Licht in ein gleichförmiges, bleiernes Grau tönend. Entsprechend schläfrig und ungern zeigten sich die wenigen Stadtbewohner, die bei diesem Wetter dennoch das Haus verlassen mussten, und das Rathaus war hier keine Ausnahme. Die Gänge waren mehr oder minder ausgestorben, kaum irgendwo Licht zu sehen oder etwas zu hören - allein eine schläfrige Wache vor der Tür gab dem Abgesandten der steinschen Willkür an, dass Fräulein Strastenberg wahrscheinlich im Beamtenzimmer wäre.

In der Tat drang Licht durch die Bodenritze, zeichnete eine schwache goldene Spur im halbdunklen Flur, auf das erstmalige Klopfen erfolgte jedoch keine direkte Reaktion. Erst beim zweiten Male hörte man drinnen Geraschel, etwas rummste, jemand fluchte, bis schließlich und endlich die Tür einen Deut weit geöffnet wurde. 
Das dem Boten derart offenbarte, unzufrieden dreinschauende Fräulein begrüßte den Besucher mit einem hauptstädtisch freundlichen "Was??", ihm den Brief nach Erklärung gereizt abnehmend. Eine mürrische Verabschiedung folgte der Höflichkeit halber zumindest, ehe es noch über den Kopf des flüchtenden Boten in Richtung der Wache an der Außentreppe blaffte: "Wichtige Besprechung, verflucht, wie oft denn noch?? Keine Besucher!"

Ob die Wache es vernahm oder nicht, musste dem Mahlstrom der Geschichte überlassen bleiben - mit einem Türeknall kehrte jedoch wieder Ruhe in die regengrauen Flure des Baus ein. 

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"Besprechung?"

Die Blonde drehte ruckartig den Schlüssel im Schloss um, wandte sich, dem hinter der Türe an der Wand lehnenden Mann ein zähneblitzendes Aufgrinsen schenkend, um dann leise zu bestätigen:

"Besprechung."

Der Brief raschelte achtlos zusammen mit dem wieder abgeworfenen Kleid zu Boden, geriet zum Opfer eilig voranstrebender Füße, und endete schließlich irgendwo zwischen Teppich und Wand, wo er unrühmlich vergessen wurde. 

So kam es, dass Ehrwürden Stein wider jede Erwartung keinerlei Antwort seitens des Fräuleins erhielt.
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#3
Das Klackern des Regens auf dem Dach und an Fensterscheiben. Es war ein beruhigendes Gefühl. Ebenso beruhigend wie aus voller Kehle singend und nur im Nachthemd durch das große, leere Anwesen zu tänzeln, um alle Probleme dieser Welt für den Augenblick zu vergessen. Berufung, neu erkeimte Leidenschaft für ihr Leben und ihren Sinn auf dieser Welt. All der Goldschmuck dieser Welt könnten ihr in diesen Tagen wohl nicht mehr Freude bereiten.

Das singende und eindeutig nicht standes-(oder alters-)gemäße Schauspiel nahm ein abtruptes Ende als es an der Türe pochte. Beinahe wäre ihr der goldene Kelch aus der Hand gefallen und hätte hässliche Flecken auf dem unersetzlichen Teppich hinterlassen. Es tockte nocheinmal und schien sie regelrecht aus ihrem Traum zu reissen. 

Für den Boten im strömenden Regen öffnete sich die Türe einen Spalt und nur der Kopf einer Baroness mit nicht ganz so perfekter Frisur wie sonst linste hinter jener hervor. „Her damit!“, bekam der Bote wohl ein zweites Mal an diesem Abend eine nicht ganz so erfreute Antwort bevor die Türe vor ihm wieder zufiel. Auf dem Stuhl an dem großen Tisch Platz genommen – wieder mit dem glücklicherweise nicht verunglückten Goldkelch in der Hand – wurde das Schreiben entfaltet und die braunen Augen glitten über die feinen Linien. Stille… durchbrochen nur von einem „Hrm.“ Sie schritt wieder zur Türe, doch hatte der Bote wohl nicht gewartet. Wenn dieser Regenguss endlich vorbei und Mithras Licht wieder die Strassen erhellte, würde sie Marit persönlich aufsuchen. Das Muster hatte ihr Interessese mehr als geweckt.

Und so drang in dieser Nacht neben dem Summen auch flackerndes Kerzenlicht aus dem obersten Stock des Awesens. Hier ein kleiner Strich korrigiert, dort eine Notiz angefügt. Schönheit und Mode kennt keinen Schlaf.
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#4
Schneidern statt schlafen. Es wurde langsam ein Thema. Natürlich hätte sie unter die Laken kriechen können, statt sich mit einer ekelhaft munteren und wie aus dem Ei gepellt aussehenden Baroness über die Stoffbahnen zu beugen. Pünktlich zur siebten Morgenstunde war Kalirana Savaen vor der Tür gestanden, wie abgemacht.

„Hier, ich setze Tee auf, Ehrwürden.“
„Mhhrrr. Lasst nur, Baroness.“
„Unsinn, ich tue es gerne. Ihr seht müde aus!“
„Mhrrrr. Frisch wie der junge Morgen.“
„Wollt Ihr Euch nicht doch lieber hinlegen?“
„Nein.“
„Belebendes Gespräch. Geht schon einmal hinauf, ich komme gleich mit dem Tee. Dann sehen wir uns an, wie wir dem Stoff Herr werden.“
„Mhrrrr.“

Die Treppen knarrten unter ihren Schritten. Die Baroness summte ein Lied, mochte Mithras ihre gute Laune erhalten. Frisch wie der junge Morgen – ein schlechter Witz. Sie fühlte sich eher zerknautscht wie ein endloser Abend nach einer weiteren Nachtwache, die außer lang nicht viel gewesen war. Gerade das war so irritierend: Es hatte sich nicht einmal ein indharimisches Ohr am Marktplatz gezeigt, aber die beständige Anspannung ob des Kriegs ließ trotzdem nicht zu, dass der Geist pausierte. Zu viel Tücke, zu viel Täuschung, zu viel Falschheit. Jeder schlaflose Spaziergänger, der seinen Hund vor die Tür führte, war eine potentielle Bedrohung, jeder annähernd sonnenverbrannt aussehende Straßenbengel verdächtig. Es war nicht einfach, diese Haltung abzulegen. Ja, sie wollte sie gar nicht ablegen. Die eine Achtlosigkeit, der eine nachlässige Moment, das eine vertrauensvolle Gespräch an der Tür mit der scheinbar vertrauten Nachbarin konnte zu verheerenden Folgen führen.
Es stand ihr nicht der Sinn danach, die Rüstung auszuziehen, schon gar nicht, wenn die Baroness im Haus war und ein Angriff daher umso wahrscheinlicher. Adlige Entführte machten sich bei jedem Feind hervorragend. So pinnte sie nur die verbesserte Skizze an die gegenüberliegende Wand, angelte nach der Schneiderkreide und begann sorgfältig, gestrichelte Linien auf den am Tisch glattgestrichenen Stoff zu zeichnen.

Zwei geleerte Teekannen später beobachtete sie Kalirana bei den letzten Schnitten. Das methodische Geräusch des Stoffzuschneidens war einschläfernd und nur die eisern antrainierte Disziplin bewahrte die Teilzeitschneiderin davor, einfach den Hinterkopf an die Wand zu lehnen und diesen Kampf der Erschöpfung zu überlassen. Die eifrige Baroness drapierte die Teile über einer Stuhllehne und strich mit einem Lächeln darüber.


„Damit können wir zufrieden sein. Die Einzelteile machen sich recht gut. Ich denke, die Anprobe und das Anpassen der Rüschen hat Zeit bis morgen, was meint Ihr?“
„Mhrrr.“
„Geht endlich schlafen, bei Mithras.“
„Ich begleite Euch nachhause.“
„Lasst Ihr Euch das ausreden?“
„Nein.“
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#5
Ach, welch traumhafter Tag es doch war. Die Sonne strahle an diesem Morgen auf die Strassen und lies wirklich den letzten Zweifel verschwinden.. der Sommer nahte. Die verrottenden Toten in den Sümpfen im Norden, die stete Gefahr aus dem Süden sollte Hohenquell fallen, und wenn all das nicht wäre gäbe es noch genug andere Sorgen. Und dennoch lächelte sie als sie das Haus der – wie üblich – übernachteten Legionärin betrat. Sie musste Lächeln, es war ihre Pflicht dem Volke Zuversicht und Freude zu spenden, ... immer.

Wenn selbst der Adel verzweifelte und die Hoffnung verlor, welche Chancen würde sich dann der einfacher Bürger ausmalen?

Es war schön in diesen Zeiten Freude zu finden, und wenn es nur ein traumhafter Rock war der das Zittern der Beine zu verstecken wusste. 

„Bringen wir es hinter uns, euer Bett ruft schon nach euch.“
„Mhrm“

Ein nachdenklicher Blick lag auf der Blonden, als die Baroness auch schon zum trapierten Rock griff. Es dauerte ganze zehn Minutenläufe ehe sie hinter dem Vorhang wieder hervortrat. Es fühlte sich im ersten Moment seltsam an einen so weiten Rock zu tragen, aber es fühlte sich edel und erhaben an. Die rasche Drehung die sie vollfürhte um dem Rock der Legionärin zu präsentieren fühlte sich so natürlich an. Beinahe als wäre es dafür gemacht bis in die Nacht hinein damit zu tanzen. 

„Ich finde es großartig! Die Rüschen müssen noch etwas besser gelegt werden, aber das schaffen wir.“, meinte sie mit einem überglücklichen Lächeln.

Und so verging ein weiterer Vormittag, ehe dass gute Stück wieder auf einem Sessel drapiert wurde. Das Werk war vollbracht!
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