Im Namen der Rose
#1
Jeder Morgen war Mithras Geschenk. 
Wenn einem jeden Tag diese Aussicht zu Teil wurde, war das ein Privileg, das nicht vielen Menschen gegeben war. Gerade erst wagten sich die ersten Singvögel, aufgeweckt von den wärmenden Winden des herannahenden Frühlings, aus ihren Nestern und stimmten ihre lieblichen Gesänge an. Der steinige Boden der Straßen Löwensteins glänzte vom Tau der Frühe und es wagten sich die ersten Arbeiter, Handwerker und alle Hand einfaches Volk auf die dunklen Gassen der Stadt. Das Privileg bestand darin, einen jeden Morgen die Tempelstufen zu erklimmen. Es bestand darin, besonnen und ungestört sein Morgengebet abzuhalten und in der friedlichen Atmosphäre des Kirchenschiffes weilen zu können. Einmal mehr durchzuatmen und einige Momente in der Glorie Mithras' zu verbringen. Fürder hin bestand diese Gunst darin einer der wenigen Menschen zu sein, welche die große Türe zum Nebentrakt benutzten und weiter den Garten des Tempels betreten durften. 
Wie an jedem Morgen seit nun fast zwei Wochen war Helga dieses Privileg gegeben. Es war Segen und Strafe zugleich. Denn während andere nach dem Morgengebet zu ihrer Arbeit, ihren Familien und ihrem Leben zurückkehrten, hatte sie nichts wohin sie zurück kehren konnte. Sie hatte weder Heim, noch Menschen die sie liebten, noch eine wirkliche Aufgabe. Ihre Seligkeit war gnädig gewesen - in Anbetracht der Schwere ihres Geständnisses. 
Sie sprach ihr Bußgebet einen jeden Morgen im Garten. Mehrfach, bis die Knie ihr weh taten und die Füsse ihr einschliefen. Sie empfand dies als richtig. War es doch jeden morgen der Anblick des sich verfärbenden Himmels, wenn die große, glühende Sonnenscheibe stetig den Himmel erklomm, der ihr - mehr noch als das Innere des Tempels - Friede, Zuversicht und Mut schenkte. 
Dies war ihr Privileg. Das gnädige Geschenk der Erzpriesterin, das sie jeden morgen aufstehen ließ. Der Anblick des stürmischen Meeres und wie die ersten Sonnenstrahlen darauf begannen zu glänzen und zu glitzern. Wie das Licht Mithras den Tau auf den jungen Frühlingsknospen wegküsste und die heilende Wärme des Tages langsam aber sicher die dunkle Kälte der Nacht vertrieb. 
Diese pure Art der Kontemplation, ohne den goldenen, von Menschen erschaffenen Prunk des Gotteshauses, ließ sie Hoffnung schöpfen. Hoffnung vor allem für ihre Seele und ihr Leben. Welches in einem dermaßen zerstörten Scherbenhaufen vor ihr lag, dass schon der unschuldige Gedanke daran die Bruchstücke auf zu fegen ihr Schmerzen bereitete. 

Es war der Altar ihrer Mutter, welcher Helga nach ihrer Rückkehr aus Ravinsthal in seinen Bann gezogen hatte. Als sie wieder zurück in ihre alte, bergige Heimat geflohen war, betete sie jeden Tag mit ihrer Frau Mutter davor. Was hier in Servano vermutlich als zu silendisch verpöhnt würde, ließ sie wieder einige Schritte auf Mithras zu gehen. Es war die Heilige Alina die zu ihrem Herzen sprach, wie es sonst nur Mithras selbst vermochte. Sie stand für so vieles, das Helgas Seele bewegte. Die Rote Rose heilte über die nächsten, vielen Monde hinweg so einige Wunden des Verlustes.
Ihre Eltern drängten auf eine Eheschließung. Helga war keine junge Frau mehr und sie solle nicht vor Kummer und Angst verwelken.
Als Helga nun kurz nach ihrer Ankunft einen alten Freund aus ihrer Kindheit heiratete, war sie umgeben von den Rosenbüschen ihrer Mutter. Als sie ihr erstes Kind empfing, wachte das Symbol der Heiligen über ihrem Ehebett. Als ihr Gatte im Kampfe an den Grenzen Hohenmarschens tödlich verletzt wurde, trösteten sie die Worte und Taten der roten Rose Mithras'. Und selbst als sie das Kind verlor, welches in ihrem Körper herangewachsen war - noch nicht bereit für ein Leben außerhalb ihres Leibes - war es Helgas neu gefundene Liebe zu Mithras und der heiligen Alina, die sieht hatten weiteratmen lassen.

Es gab Momente in denen sie dachte sie würde an gebrochenem Herzen sterben. Doch schien sich langsam ein Muster zusammen zu fügen, was sie schlussendlich dorthin brachte, wo sie nun war. Löwenstein.
Das Elend hatte seinen Anfang genommen als sie Mithras den Rücken kehrte und es würde hier sein Ende finden. Zornig nahm Mithras ihr, was ihr am wichtigsten war, auf dass sie bis in die tiefsten Abgründe ihrer Seele spürte, dass sie würde büßen müssen für ihren Verrat. Ob es reichen würde wusste nur er. Alles was sie tun konnte war ihr Leben in die Hände der Kirche zu legen, sich voll und ganz dem Dienste dieser zu verschreiben und jeden Tag für ihre Seele zu beten.

Der Sonnenaufgang war verstrichen. Diese ersten magischen Momente eines Tages, angefüllt von Worten der Reue, waren vorüber und Helga betrat den Kreuzgang des Gartens. Sie sah die Klippen hinab zur Brandung. Die ersten Tage noch waren die Wellen ein hypnotischer Verführer gewesen und es hatte sie all ihre Kraft und Vertrauen in Mithras gekostet, sich nicht einfach hinab zu stürzen und dem allen ein Ende zu machen. Sie trat, als Teil ihres täglichen Rituals, immer noch jeden Morgen an eben jene Mauern und sah hinab in den Tod. Doch trat sie auch wieder zurück, den kleinen, schlichten Rosenanhänger an ihrer Brust umgreifend. Danach widmete sie sich, dem Garten selbst. Und jetzt da der Frühling vor den Toren stand, waren es die roten Rosen, welche unter der liebevollen Hand Helgas, als erstes zarte Knospen trugen.
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#2
Und dort lag sie nun, rot schimmernd, wie Mithras Feuer selbst. Der Stoff war noch rauer als sie erwartet hatte, doch das machte nichts. Es musste nicht bequem sein. Das Leben selbst war nur selten bequem. Ihre langen, blassen Finger strichen über das Gewebe des Stoffs. Wie es so da lag, auf ihrem schmalen Bett ausgebreitet, fühlte es sich fast wieder an wie am Morgen ihrer Hochzeit. Wenn die Braut, voll Zweifel und Hoffung zugleich, nicht aufhören kann das Kleid für ihre Vermählung anzustarren. Es immer mal wieder anzufassen muss, um sicher zu gehen das es echt war... das dieser Moment echt war. Und wie es einem inneren Kampf mit einem Drachen gleich kam, es dann tatsächlich über zuziehen. Berührt der Stoff erst einmal die Haut gänzlich war alles zu spät. Es war ein Versprechen ohne Worte, eine stumme Zustimmung, das stoische Hinnehmen der Situation in die man sich selbst gebracht hat. Es war ein Bund für's Leben. Und wie bei einer Hochzeit, begann alles mit dem Anziehen dieses Kleidungsstücks. Ein Symbol das jeder sofort erkannte. Es gab kein Versteck vor den Blicken all dieser Menschen. Wie ein Kriegsbanner, trug man sein Innerstes nach Außen. Verwundbar für all die stechenden und schneidenden Blicke. Doch gleichzeitig war der raue Wollstoff eine Rüstung. Er markierte den Beginn von etwas Gutem. Er ließ einen aufrechter gehen und stehen. Wie ein Harnisch geflochten aus ihrem Glauben selbst, würde er fort halten, was sie am meisten fürchtete. 
Die Nortgarderin war nur in ein dünnes Unterkleid gehüllt und das bisschen Wind, dass durch ihr kleines Fenster wehe, brachte nicht mal den hauchdünnen Leinenstoff zum flattern. Die Hitze hier in Servano hatte ihr schon immer am meisten zu schaffen gemacht. Es würde nicht besser werden, wenn sie erstmal diese Robe trüge. Sie würde sie jeden Abend auslüften müssen, um nicht zu stinken wie ein Hafenarbeiter. 
"Was wohl Halvar dazu sagen würde?"
Sie sprach diesen Gedanken laut genug aus, dass er durch das kleine, leere Zimmerchen hallen konnte. Sie dachte ihn mehrmals am Tag, doch jetzt wo er zum ersten mal von ihrer Stimme getragen wurden, schnitten die Worte ihr tief ins Fleisch. Sie machten die Lücke noch deutlicher, die er hinterlassen hatte. Seine Absenz war wie eine ewig blutende Wunde, die einfach nicht heilen wollte, egal wie viele Salben und Tinkturen man drüber schmierte. Ob er ihre Entscheidung gutheißen würde? Würde er sie davon abbringen wollen? Wäre es überhaupt soweit gekommen, wenn er die letzten Jahre bei ihr gewesen wäre? 
Sie kamen gemeinsam auf diese Welt und sie würden sie gemeinsam verlassen. Das war immer der Plan gewesen. Wie ein heiliges Mantra hatten die Zwillinge diese Worte immer und immer wieder zueinander gesprochen, wenn das Leben drohte sie auseinander zu reissen. Doch das Leben nahm wenig Rücksicht auf die Wunschträume naiver Kinder. Es waren schon bald drei Jahre, in denen sie ihren Bruder nicht mehr gesehen hatte. Und so humpelte sie allein durchs Leben, als würde ihr ein Bein fehlen. Alles was sie noch hatte war ihr Glauben. Abseits dessen war da nichts mehr. Immer wenn sie sich vor ihren kleinen Spiegel stellte, war da die kleine Hoffnung sein dämlich glotzendes Gesicht über ihrer Schulter zu erblicken. "Schmier dich nicht so voll, du bist hübsch genug... für eine nortgardische Bache zumindest!" würde seine tiefe, grollende Stimme tönen. Sie würde ihm einen nassen Lappen ins Gesicht klatschen und sie beide würden ausgelassen lachen. 
Zusammen mit Halvar war das Lachen aus ihrem Leben verschwunden. Und es war nie wieder zurück gekehrt. Und dann kamen die Tränen wieder... würde es irgendwann aufhören?
Würde Mithras ihr helfen diese Lücke zu schliessen?
Wieder tasteten die weißen Finger nach dem roten Stoff, ergriffen ihn vorsichtig und hoben ihn vom Bett. Sie zog sich die Robe langsam über den weißblonden Schopf. Das blutrote Gewebe schmiegte sich etwas steif fallend an ihren großen, schlanken Körper. Sie ließ den Saum zu Boden fallen und sah an sich herunter. Es gab kein Zurück, kein Verstecken.
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