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The Gargoyle
#1
The Gargoyle
Es ist lange her, dass mich ein Buch so gefesselt hat, obwohl mich so gut wie nichts an ihm interessiert. Ich bin kein Fan von Thrillern oder Liebesgeschichten, auch nicht von Religion, Feuer oder Schizophrenie. Dennoch ist es die Kombination aus all diesem, die „The Gargoyle“ ausmacht. Ein Buch, wie man es vielleicht im Schulunterricht finden könnte: viele verschiedene Handlungsebenen, keine klare Aussagen, sprachliche Spielereien, ein Schatz an Ideen, und eigentlich völlig ohne Inhalt.
Eigentlich.

Schicksal
Ich habe dieses Buch nicht bestellt. Ich habe es nicht gesucht und es wurde mir auch nicht empfohlen. Niemand, den ich kenne, hat es gelesen und es ist – das sage ich nochmal – garantiert nicht mein Interessengebiet. Es wirkt fast wie ein kleines Wunder, dass ich „The Gargoyle“ in einer Buchhandlung gefunden habe, als ich gerade eigentlich nach etwas völlig anderem suchte. Ich landete in der Abteilung für englische Bücher und sah ein Buch mit schwarzen Seiten. Ein roter Einband, ein goldenes Herz in Flammen, ein so schönes Äußeres, dass ich es mir allein kaufen wollte, um es in mein Regal zu stellen. Als ich es aufschlug, war ich überrascht. Der Spruch zu Anfang, ein Zitat auf Deutsch? Aber definitiv ein englischer Autor und auch der Rest: Englisch. Merkwürdig, doch ich blätterte weiter - und traue meinen Augen nicht. Schriftartenwechsel, Sprachwechsel, Perspektivwechsel, Unterstrichen und Fettgedruckt, Kursiv, Umgangssprachlich, japanische Schriftzeichen und mehr und mehr. Wenn mir eines bei „The Gargoyle“ von Beginn an klar war, dann dass es kein gewöhnliches Buch ist.

Der Versuch einer Inhaltsangabe…
…gestaltet sich als nahezu unmöglich. Denn das Spannende an „The Gargoyle“ ist, dass man nie genau weiß, in welche Richtung sich die Geschichte entwickelt. Das was mich damals im Deutschunterricht noch abgeschreckt hätte, weckt heute meine Faszination. Das Buch erzählt aus der Ich-Perspektive von einem namenlosen Pornodarsteller, welcher bei einem Autounfall beinahe verbrennt. Er landet auf der Intensivstation und heilt. Seine Lebenslust ist allerdings dahin und so schmiedet er Pläne von seinem Selbstmord, bis eines Tages eine mysteriöse Fremde, eine Frau namens Marianne Engel, erscheint und ihm erzählt, dass sie sich kennen – von vor über 650 Jahren. Im Mittelalter, so Marianne, lebten sie als Söldner und Nonne als Liebespaar miteinander. Sie erzählt von ihrer Geschichte, aber auch von anderen Liebesgeschichten und dem Mann stellt sich mehr und mehr die Frage, ob er sich gegenüber nur eine schizophrene Wahnsinnige sieht, oder aber tatsächlich seine Seelenverwandte von vor so langer Zeit.
Klingt kitschig? Mag sein. Aber „The Gargoyle“ überzeugt auch nicht allein durch die Liebesgeschichte der beiden, sondern die Art und Weise, wie Davidson es erzählt. Er verliebt sich in Details und arbeitet diese mehr und mehr aus. Dabei meißelt er seinen eigenen abstrakten und scheußlichen Gargoyle, indem er Ekel, Perversion, Feuer, Hass, Liebe, Religion und Tod in sein Buch so einbindet, als wäre es selbstverständlich. Er schreibt Geschichten in der Geschichte, um sein Gesamtbild zu formen.

Was ich damit meine?
Es beginnt mit der Geschichte des Pornodarstellers, der von seiner verkorksten Jugend erzählt, von seinen verunglückten Eltern, von seinen drogenabhängigen Ersatzeltern, von der Tatsache, dass er keinen Abschluss bekam, aber dennoch stets viele Bücher las. Er ging ins Sex-Business, schwelgt in narzisstischen Ausschweifungen von seinem perfekt geformten Körper und zieht somit das Bild der Sexualität in einen wilden Strudel. Er erzählt von abstrusen Sexpraktiken, von Herausforderungen beim Erobern von Frauen, die er lediglich der Herausforderung wegen erobert. Es formt sich ein Bild eines kalten, arroganten Mannes, der seine Schönheit aktiv ausnutzt, um damit sowohl beruflich wie auch privat Erfolg zu haben, der aber nie herausfinden konnte, was Liebe ist. Der Unfall – eigentlich keiner, wenn man bedenkt, dass er betrunken und voller Drogen war – reißt ihn aus dem amerikanischen Traum und lässt ihn bei lebendigem Leibe verbrennen. Es folgen Seiten um Seiten Beschreibung von Flammen, verbrennender Haut und von unsäglichen Schmerzen. Für schwache Gemüter ist „The Gargoyle“ sicher nicht. Dann landet er im Krankenhaus, die ekeligen und pervertierten Praktiken zur Heilung sind sogar noch widerlicher als das Verbrennen selbst. In seinen Gedanken arbeitet er den Selbstmord aus, aber nicht irgendeinen, sondern einen komplexen Plan, der in seinem Kopf Gestalt annimmt. Doch eine Frau betritt sein Zimmer. Eine scheinbar Wahnsinnige, die ihm Geschichten erzählt von der Liebe. Geschichten, die auf Japan, auf Island, in Spanien und in Deutschland spielen. Geschichten von Goldschmieden und der Pest, Glasbläserinnen und Wespen, Söldnern und Nonnen.
Das Schönste dabei sind die verschiedenen Themen, die sich wie ein geheimer roter Faden durch das Buch spinnen, das augenscheinlich keinen roten Faden zu haben scheint. Alle Geschichten und alle Kapitel sind geprägt von Perversion, Feuer, Religion, Tod und die trotzende Liebe. Kein Wunder also, dass Davidson das Werk an Dantes Inferno, seiner Göttlichen Komödie, anlegt, denn nichts ist so abgrundtief abschreckend, so heiß, so spirituell und so nah an dem Tod wie die Höllenfeuer selbst.

Und die Sprache dabei!
Es ist unglaublich was Davidson mit der englischen Sprache alles anstellt, doch ich möchte mir nicht einmal anmaßen, dass ich alles so gut verstehe, wie ein Muttersprachler. Noch interessanter ist aber etwas anderes. Meine Auffassung ist: Davidson schreibt dreidimensional. Denn anstatt die Worte nur als bloße Textträger zu verwenden, spielt er mit Schriftarten, mit Fett und Kursivdruck, mit anderen Sprachen und Lautschrift, sodass der simple Inhalt längst nicht mehr alles erzählt, was dieses Buch vermitteln will.
Der Autor selbst ist unbekannt. Andrew Davidson, gebürtiger Kanadier, liefert mit "The Gargoyle" sein Erstlingswerk ab und legt sich selbst eine hohe Messlatte. Ich persönlich glaube, dass er wohlkaum an diesen Erfolg wird anknüpfen können. Dennoch hoffe ich es natürlich!

Fazit
Ich kann nicht ausreichend beschreibend wie fantasievoll und grauenhaft sich dieses Buch liest. Die eine Seite beschreibt einen Autounfall in den USA, die nächste eine japanische Liebesgeschichte, die folgende eine mittelalterliche Kathedrale und wieder eine andere einen isländischen Wikinger.
Und keine der Geschichten gehört nicht in dieses Buch. Alle haben ihren Platz und ergänzen die Geschichte auf eine merkwürdige und nicht immer eindeutige Weise. Es ist ein Rätsel und wer seinen Spaß an spirituellen Liebesgeschichten hat und vor kryptischen Erzählungen nicht zurückschreckt, den wird „The Gargoyle“ vielleicht interessieren - und natürlich empfehle ich jedem, der es sich zutraut, es auf Englisch zu lesen, auch wenn es wirklich schwierig ist.
Dennoch behandelt das Buch sehr eindeutige und bildliche Themen. Schwache Gemüter werden mit dem Verbrennen eines Menschen, mittelalterlichen Praktiken, offener und teils derber Sexualität, Schimpfwörtern, Rassismus und Gewalt sicher nicht viel anfangen können – denn „The Gargoyle“ ist geschrieben für Erwachsene, ein perverses Schauspiel, eine groteske Steinfigur geformt aus Feuer und Leidenschaft, Tod und Angst, Spiritualität und Wahnsinn, ein atemberaubendes, zutiefst einnehmendes, seine Abgründe erforschendes Lustspiel.
Und das macht dieses Buch so unglaublich.
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