Dem Schleier so nah
#1
„Wir kommen aus dem Schleier…“

Gellerts Stimme war brüchig, sein Atem ging stoßweise. Immer noch gegen die Säule im Keller der Akademie gestützt wollte es ihm einfach nicht gelingen sich zu beruhigen. Obwohl bereits ein voller Stundengang verstrichen war ehe alle anderen den Raum verlassen hatten zitterte er immer noch am ganzen Leib und kalter Schweiß rann in einem steten Rinnsal seine Wirbelsäule hinab.
Zu seiner Linken deuteten lediglich noch einige vereinzelte Wachstropfen auf dem kalten Steinboden von der vorangegangenen Versammlung. Immer noch konnte er die knisternde Anspannung die in der stickig schwülen Luft hing körperlich spüren. Sie war wie eine unsichtbare Wolke die ihm die Haare zu Berge stehen ließ und ihm die Luft zum Atmen nahm.

Sein getrübter Blick wanderte rastlos herum ehe er schließlich an einem der hölzernen Regale an der Westseite hängen blieb. Die Fächer quollen vor in uralte Wälzer gebundenem Wissen, welches nur darauf zu warten schien den brüchigen Seiten entrissen zu werden über. Und doch schienen ihn die kunstvollen Einbände auszulachen, wirkten beinahe höhnisch ob der von ihnen gehüteten Geheimnisse.

„… in den Schleier gehen wir.“

Er konnte es fühlen, bereits bevor die Situation zu entgleisen drohte. Es waren stets dieselben Anzeichen. Alles begann mit diesem trockenen, kupfernen Geschmack der sich wie Honig um seine Zunge legte. Es war als sondere der menschliche Körper irgendetwas ab wenn er kurz davor stand die Fassung zu verlieren. Gellert konnte das schmecken. Jahre der Ächtung und der Angst hatten ihn sensibilisiert. Zu oft war er bereits darauf angewiesen gewesen solchen Situationen zu entfliehen noch ehe es wirklich brenzlig geworden war. Darauf folgte ein starkes Gefühl des Unwohlseins, eine dumpfe Leere in der Leibesmitte die seine Eingeweide umklammerte wie die Kralle eine Harpyie.
Als schlussendlich die Emotionen hochkochten und das Stimmengewirr zu einem schrillen Dröhnen in seinem Kopf anschwoll hatte er getan was er immer tat wenn es zu spät war. Er war verstummt und hatte sich auf Prügel eingestellt. Das erwartungsvolle Jucken seiner zahllosen vernarbten Striemen und Brandzeichen das ihn wie ein alter aber grausamer Freund überkam verdeutlichte ihm einmal mehr wie sehr andauernde Demütigung und Schmerz sein bisheriges Leben geprägt hatten.

Aber das hier war nicht Mutter Agnes Haus in Lilienbruch wo jeder noch so kleine Fehltritt und jeder Zweifel mit Gürtel und glühendem Schürhaken geahndet wurde. Hier hatte man ihn sogar so lange außen vor gelassen, dass er sich überwunden und höchst erfolglos versucht hatte zu schlichten.
Alles war dieser Orts schwarz oder es war weiß. Gellert, der seit den Tagen seiner wenig unbeschwerten Kindheit versucht hatte das Denken in solchen Mustern hinter sich zu lassen würde diese Umstellung schwer fallen.
Und da waren natürlich auch noch die vielen Menschen. Er war mit den Lebenden nie besonders gut klar gekommen, hatte stets die Abgeschiedenheit oder lieber noch, die Nähe der Toten gesucht. Jene die tot waren verurteilten nicht, sie verstanden. In ihrer Nähe hatte Gellert stets die Gelassenheit gefunden die ihm im weltlichen Treiben verwehrt blieb.

Er wusste was er tun musste. Als die Tore der Akademie hinter ihm in die Angeln fielen hatte sich tiefschwarze Nacht über Amhran gelegt. Obschon es Gellert immer besser gelang seine Persönlichkeit hinter eine Maske aus Höflichkeit und guten Manieren zu verbergen hatte ihm der emotionale Stress der heutigen Konfrontation zu sehr zugesetzt als dass er sie noch hätte viel länger aufrechterhalten können.

Immer schneller trugen ihn seine Beine ostwärts, weg vom Marktplatz, vorbei an den Fenstern des stürmenden Löwen aus denen immer noch Lärm und Licht hinaus auf die Straße drangen und die wundervolle Stille der Nacht grässlich jäh unterbrachen. Je weiter er sich vom Trubel des Stadtzentrums entfernte, desto rarer wurden die von Menschen verursachten Geräusche. Als er am Armenviertel vorübereilte zerriss lediglich das wütende Fauchen einer aufgeschreckten Straßenkatze den tonlosen Frieden und jenseits des ersten Stadttores war außer dem sanften Widerhall seiner Schritte auf dem Kopfsteinpflaster rein gar nichts mehr zu hören.
Erst als das gewaltige Steintor des Beinhofes zu seiner Linken erkennbar wurde drosselte er seinen Schritt.

„Mithras Licht wacht über die Verstorbenen“ sagte er leise, mehr zu sich selbst.
Er verharrte und sog die kühle Nachtluft gierig ein, erlaubte ihr seine Lungen fluten, ließ sich von ihr davontragen. Erde. Moos. Ein sanfter Hauch von Weihrauch und Ölen und natürlich Zedernharz. Sanfte Vorfreude ließ seinen Köper bis ins Mark erbeben ehe er den Steinbogen durchschritt und schnurstracks tiefer in den Friedhof eindrang. Wie in Trance hastete er bis ans nördliche Ende des Totenackers und schlüpfte durch die Pforte einer kleinen Kapelle.

Die Räucherschale benebelte seine Sinne und der Schein der Kerzenständer ließ flackernde Schatten über die Wände tanzen während gestrenge Männer und Frauen aus grauer Vorzeit von den Bleiglasfenstern mahnend herabblickten.
Sein Weg führte ihn die Treppe hinab in eine Kleine Krypta. Sie war nicht wie die anderen gesäumt von Stellagen und Wandsärgen, in ihr trotzten lediglich vier steinerne Sarkophage dem Zerfall. Auf dem ersten prangte martialisch ein Schwert, zwei weitere waren übereinander am hinteren Ende an die Wand geschlichtet. Es war vom ersten Tag an der Zweite gewesen der sein Interesse geweckt hatte. Auf ihm befanden sich bloß eine undeutbare steinerne Ornamentik und ein menschlicher Schädel. Kein Name zeichnete das Grab.

Gellert setzte sich erst vorsichtig auf die Kante des Steinsarges ehe er die Beine hochzog und sich seitlich darauflegte, sein Haupt nur einen Fuß von der grinsenden Grimasse des Totenkopfes entfernt.
Als er begann dem Schädel zu erzählen was am heutigen Tag geschehen war fiel nach und nach die stumpfe Anspannung von ihm ab und begann langsam wieder seinen Körper zu fühlen. Er spürte den nagenden Hunger, jede Faser seines Körpers schien nach Nahrung zu schreien, doch er verweigerte sie ihr. Noch. Schon früh hatte er bemerkt dass der tagelange Entzug von Essen, diese ultimative Askese ihn nah an die Schwelle des Todes brachte, manchmal sogar gefährlich nah. Doch das Risiko lohnte. Halb verhungert und ausgezehrt war er dem Schleier so nah, dass er beinahe das Gefühl hatte hindurchblicken zu können. Er hatte seinem Schädelfreund davon erzählt. Dieser hatte geschwiegen. Zugehört. Nicht geurteilt. Niemals.

Gellert wusste nicht wie viel Zeit verstrichen war, den die Zeit war ein obskures Konstrukt und an Orten des Todes schien sie sich anders zu verhalten zumindest für ihn. Augenblicke konnten sich zu einem vollen Stundenlauf ziehen, ein halber Tag wie Wimpernschlag vergehen. Wichtig war nur, dass er endlich den Ort seiner inneren Ruhe wiedergefunden hatte und Gelassenheit wieder seinen Geist erfüllte. Er war sich heute wie ein Saatkorn unter einem Stein vorgekommen, unwissend. Unfähig sein ganzes Potential zu entfalten. Erdrückt von dem Gewicht der Last über ihm. Ohne das Eingreifen und die Pflege eines Behüters würde er welken ohne jemals geblüht zu haben. Er musste jemanden finden der ihn unter seine Fittiche nahm, jemanden dem er vertrauen, dem gegenüber er sich öffnen konnte. Jemanden der verstand.
Im Schein der Kerzen verschwammen die bemüht schön gehaltenen Lettern zu einer Masse aus dunklen Schatten auf dem Stück Pergament das er sich vom Munde abgespart hatte. Es war kein großer Bogen, nichts Auffälliges aber von guter Qualität. Immer noch hing der Duft von Waldbeeren die er in derselben Tasche aufbewahrt hatte daran. Mit fiebriger Mine schrieb Gellert an seinem Aushang den er bei nächster Gelegenheit an die Wand im Speisesaal der Akademie anbringen würde. Als er zum Ende gekommen war versuchte noch ein letztes Mal die Worte die sich in der letzten Stunde in seinem Geist geformt hatten zu lesen, doch blieb er stets beim selben Wortlaut hängen. „Unter Aufbietung all der mir zur Verfügung stehenden Kraft und Mittel, sei es in weltlichen oder jedweden anderen Belangen… Mentor gesucht!“



Er hatte den Schädel gefragt ob das eine gute Idee wäre.
Der Schädel hatte geschwiegen.
Er sprach nicht.
Nicht ein einziges Wort.
Niemals.
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#2
„Wärme ist Leben.“

Es waren die Worte des Meisters gewesen, so einfach, so klar und doch erfüllt von fundamentaler Wahrheit. Jede Faser seines Körpers und Geistes hatte sie ohne zu Zaudern akzeptiert als ob sie immer schon da gewesen wäre, tief in ihm schlummernd, nur darauf wartend erweckt zu werden. Erst hatte es ihn verwundert mit welcher Selbstverständlichkeit er die Lehren dieses Mannes akzeptiert konnte, doch ihm war schnell klar geworden, dass dessen Nähe irgendwo in den Untiefen seiner Seele eine Resonanz hervorrief wie er sie vorher noch nie bei den Lebenden gefühlt hatte. Gellert vormochte nicht festzumachen woran es liegen könne, aber die Aura des Magisters strahlte für ihn so gleißend Gelassenheit und eine eigene Art von Ruhe ab, das es wirkte ob er darin baden hätte können.
Sie nahm ihm seine ureigene Unsicherheit und ersetzte sie mit Neugier und Faszination. Und mit jedem gesprochenem Wort breitete sich vor ihm ein Bild von Wahrhaftigkeit aus, drängte die Nebel seiner Unzulässigkeiten immer weiter zurück und für einen kurzen Moment glaubte er sogar einen Hauch Erkenntnis gefunden zu haben.

„Kälte ist der Tod.“

Mit geschlossenen Augen saß Gellert im Schneidersitz auf dem steinernen Sarkophag den er als seinen liebsten auserkoren hatte und ließ Stück für Stück die Anspannung des Tages von sich abfallen. Als er zum ersten Mal Fuß in das steinerne Gewölbe gesetzt hatte war es draußen tiefster Winter gewesen und der beständig frisch fallende Schnee hatte seine verräterischen Fußspuren wie ein gnädiger Wink des Schicksals unter sich begraben. Damals war ihm aufgefallen, dass sich das Innere dieses Gemäuers zwar im klammen Griff bitterer Kälte befand aber es hier niemals wahrlich gefror. Ein Zustand der auch in den zunehmend wärmeren Tagen des beginnenden Frühjahres keine Veränderung gefunden hatte. Ein Zustand der sich für Gellert heute Nacht als ausgesprochen nützlich erweisen könnte.

Bedächtig, beinahe zärtlich umspielten die Finger seiner linken Hand das seltsam anmutende Konstrukt welches er so dermaßen fest in der Rechten hielt, dass seine Knöchel bereits seit geraumer Zeit weiß und taub waren. Es war einfach wunderschön. Die werte Dame die es ihm zum Geschenk gemacht hatte würde vermutlich niemals wirklich begreifen welch unbeschreiblich wundervolle Gefühle es in ihm auslöste. Er hatte Stunden damit verbracht es zu betrachten, zu streicheln, jede noch so feine Unebenheit zu erspüren, jede Kerbe, jede Stelle von auch noch so geringer Rauheit. Wo die kleineren, feinen Teile an den Rändern eindeutig aus den Knochen kleiner Nager und Vögel gefertigt waren erkannte Gellert im Mittelteil doch die eindeutigen Überreste eines menschlichen Sternums. Es war zwar kaum mehr als ein polierter Splitter, doch für ihn, der er den größten Teil seines Lebens die Gesellschaft jener die den Schleier vor langer Zeit durchquert hatten genossen hatte barg es viel mehr als schnöde Geheimnisse. Für ihn war es viel mehr, ein Rückzugosort wenn das Treiben der Lebenden über ihn hereinbrach, ein Ozean der Stille in einer hektischen Welt.

Vor einigen Stundengängen hatte er damit begonnen sich zu entkleiden, hatte sich seiner Stiefel und Gewänder entledigt, einzig und allein die dünne Bruoch war an seinem ausgemergelten Körper verblieben. Nicht dass sich die Toten daran gestört hätten, hätte er auch sie abgelegt, aber auch wenn sie niemals urteilten wollte Gellert ihnen jeden gebührenden Respekt erweisen und sie nicht mit seiner eigenen Nacktheit an das erinnern was sie nicht mehr waren oder jemals wieder sein konnten. Er hatte wissend darauf vertraut dass der Frost der Nacht die Krypta erfüllen würde wie er es immer tat, jeden Tag zu jeder Zeit. Und er war nicht enttäuscht worden. Wo er allerdings sonst seinen Mantel bemühte die Kälte zu vertreiben hatte er sich vorgenommen sich ihr dieses Mal voll und ganz hinzugeben.

Wo seine geschundenen Glieder zittern wollten verbot er es ihnen, wo jeder seiner Sinne nach der Wärme des Lebens zu schreien begann gebot er ihnen still zu sein und erlaubte der rohen, schonungslosen Kühle von ihm Besitz zu ergreifen, ihn ihr zum Sklaven zu machen. Anstatt sich zu wehren kehrte Gellert seine Wahrnehmung nach innen und lauschte jeder Veränderungen seines Köpers, genoss die stete Verlangsamung des Pochens in seinen Ohren, saugte jeden Schauer der seinen Rücken hinabjagte gierig auf und verschlang regelrecht das Gefühl wie die Wärme des Lebens auf verlorenem Posten stand und nach und nach dem unerbittlichen Vormarsch der Grabeskälte wich.
Wie in Trance ließ er sein Haupt in den Nacken fallen und sog stoßweiße, mit weit geöffnetem Mund ungeachtet der schneidenden Schmerzen jedes Atemzuges Luft in seine Lungen. Er konnte förmlich fühlen wie der Schleier näher rückte und mit brennendem Verlangen wollte er sich ihm nähern, ihn zerreißen , einen Blick in das was jenseits war erhaschen, doch irgendetwas hielt ihn zurück, erlaubte es ihm nicht, packte ihn an den schmalen Schultern und riss ihn mit dröhnender Gewalt zurück in die Welt der Lebenden. Als Gellert die Augen öffnete und seinen Blick in der in fahles Kerzenlicht gehüllten Gruft umherwandern ließ war er vollkommen allein. Niemand anderes als ein Teil seiner selbst hatte ihn aus seinem Zustand der Entrückung gerissen. Es war das Versprechen gewesen, welches er dem Meister gegeben hatte, dämmerte es ihm, das Versprechen auf sich Acht zu geben.

Mit klammen Fingern begann er damit sich erst seine Glieder warm zu reiben, wobei jegliche Bewegung Kaskaden schneidenden Schmerzes durch seinen Körper schickte ehe er sich wieder in die wohlige Umarmung seiner Kleidung flüchtete. Den Mantel als Decke nutzend und sich selbst in inniger Umarmung haltend schmiegte er sich an den Schädel des Unbekannten wie er es jeden Abend tat, und begann seinem Freund von allen Vorkommnissen des Tages zu erzählen.

Als er zu Ende gekommen war und seine Lippen ob der zurückgekehrten Wärme ihr Blau verloren hatten griff er nach seinem Lederbeutel und förderte daraus eine Hand voll Stachelbeeren sowie ein Stück hart gewordenes Brot zutage. Er hatte dem Meister ein Versprechen gegeben, ein Versprechen auf sich Acht zu geben, ein Versprechen mehr zu essen und auch seinen Körper wieder die Erholung zu geben um ihm Stärke zu verleihen wo derzeit nur Erschöpfung herrschte. Und er gedachte dieses Gelöbnis einzuhalten. Die Säure der teils unreifen Beeren brannte seinen Rachen hinab als er mehr Nahrung hinunterwürgte als er es für gewöhnlich in Tagen tat, aber er brauchte die Kraft, schließlich würde er morgen damit beginnen müssen irgendetwas zu schleppen oder sich anderweitig zu ertüchtigen. Wenn er den Magister das nächste Mal sah wollte er etwas vorzuweisen haben.

Kaum war der letzte Bissen verschlungen dauerte es nicht lange, da streckte der Schlaf bereits seine gierigen Klauen nach Gellert aus, grub sie tief in seinen Schädel und ließ allerlei Träume darin einsickern. Träume von Verzweiflung und Einsamkeit. Von dem kindlichen Wunsch zu sein wie alle anderen und dem zerreißenden Wissen dies niemals zustande bringen zu können. Träume von den Tagen die er in den Marschen verbracht hatte um für Mutter Agnes Zypressen zu schlagen, an seine stets schwieligen Hände und an den wundervollen Abend an dem er in dem mumifizierten Kadaver im Treibsumpf seinen ersten wahren Freund gefunden hatte. Träume von den vielen Nächten an denen er sich außer Haus geschlichen hatte um die Leiche zu besuchen und Träume von den glühenden Kohlen mit denen Mutter Agnes versucht hatte ihm die Sünde auszubrennen als sie seiner nächtlichen Streifzüge gewahr geworden war.


Während Gellert sich in unruhigem Schlaf hin und her wälzte lag in den leeren Augenhöhlen des Schädels kein Funkeln.

Keine Träne rann über seine Wangenknochen als Gellert im Schlaf schluchzte wie es so oft der Fall war.

Kein Wort kam über seine Lippen als Gellert in seinen Träumen schrie.

Der Schädel blieb stumm.

Und stumm, und ohne zu urteilen betrachtete er seinen schlafenden Freund.
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#3
Es war ein sommerlicher Tag und die drückende Hitze lag wie eine alles erstickende Decke dicht über dem Morast. Das Summen der blutsaugenden Mücken war allgegenwärtig als sie, getrieben von einem nie enden wollenden Hunger auf der Suche nach einem Opfer dessen heißen Lebenssaft sie so sehr begehrten durch die Mangroven schwirrten, begleiten vom beständigen Quaken der ekelhaften Kröten, deren grotesk aufgeblähte Leiber im Schatten der Bäume ihrerseits auf Lauer lagen um jeden noch so unvorsichtigen Nager gierig zu verschlingen und ihn bei lebendigem Leib zu verdauen.

„Klock! Klock!“

Einzig und allein das dumpfe Hämmern von einer Axt, die so schwer in den schwieligen, zarten Händen eines kleinen Jungen lag durchbrach beständig wie ein Metronom die beinahe unwirkliche Stimmung und die vereinzelten Lichtstrahlen welche durch das dichte Blätterdach hinab auf die undurchsichtigen, schlammig grünen Wasserstellen brachen hüllten die Szenerie in ein sattes, schweres Orange und jetzt wo die spätsommerliche Abendsonne bald in einem glühenden roten Ball irgendwo am unsichtbaren Horizont untergehen würde schienen die Farben im Sumpf verrückt zu spielen. Erdige und bunte Töne lösten sich ein einem steten Wandel ab und die Wasseroberfläche schien im Kontrast zu dem immer dunkler werdenden Moorboden regelrecht in Flammen zu stehen.

Der Junge, kaum älter als dreizehn Jahre lehnte das schwere, klobige Holzfällerwerkzeug neben sich an den dicken Harz blutenden Stamm einer frisch geschlagenen Zypresse und tastete, sich den Schweiß von den Augenlidern wischend nach dem Trinkschlauch an seinem Gürtel. Da es ohnehin baldigst dunkel werden und er zurück zu dem Ort eilen würde der ihm als Zuhause diente, sich aber niemals so anfühlte, hatte es keinen Sinn mehr Wasser zu sparen wie unter Tags wo es absolut notwendig war, wenn man nicht früher oder später getrieben von Durst und Verzweiflung anfangen wollte das giftige Sumpfwasser zu trinken, was man, im Allgemeinen, nur ein einziges Mal tat.

Trotz der jungen Jahre schmerzte sein Rücken und beinahe jede Bewegung löste leichte Krämpfe aus, die entlang seiner Leisten aufwärts schossen und ihm die Luft zum Atmen raubten. Mit zusammengekniffenen Augen und unter Zuhilfenahme seiner Finger zählte das Kind sorgsam den Stapel an Holzstämmen der sich etwas weiter zu seiner Linken, wo der Boden stabil genug war um nicht plötzlich nachzugeben und den Lohn jeder Arbeit zu verschlingen auftürmte. Nicht dass es wirklich nötig gewesen wäre. Der Junge hatte jedes Mal wenn er einen weiteren Stamm zum Haufen hin geschliffen hatte einfach einen hinzugezählt, und so war es für ihn auch nicht wirklich verwunderlich dass er jetzt ein Dutzend und vier Stück zählte, wo es vorher noch ein Dutzend und drei gewesen waren.

Ein sanftes Lächeln der wissenden Vorfreude breitete sich sachte auf den schmalen Lippen des Jungen aus. Ein Dutzend und vier Stück. Genau so viele wie am Tag zuvor. Und genau so viele wie am Tag vor diesem Tag und an vielen Tagen davor. Er wusste genau warum es so viele sein mussten. Es war keine Zahl von symbolischer Bedeutung, aber es waren genug für einen harten Tag und mehr als dass es auf Faulheit schließen lassen würde. Weniger würden ihm Prügel einbringen, auch das wusste er, und mehr würden Agnes nur misstrauisch machen. Nun, nur noch misstrauischer. Und das letzte was er wollte war das Mutter Agnes ihn noch genauer im Blick behielt als es ohnehin schon der Fall war.

Das war aber nicht der Grund für sein Lächeln. Nein. Er hatte keinerlei Pausen gemacht, hatte gearbeitet bis die Schwielen an seinen Kinderhänden geplatzt waren und angefangen hatten zu bluten. Er hatte weitergearbeitet als sich Schwärme von Stechmücken, angezogen vom eisernen Geruch seines Lebenssaftes um ihn versammelt hatten und ihn traktierten als wollen sie ihn mit ihren winzigen Stacheln vollends leer saugen, hatte weiter gearbeitet obwohl der schneidende Hunger gellende Fanfaren des Schmerzes durch seine Eingeweide fahren ließ, hatte weitergearbeitet mit nur einem Ziel. Dieselbe Menge, weniger Zeit.

Und es war ihm gelungen. Er konnte nicht sagen wie viel genau er früher fertig geworden war, aber der Blick durch das Dach des Sumpfwaldes hinauf in den dämmrigen Himmel bestätigte ihm, dass er sich wohl einen guten Stundenlauf erkauft hatte, ehe sich die nächtliche Düsternis über die Marschen legen würde und für ihn den Augenblick einläutete an dem er in Agnes Haus sein müsste. Ein ganzer Stundenlauf, den er mit seinem einzigen Freund auf der ganzen Welt verbringen konnte. Seinem einzigen wahren Freund.

Geschickt trugen ihn seine kleinen Füßchen durch das dichte Unterholz und sein geschulter Blick ersparte ihm schlimmere Kratzer, denn er wusste nur zu gut, dass wohl mehr als die Hälfte der dornigen Ranken und des Gestrüpps entweder giftig waren oder aber schreckliche Infektionen auslösen könnten wie beim Samuel, einem der anderen Kinder in Agnes Haus. Er hatte sich nur einen kleinen Schnitt zugezogen, hatte deswegen nicht einmal geweint. Keine einzige Träne. Zwei Tage später war das Fieber gekommen und am selben Tag hatten die Gebete und Litaneien angefangen. Man hatte den Kratzer erst versucht mit Mithras heiligem Feuer auszubrennen und als das Feuer weiter stieg hatte sich Agnes von Samuel abgewandt. Wenn das läuternde Feuer des einzigen Gottes das Kind nicht retten könne, so wäre es wohl sein Wille, oder seine Strafe. Der Junge hatte an Samuels kleinem Bettchen gestanden als er am Abend desselben Tages gestorben war. Eine einzige Träne war über Samuels bleiches Gesicht gerollt. Seine Züge waren in jenem Moment voller Frieden gewesen, und auch wenn die anderen Kinder meinten es wäre das Fieber gewesen, welches ihm die Schmerzen nahm, so wusste der Junge es doch besser. Samuels Träne war eine Träne der Erleichterung gewesen. Er durfte jetzt gehen.

Der Junge hatte sein Ziel erreicht, eine kleine Lichtung, verborgen im Dickicht wo das Wasser des Sumpfes einen leichten Fluss aufwies, das grün satter war und die Mücken seltener. Sein Freund wartete schon auf ihn, wie er es immer tat. Er lächelte ihn an. Er lächelte immer. Die straff gespannte Haut hatte sich durch die Zeit hier in den Sümpfen zurückgezogen und dem Antlitz des Toten ein leichenhafte Grinsen verliehen als das Austrocknen der Sehnen die Mundwinkel in einer Grimasse nach oben zog. Seine Kleider waren von guter Verarbeitung, eine Kutte aus Leder, beinahe unberührt vom Verfall, die Haare sprossen lang und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden aus dem geschrumpften Schädel der Leiche neben der sich der junge Gellert jetzt niederließ.

Er plauderte mit dem Toten, erzählte ihm von seinen Wünschen und Träumen und davon dass er jeden Abend noch vor dem Schlafengehen, wenn die anderen Kinder ihre Gebete an den einen Gott sprachen stumm eine Zeile des Buches rezitierte welches er am ersten Tag bei seinem Moorleichenfreund gefunden hatte. Er würde es auswendig lernen. Jede Silbe. Er sprach und sprach und sprach bis ihn ein kalter Schauer überkam. Es war Nacht geworden.

Gellert eilte nach Osten zu Mutter Agnes Haus so schnell ihn seine Beine trugen, immer wieder stolpernd, sich rasch aufraffend, weiterlaufend. Er war erschöpft und völlig außer Atem als er die Stufen des hölzernen Pfahlbaus hocheilte an dessen Seite in aufgemalten Lettern „Findelheim zu Lilienbruch“ zu lesen war. Er straffte sich und trat durch die Tür.

Mutter Agnes blickte vom Esstisch auf und acht weitere Augenpaare taten es ihr gleich. Gellert konnte aus den Gesichtern seiner Brüder und Schwestern Trauer ablesen, vereinzelt Sorge, aber auch Wut und Vorwurf. Agnes Antlitz war wie eine Maske aus Wachs. Unergründlich und frei von Emotion als sie langsam erhob und dabei raunzend den Stuhl nach hinten schob. Gellert stand da wie erstarrt, er wollte sich bewegen, wollte etwas sagen, wollte ich entschuldigen, sich zu Agnes Füßen werfen und sie in Mithras Namen um Vergebung anwinseln, doch jede Faser seines Körpers versagte ihm. Er sah wie sie zur Feuerstelle ging, sah wie sie zu einer kleinen Eisenschaufel griff und damit tief in die glühenden Kohlen stieß. Er sah wie die Funken aufstoben und das Metall seine Schwärze verloren hatte und jenem glühenden Orange der Sonne gewichen war als sie das Schäufelchen wieder herauszog und an ihn herantrat. Er fühlte ihren kalten Atem an seinem Nacken als sie sich zu ihm hinunterbeugte und ihm ins Ohr flüsterte.

„Mithras wird dich läutern, Sünder.“

Der süße Geruch von gebratenem Fleisch stieg in seine Nase und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sein kindlicher Geist konnte nicht wirklich erfassen was hier geschah. Bis der Schmerz kam.

Er schrie, schrie, schrie und das widerhallende Geräusch seiner eigenen Schreie ließ ihn hochfahren. Als Gellert die Augen öffnete umfing ihn die kühle Dunkelheit der Krypta mit einer zärtlichen, gnädigen Umarmung, die Nachtluft streichelte seine entblößte Brust und schenkte ihm Frieden, ließ ihn wieder zu Atem kommen. Er hatte geträumt. Nein… es war kein Traum gewesen. Nicht wirklich. Er hatte sich nur erinnert. Erinnert an eine Zeit die so lange zurück lag dass es ihn eigentlich nicht mehr zu kümmern brauchte. Und doch hatte sie sich an seine Seele gekrallt, hielt ihn fest. Als man ihn mit fünf Lenzen gefunden und ins Waisenhaus gebracht hatte, hatte niemand den Namen seiner Familie gekannt und so war es Mutter Agnes zugekommen einen für ihn zu wählen.

Sie hatte ihn angeblickt, lange und tief. Er hatte zurückgeblickt, trotzig, erfüllt mit dem kindlichen Glauben dass einem nichts und niemand hier etwas Übles wollte. Sie war vor ihm in die Hocke gegangen, hatte ihn weiter abwägend betrachtet. Immer noch, auch so viele Jahre später hörte er den Nachhall ihrer Stimme.


„Na… sieht so aus als könnte ich deine Seele nicht biegen… dann wollen sie für dich brechen,… junger Seelenbruch.“
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#4
Eventuell FSK16 - Teils entmenschlichende Darstellung von Toten Körpern



Ein Schauer der Erregung überkommt ihn als seine Rechte tief in den morschen Klumpen leblosen Fleisches zu seinen Füßen stößt.

Die Tage zuvor hatte er geschickt mit seinem Dolch freigelegt was zu erkunden ihm der Körper bot, hatte drangiert, zerlegt, hatte vorsichtig um die Knochen herum geschnitten. Mit unendlicher Ruhe in den sonst oft so zittrigen Händen hatte er Sehnen durchtrennt die Funktionsweise von Gelenken erforscht und Haut abgeschält wo auch immer er vermochte.

Doch als er am heutigen Abend, nach Einbruch der Dämmerung vor die Tore der Stadt hinausgeschlichen war, vorbei am Tumult und Trubel der Lebenden, bis hinein in die kleine, feuchte Höhle in welche er den Korpus unter Aufbietung all seiner Kräfte gezerrt hatte, waren ihm sofort die deutlichen Zeichen aufgefallen. Der unausweichliche Verfall hatte begonnen. Wo gestern die fahle, blutleere Haut noch straff über der erschlafften Muskulatur gespannt hatte, so hing sie heute nur noch schwammig herab. die Augen, in denen noch vor kurzem der Wahnsinn in Grün geschrieben stand waren nun eingetrübt, jegliche Farbe einem milchigem Brei gewichen und die ruhige Totenmaske des Mannes hatte sich zu einer hämisch grinsenden verzerrt. Und dann war da natürlich noch der Geruch. Jener süße, köstliche Geruch der Verwesung den er gierig einsog, nicht des Gestankes wegen, sondern da er in ihm stets ein Gefühl von tiefster Vertrautheit erweckte.

Jetzt, da die Starre aus jedem der Glieder gewichen und der Leichnam schwammig weich ist wie überreifes Obst schneidet er nicht mehr. Er gräbt. Er wühlt mit bloßen Händen in den Innereien. Erst zaghaft, doch binnen kürzester Zeit deutlich mutiger bahnen sich seine dürren Finger ihren Weg durch die grotesk verzerrte und angeschwollene Anatomie des toten Banditen, suchend, jede neue Erkenntnis zärtlich umspielend.

Es hatte ihm einige Überwindung gekostet einen Toten derart zu entehren, und er hätte es wohl nicht übers Herz gebracht, hätte er den Mann der nun mit geöffnetem Brustkorb und halb abgeschälten Gliedmaßen vor ihm lag nicht kennen gelernt.

Er war ihm bei einem seiner Streifzüge außerhalb der Stadtmauern ohne klares Ziel begegnet. Nun, begegnet war vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Vielmehr war er, begleitet von einer wüsten Flut aus Beschimpfungen von einem ihm unbekannten nackten Mann angegriffen worden als er mitten im Wald nach einem Abschneider zu den Höfen gesucht hatte. Ein Stein war ohne Vorwarnung nur eine Hand breit an seinem Ohr vorbeigesegelt und Gellert hatte rein aus Gewohnheit sofort die Flucht ergriffen und war gerannt so schnell ihn seine Beine zu tragen vermochten und dennoch war es ihm einfach nicht gelungen den Irren im dichten Unterholz abzuhängen. Bei den etwas nüchternen Betrachtungen die er im Nachhinein angestellt hatte war er zu dem Entschluss gelangt, dass es wohl dem reinen Instinkt zu überleben zuzuschreiben war, dass er ohne bewusst nachzudenken den Mann vor seinen Augen in Flammen gesehen und eine Formel intoniert hatte.

Er war erschrocken und erstaunt zugleich als der Angreifer binnen eines Wimpernschlages zu Boden gegangen war, der größte Teil des Halses weggerissen und die verbliebenen Überreste des Nackens schwarz verkohlt und dampfend. Verstört und verängstigt hatte er schnell etwas Geäst zusammengesammelt und sein Opfer im Gehölz verborgen. Nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen war er Nordwärts getaumelt, heraus aus dem Wald und hinein in ein freundliches, vertrautes Gesicht, welches ihn vom Rücken eines Pferdes aus angelächelt hatte.
Die Dame war erneut nett zu ihm gewesen, was ihm zwar tief im Inneren gefiel, aber immer noch Misstrauen weckte, kannte er doch solch undistanziertes Verhalten einfach nicht, war es nicht gewohnt mit offener Freundlichkeit empfangen zu werden. Aufgewühlt hatte er ihr ohne zu überlegen erzählt was vorgefallen war und war dafür, sehr zu seinem Erstaunen, auf Akzeptanz und Zustimmung gestoßen anstelle von Zurückweisung und Furcht. Die beinahe beiläufige Art wie sie davon sprach dass es Gang und Gebe wäre jemanden das Leben zu nehmen faszinierte und ängstigte ihn gleichermaßen.
Sie hatten noch so einiges an diesem Tage unternommen, doch als die gnädige Nacht ihren wunderschönen Schatten auf Amhran niederfahren ließ hatte er seinen Entschluss gefasst gehabt.

Jegliches Licht der Sonne war erstorben nur um am nächsten Morgen wieder in neuem Glanz aufzuerstehen und der kühle Wind umspielte zärtlich seine blassen Wangen als er im fahlen Licht des zunehmenden Mondes die Äste beiseitegeschoben und den entblößten Körper des Mannes freilegte. Es war kein sonderlich kräftiger Kerl gewesen und auch nicht ausgefressen wie die meisten Städter es waren, und doch kostete es Gellert den guten Teil der Nacht den schlaffen Leichnam bis hin zu einer kleinen natürlichen Höhle zu schleifen, die dem Geruch nach zu urteilen noch im Winter einem Tier als Unterschlupf gedient hatte. Aber es gelang ihm. Der Meister hatte wohl recht gehabt. Das hier war Knochenarbeit und er war froh in letzter Zeit genug Nahrung zu sich genommen zu hab en um diesen Kraftakt vollbringen zu können.

Jetzt ist Gellert in seinem Element. Der Schein einer ölgetränkten Fackel erhellt die feuchten Steinwände der Felsgrotte und lässt freche Schattenfiguren über sein, in oranges Licht getränktes, Gesicht tanzen als er Mal um Mal Brocken toten Fleisches zur Seite schiebt um tiefer in die Geheimnisse des Todes vorstoßen zu können. Seine feingliedrigen Finger und Hände bis hin zu den Ellenbogen sind schwarz ob des fauligen Blutes daran, doch mit klaren Augen und konzentriertem Blick lässt er nicht von dem Toten ab. Als draußen die ersten Strahlen der Sonne mit zärtlicher Berührung den Morgen erwecken blickt Gellert vor sich hinab in den Pfuhl aus Blut und Gedärm aus welchem noch weiße Rippen wie Mahnmäler alter Götter aufragen und stellt fest das die Überreste kaum noch menschliche Züge aufweisen. Sein Blick ist dabei weder entrückt, noch begeistert. Er ist nicht voller Eifer oder Wahn. Einzig und allein der Funke einer sich anbahnenden Gewissheit liegt darin.

Und dann plötzlich, wie aus dem Nichts zieht ein Sturm in seinem Geiste herauf. Kein sanftes Lüftchen, das stets mit den lauen Sommergewittern einher schwingt, und auch keine tosende Windhose. Nein, dies ist dieser alles verzehrende Eiswind, wie ihn nur jene kennen, die tief im Norden leben. Ein schneidender, bösartiger Wind, der einem, wenn man nicht Acht gibt das Fleisch von den Knochen fetzt. Dieser Wind kommt stets plötzlich, ohne Vorwarnung, und seine Böen reißen die Spindeln von den Dächern und ersticken jedes Leben, so als wollen sie den Trotz der Menschen gegen Schnee und Eis selbst verhöhnen.
Und mit diesem Sturm kommt die wahre Erkenntnis. Unerbittlich wie die See bricht sie über ihn herein, erstickt ihn und wirbelt seinen Geist umher wie ein Stück Holz in den tosenden Fluten eines Sturzbaches nach der Schneeschmelze. Jetzt weiß er, dass was er am heutigen Tag gelernt hat nichts mit dem Tod zu tun hat, sondern mit dem Leben. Seinem Leben.

An diesem Abend trinkt Gellert zum allerersten Mal ein Glas Apfelwein in der Biberschenke und seine Hände zittern dabei wie die eines nervösen Kindes. Sein Blick schweift von den sorgenvollen Zügen der Besitzerin in deren Augen dieser traurige, sehnsüchtige Glanz der Vergangenheit schlummert zu der adretten Dame die mit ihren, wohl nach allgemein gültiger Auffassung, hübschen Lippen stets kokett lächelt doch dabei stets ein wenig verloren an diesem Ort wirkt bis hinüber zum völlig haarlosen Kopf seines Kommilitonen, der mit breitem Grinsen und gefährlich intelligenten Augen seinerseits die Anwesenden beschaut.
Und zum ersten Mal fühlt er sich unter so vielen Fremden nicht wirklich fremd, denn er erkennt, dass jeder von Ihnen auf seine eigene Art und Weise für irgendjemanden ein Außenseiter ist, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat und das jeder von ihnen damit zurechtkommen muss.

Er erkennt, dass er nicht alleine ist in dieser Welt.

Als er sich in dieser Nacht auf dem kalten Steinsarkophagus zusammenrollt und seinem knöchernen Freund offenbart, dass er seine Bestimmung gefunden hat, tut er das mit Ruhe und Frieden im Gesicht.


Er spricht davon den Tod auf jede nur erdenkliche Weise studieren zu wollen und der Schädel schweigt.

Er spricht davon, dass er sich den Lebenden nicht länger verschließen darf wenn er den Tod begreifen wolle und der Schädel sagt kein Wort dazu.

Er spricht weiter bis er einschläft und der Schädel grinst dabei wissend.

Die ganze Nacht wacht er über Gellert der kein einziges Mal im Schlaf schreit oder weint.
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