FSK-18 Masken
#1
[Bild: qrwerjo5abg0s3i.jpg]

"Das werd' ich nicht zulassen, Nymea, niemals! Ich lass' es nicht zu! Ich lass' es nicht zu! Ich werd's nicht zulassen. Werd's nicht zulassen... nicht zulassen..."
Und während mein Körper sich unter Schmerzen zusammen krümmte, meine Arme vergeblich versuchten, die Tritte von meinem Bauch abzuwehren, fragte ich mich, ob er schon immer dieses keckernde Lachen hatte. Wie ein alter Ziegenbock. Und ob sein Lachen schon immer so verzweifelt klang, so falsch. Lachte er überhaupt oder weinte er? Waren das Tränen in seinem geröteten, aufgedunsenen Gesicht? Oder waren es meine eigenen, die alles ausser dem Schmerz hinter einem fiebrigen, flirrenden Schleier verschwimmen ließen? Als mein Arm unter einem letzten Tritt brach schnürte der explosionsartige Schmerz mir die Luft ab und ich stieß einen Laut aus, der fremd und zugleich vertraut in meinen Ohren klang. Ein bisschen wie ein brünftiger Hirsch. Ich hatte keine Kraft, um darüber zu lachen, auch wenn mir für einen Moment danach war. Zwischen meinen Beinen spürte ich warmes, klebriges Blut und wusste, dass meine Versuche, das Schlimmste zu vermeiden, fehlgeschlagen waren. Aber das machte nichts mehr. Ich wünschte nur, er hätte in diesen Minuten, die sich wie Stunden dahinschleppten, auch das restliche Leben aus mir heraus getreten. Aber er trat nicht mehr. Stattdessen nahm ich seinen undeutlichen Schatten aus dem Augenwinkel, am Rand zwischen Ohnmacht und Wachsein, irgendwo neben mir wahr. Er kniete sich hinunter und jetzt war ich mir sicher, dass er weinte. Der Gestank nach Alkohol, der aus jeder seiner alten Poren strömte, ließ mich würgen. Das war nicht mehr mein Vater, sondern irgendetwas Fremdes, etwas, das über die Jahre aus ihm geworden und nicht mehr Teil von mir war. Ich kann nicht genau sagen, woher ich die Kraft und Entschlossenheit nahm, seinem erbarmungswürdigen Dasein endlich ein Ende zu setzen, aber irgendwie fanden die Finger meiner linken Hand zittrig zur Lederscheide meines Jagdmessers. Der Rest ging wie von allein, aber meine Erinnerungen sind brüchig. Mal glaube ich mich zu erinnern, dass er mich angesehen hat - lächelnd und im Wissen, was geschehen würde. Dass er seine Brust dem Messer gar entgegen gelehnt hat. Dann wieder meine ich, dass er geschrien und sich wie ein Wahnsinniger gewehrt hätte. Letzten Endes jedoch ist das Ergebnis dasselbe. Ich hatte an diesem Abend zwei Menschen verloren - einen, den ich noch nicht kennen gelernt hatte und einen, den ich nicht mehr kannte. Dann umfing mich endlich gnädig die Ohnmacht, die noch viele Jahre lang anhalten sollte.


Sie ließ den Blick zum unzähligsten Male durch die geräumige Wohnstube schweifen und schnalzte, wie schon die Male zuvor, unzufrieden mit der Zunge. Sie hatte es geschafft, das leere Haus in nur wenigen Tagen zu einer behaglichen Heimat zu machen. Einem Ort, an dem man sicher war und sich wohlfühlen konnte. Wenn man denn die Bereitschaft dazu gehabt hätte, sich wohl zu fühlen.
Es war nicht so, als hätte sie mit voller Absicht nach einem Haar in der Suppe gesucht - dafür war ihr Wunsch nach ein wenig Ordnung, Normalität und Komfort mittlerweile zu groß geworden. Aber es gab ein Haar, dort irgendwo, und wann immer sie die Suppe der Zufriedenheit löffeln wollte, lag es ihr störend auf der Zunge. Sie konnte es nur nicht greifen. Vielleicht war es gar nicht mal das Haus an sich. Vermutlich war es auch gar nicht ein einzelnes Haar, sondern viele. Und vielleicht sollte sie sich die schlechten Vergleiche ein für alle mal abgewöhnen. Jedenfalls störte etwas den idyllischen Anfang ihres neuen Lebens und sorgte unweigerlich für eine innere Unzufriedenheit, die sie sich, wie vieles andere, zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder zugestand. Noch vor wenigen Wochen hatte sie von der Hand in den Mund gelebt - ziellos, planlos, von einen Tag auf den anderen. Ihre Gedanken hatten einzig und allein dem Überleben gegolten. Nahrung, ein warmer Platz in der Nacht, an dem sie nicht zu erfrieren drohte. Es war erschreckend, dass sie sich eingestehen musste, dass sie dieses Los selbst gewählt hatte - für so lange Zeit. Nachdem sie das Haus ihres Vaters mit einem gebrochenen Flügel und von oben bis unten mit Blut besudelt verlassen hatte, hatte sie wie ein Tier gehaust. Oft im Wald, wenn das Wetter oder die Gegebenheiten es zuließen - mal in einer abgebrannten, baufälligen Hütte. Sie hatte gestohlen - was in Ravinsthal gewissermaßen zum guten Ton gehörte - und menschlichen Kontakt, abgesehen von ein paar oberflächlichen, körperlichen Begegnungen, sonst weitestgehend gemieden. Dabei war es nicht einmal die Angst vor den Konsequenzen an der Ermordung ihres Vaters gewesen, die sie in dieses Exil getrieben hatte. Niemand hätte der Leiche eines Säufers und Raufboldes nachgeweint, da war sie sicher. Es war vielmehr eine Flucht vor all den unangenehmen, quälenden Gedanken, die einen Menschen einholen, wenn zuviel Zeit es zulässt. Es war Schutz vor Enttäuschungen. Es war der Versuch, ihr Leben auf die simpelsten Dinge zu reduzieren, und damit zu eingenommen zu sein, um Zeit an nutzlose Gedanken zu verschwenden. Eine Weile lang war sie damit gut gefahren. Sie hatte gelernt, sich um sich selbst zu kümmern und sich durchzusetzen. Während sie als kleines Kind, als ihr Vater noch gearbeitet und für sie gesorgt hatte, sogar zu schüchtern gewesen war, beim Bäcker einen Krapfen zu bestellen, so ließ sie sich inzwischen von niemandem mehr die Butter vom Brot nehmen. Im Gegenteil. Sie hatte gelernt zu handeln, zu streiten, zu kämpfen - körperlich als auch geistig.
Was sie hingegen verlernt hatte war alles andere. Aber...

"Das Leben geht weiter."

Manchmal braucht es nur eine Bekanntschaft, manchmal nur einen simplen Satz, um ein Leben auf den Kopf zu stellen. Sie hatte zwei gebraucht. Sándor, den wortkargen, zynischen Mann aus Galatia, der sie langsam aus ihrer Blase befreit und ihr auf so undenkbar vielen, wenn auch simplen Arten geholfen hatte. Zum anderen Lawin, der mit seiner schwer zu fassenden, nach außen hin unbekümmerten Art eine Sehnsucht in ihr geweckt hatte, die sie schon viel früher hätte verspüren müssen. Die Sehnsucht nach dem Leben mit all seinen Facetten. Sehnsucht nach Freude, nach Freunden, nach Gesang, Tanz, Kummer, Ärger, Schmerz. Nach allem, was das Leben ausmachte. Obwohl seine herablassende, spöttische Art sie zu Anfang rasend gemacht hatte (immerhin war Wut eine der wenigen Emotionen, die sie sich erlaubte und die oft äußerst hilfreich war), musste sie sich mehr und mehr eingestehen, wie recht er hatte. Sie hatte sich vor allem versteckt, was ihr, wenn auch aus gutem Grund und schlechter Erfahrung, Angst gemacht hatte. Noch immer Angst machte. Doch sie spürte, dass es an der Zeit war, ins Leben zurückzukehren und die Verluste der Vergangenheit zu überwinden. Es würde vermutlich nicht einfach werden. Das lag in der Natur der Sache. Doch sie konnte nicht umhin, sich insgeheim darauf zu freuen. Aus diesem Grund hatte sie auch nicht lange gezögert, das freie Haus im Neuen Hafen Löwensteins zu mieten. Dank Sándors Verhandlungsgeschick und seinem systematischen Vorgehen hatte sie - hatten sie beide - genug Geld, um ein normales Leben zu führen. Und obwohl sie ebenso ein Haus in Ravinsthal hätte wählen können entschied sie, dass sie die Rückkehr ins Leben auch gleich in unbekannter, neuer, vielversprechender Umgebung beginnen konnte. Zwar fasste sie die vage Vorahnung, dass sie sich mit ihrer neu gewonnenen Energie ein wenig zuviel zumuten würde, doch auch dafür war sie bereit. Sie hatte vieles, sehr vieles nachzuholen. Und während sie eben diesen Gedanken nachhing fiel ihr plötzlich auf, was sie die ganze Zeit über gestört hatte.
Die Westwand der Wohnstube brauchte unbedingt einen Wandbehang.
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#2
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"Was malst du da?" fragt er mich und küsst meine Schulter, lehnt sich vor, um besser sehen zu können. Der Kohlestift verkrampft sich in meiner Hand und ich muss mich beherrschen, den ungebetenen Zuschauer nicht fortzustoßen. "Nichts", sage ich und tue so, als würde ich seinen skeptischen Blick nicht bemerken, der sich zunächst auf das Blatt Papier, dann auf mein Profil richtet. Es ist der erste Moment, in dem ich tatsächlich so etwas wie Hass für ihn empfinde. "Ziemlich düster..." lautet sein Urteil und ich spüre, wie mein Rückrat sich versteift. "Ich finde es nicht düster." entgegne ich stur und drehe das Pergament um, werfe den Kohlestift auf den Tisch. "Bist du sauer?" fragt er und mir entfährt ein leises Schnauben. "Lass' es gut sein. Ich denke, es wird Zeit, dass du nach Hause gehst. Vater kommt gleich." Ich spüre seinen unzufriedenen Blick in meinem Rücken und versuche, mir nicht das dazugehörige, schmollende Gesicht vorzustellen. Diesmal bekommt er mich nicht rum. "Sehen wir uns morgen?" fragt er schließlich leise und greift nach seinem Hemd, seiner Jacke. Er hat es verstanden. "Vielleicht." erwidere ich trotzig wie ein Kind und ärgere mich im nächsten Moment selbst darüber. Ich kann nicht genau sagen, was mich wütender macht - die Tatsache, dass er beim Anblick der Zeichnung nicht dasselbe empfindet wie ich, oder dass er sie überhaupt ungefragt angesehen hat. Ich wende meinen Blick nicht nach ihm um, als er widerwillig die Stube verlässt und ich die Tür hinter ihm ins Schloss fallen höre. Ich weiß zu diesem Zeitpunkt schließlich noch nicht, dass ich ihn niemals wiedersehen werde.

Der Morgen dämmerte bereits und auf den Straßen begannen die ersten Menschen geschäftig ihrem Tagewerk nachzugehen. Es dauerte eine Weile, bis Nymea realisierte, dass der Pinsel in ihrer linken Hand schon seit einiger Zeit tatenlos über der Leinwand schwebte. Für einen Moment hatte der Schlaf sie übermannt. Das geschah ihr bisweilen, wenn sie ihren Körper wieder einmal in die völlige Übermüdung trieb und ihm die wohlverdiente Ruhe nicht zugestand - wie es in den letzten Wochen öfters der Fall war. Mit geschmälerten Augen betrachtete sie ihr Werk eine Weile lang, neigte den Kopf nach allen Seiten, doch sie konnte schon nicht mehr sagen, ob das Bild ihr gelungen war oder nicht. Wenn sie zu lange an einer Arbeit saß, verlor sie das Auge dafür und sie musste notgedrungen davon ablassen. Mit einem tiefen Seufzen wusch sie den Pinsel in der bereitgestellten Waschschüssel aus und schloss die Farbtöpfe nacheinander. Der Malkasten, den sie von Seamus erworben hatte, war ihr erster persönlicher Luxus, den sie sich seit ihrer Ankunft in Löwenstein gegönnt hatte. Den Schmuck und die vielen, neuen Kleider rechnete sie nicht mit ein - der Tand war nichts weiter als das i-Tüpfelchen ihrer Verkleidung. Schein, nicht mehr und nicht weniger. Die Farben, die Pinsel aus Pferdehaar in allen verschiedenen Größen, die Leinwände... das war ihre eigene, ihre wirkliche Freude. Schließlich konnte sie die Jahre kaum benennen, die vergangen waren, seit sie das letzte mal überhaupt einen Pinsel in der Hand gehabt hatte. Und was hätte sie draußen im Wald schon mit einer Leinwand gewollt. Müde und mit trägen Schritten trug sie ihr Werk aus dem Schlafzimmer, stellte es neben ihrem ersten Versuch ab. Aus Angst, die teure Farbe sinnlos zu vergeuden, hatte sie zunächst mit Tinte und Feder auf Pergament gezeichnet. Erst, als ihr Körper sich wieder vage an Strich-und Linienführung zu erinnern begann, war sie mutig genug gewesen, den Malkasten anzurühren. Darüber waren endlose Stunden vergangen - friedliche Stunden, in denen sie keinen quälenden Gedanken ausgesetzt war. Erst am Ende, als das Motiv sich bereits herauskristallisiert hatte und sie nur noch einzelne Details hinzufügte, erinnerte sie sich an die Frage der Dame Savaen. "Und welchen Stil nennt Ihr den Euren?" Die Frage kam ihr mehr als ungelegen. Schließlich hatte sie sich niemals mit den Regeln der Malerei befasst. Da sie nie vorgehabt hatte, ihr Geld mit dieser Tätigkeit zu verdienen, empfand sie es auch nicht als wichtig, was namenhafte Künstler unter Kunst verstanden. Und spätestens, als ihr Vater ihr 'Geschmiere' als abstoßend und widerwärtig bezeichnete hatte sie aufgehört, ihre Leidenschaft überhaupt zu erwähnen. Entsprechend bereute sie ihren Ausrutscher am Vorabend und wünschte sich, die Klappe gehalten zu haben. Nicht, dass sie glaubte, die Dame Savaen würde - sofern sie jene jemals wiedersah - noch einmal auf das Thema zu sprechen kommen. Das war unwahrscheinlich und kein Grund zur Besorgnis. Besorgniserregend war allein die Tatsache, dass sie nicht genug Acht gab auf das, was sie sagte. Inzwischen von einer vagen Unzufriedenheit gepackt nahm sie die Leinwand wieder auf und begann, den Pinselstrichen mit dünnen Tintenlinien Konturen zu verleihen. Zum Abyss damit. Das nächste mal würde sie vorsichtiger und bedachter sein, und bis dahin sollte sie sich einfach an ihren neugewonnenen Freiheiten erfreuen. Es mochte wichtig sein, was die Leute dachten - zumindest, wenn man Nymeas Ambitionen hegte - doch in ihrem Schlafzimmer, das bereits jetzt einer Färberei glich, schwor sie sich Freiheit von allen Zwängen. Und so rahmte sie beide Bilder, ganz gleich ob sie ihr morgen gefielen oder nicht, in schlichtes Holz und hängte sie mit voller Absicht und einem seligen Lächeln schief an die Wand.

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#3
"Die Knüppelgasse ist eine gängige Strafe. Eine, die man nicht so schnell vergisst."

Bereits seit einer Stunde starrte die junge Frau aus dem Fenster auf die Bogengasse und versuchte, die Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen. Die schmalen Finger gruben sich steif in ihren Rock, als wäre er ein Anker auf stürmischer See. Nutzlos. Gleich, wie lange sie die Bilder vor ihrem geistigen Auge einher scheuchte; es wollte sich keine passable Lösung auftun. Sie konnte sich in ihrem Haus verbarrikadieren, warten, bis die Grauwölfe ihren Namen vergessen hatten.
Oder sie ihre Tür einschlugen.
Oder sie packte erneut ihre Sachen, die in der Zwischenzeit deutlich über Sieben lagen, und verließ Löwenstein, um sich der Rotte anzuschließen. Keine Bürgerschaft in Löwenstein, kein Leben in Sicherheit und Ruhe. Und bei der nächsten Gelegenheit, in der Ansen Peckman seinen Kopf über die Grenze streckte, würde sie ihn ergreifen müssen. Verweigerte sie den Befehl, würde die Rotte sie an Ort und Stelle richten. Ergriff sie Ansen, wäre das nicht nur ein Vertrauensmissbrauch, sondern ein Übergriff auf einen Bürger Löwensteins - womit sie die Stadt ohnehin nicht mehr betreten können würde. Der einzige Ausweg war also die unehrenhafte Entlassung aus der Rotte, die sie zudem noch einen Gulden kosten sollte... und die 'Knüppelgasse'. Unweigerlich verzog sie die Mundwinkel beim Gedanken an das Wort. Es klang ebenso barbarisch wie die Menschen waren, die sich an derlei Spektakeln erfreuten. Und nicht zum ersten Mal in dieser Nacht und den Nächten davor verfluchte sie den Tag, an welchem sie diesen Vertrag unterzeichnet hatte. Aber wer hätte auch ahnen können, dass sich ihr, die sich über die Jahre allein mit Mühe und Not über Wasser gehalten hatte, wenig später so viele andere Möglichkeiten auftun würden? Sie jedenfalls hatte es nicht geahnt und bezahlte nun bitter dafür. Und noch immer wirbelten die Gedanken in ihrem Kopf, gaben keine Ruhe, wollten nicht akzeptieren, was akzeptiert werden musste. Sie hatte sich selbst in diese Situation geritten. Auch, wenn sie nicht ganz begriff, was Einar damit meinte, als er sagte, dass jeder zweite Söldner dasselbe tun würde, wenn er sie einfach gehen ließe. Die meisten Söldner waren schließlich auf ihren Sold angewiesen und würden daher wohlkaum ihren Dienst einfach niederlegen, nur weil sie es tat. Aber es spielte keine Rolle, ob sie die Gedanken dieses Barbaren verstand. Alles, was eine Rolle spielte war die Tatsache, dass sie die Konsequenzen zu tragen hatte...

Nur mühevoll löste sie die verkrampften Finger aus dem Stoff des Leinenrockes, strich nachdenklich darüber. Würde sie die Schmach ertragen können? Verprügelt wie ein Hund, von einer Armee besoffener und stinkender Söldner? Unehrenhaft entlassen, obgleich das einzig Unehrenhafte das sie tat war, sich von eben solchen Leuten zu Wurst verarbeiten zu lassen? Käme sie mit blauen Flecken und Prellungen davon, oder würde sie sich mit gebrochenen Knochen und auf allen Vieren zurück nach Löwenstein schleifen müssen? Für einen kurzen Moment tauchte vor ihrem geistigen Auge das Bild Jakobines auf. Ihre blutige Hand, die an ihre Fensterscheibe klatschte und dann kraftlos daran herab glitt.
Vielleicht würde sie auch nach dem ersten Schlag die Kontrolle über sich verlieren, sich auf den Erstbesten stürzen und versuchen, ihm die Kehle herauszureissen, bis der Rest der Rotte sie in der Luft zerriss. Würde Sandor zusehen müssen? Er, vor dem sie das Gesicht am wenigsten verlieren wollte? Und würden sie Gnade walten lassen bei den Hieben, weil sie eine Frau war, oder wäre das nur Grund für jeden heimlichen, armseligen Geist, umso härter zuzuschlagen? Während sich ein immer dunkler werdender Schleier um ihre Gedanken legte spürte sie, wie sich ihr gleichsam die Kehle zuschnürte. Was auch immer mit ihr geschehen würde; bei den Grauwölfen zu bleiben war keine Möglichkeit, die sie in Betracht zog. Jetzt erst recht nicht mehr. Sie war bereits oft genug geflohen - vor allen Dingen, die unangenehme Konsequenzen versprachen. Dieses mal würde sie sie tragen und dabei aufrecht stehen, so lange ihre Beine es zuließen.
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#4
Was sie letzten Endes dazu bewogen hatte, wieder aufs Pferd zu steigen und der Garnison den Rücken zu kehren, hätte eindeutig schon früher kommen müssen.
Das Wissen darum, dass sie bei dieser Abmachung, dieser Lösung, nichts zu gewinnen hatte. Aus irgendeinem Grund war ihr das aber erst so richtig klar geworden, als Arkin, dieser weißbemantelte Kerl mit dem immerwährenden Lächeln, vor versammelter Mannschaft aussprach, was Einars Bedingung ohnehin die ganze Zeit beinhaltet hatte: Sie war in den Augen der Söldner Deserteur, Verräterin. Doch für diese Betitelung, diese Ansicht und die Folgen hatte sie nicht vor, auch noch in Gulden und Demütigung zu zahlen. Vielleicht hätte sie diese Schande, diese 'Knüppelgasse' über sich ergehen lassen - wäre sie dann mit den Wölfen quitt gewesen. Auch den Gulden hätte sie unter Zähneknirschen dazu gezahlt. Aber wozu diese beiden Opfer, wenn letzten Endes doch nur die darauffolgende Ächtung wartete? Dafür, dass sie Thalweide unter misstrauischer Beobachtung betreten konnte? Niemals. Und je näher sie Löwenstein kam, wobei sie das Pferd weder zur Eile trieb noch Müßiggang duldete, desto lächerlicher erschien ihr der Gedanke an das Prozedere.
Nein. Sie würde keinen Heller bezahlen und niemand würde einen Finger an sie legen, ohne, dass sie sich bis auf den Tod dagegen zur Wehr setzte. Obgleich es ihr grundsätzlich missfiel, ungeklärte Rechnungen im Rücken zu wissen, so würde sie es in dieser Sache darauf ankommen lassen. Fahnenflucht - Todesurteil. Vorausgesetzt, sie wurde innerhalb Thalweide oder der Passwacht gefasst. Und das würde sie zu vermeiden wissen. Ihr Ruf konnte ihr in dieser Angelegenheit egal sein. Was gab sie darauf, was ein Haufen verflohter Barbaren von ihr hielt? Schließlich hatte sie die Sache vernünftig lösen wollen. Doch Vernunft schien in dieser Angelegenheit fehl am Platz. Während sie das Pferd im Unterstand vor ihrem Haus unterbrachte spürte sie, wie sich der Kloß im Hals, den sie bereits seit gestern Nacht vergebens hinunter zu schlucken versuchte, in Nichts auflöste. Ja, vielleicht war sie in größerer Gefahr, als sie momentan annahm. Aber sie hatte sich ihren Stolz bewahrt. Barbarentum galt es nicht zu unterstützen. Und während sie die Tür aufschloss und den Blick durch die Wohnstube schweifen ließ dachte sie an die Götter. Dachte an den einen Gott. Und mit einem mal überkam sie ein unwohles, nagendes Gefühl, das noch bis zum folgenden Morgen anhalten sollte...
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