Zitherklang und alte Lieder
#1
Eine Teufelsgeige heult ihren atonalen Trauergesang zu dem zarten Klimpern von Zimbeln und dem Gebell der Holztrommeln. Kurz darauf steigt die Zither von Gillies Vater mit ein, untermalt das schleppende Lied mit ihrem Klang, nur um von der rauchigen Stimme Tante Ismeldas übertönt zu werden. Sie hat eine kräftige, klagende Stimme, klangvoll genug um das Lachen und Murmeln der Zuhörer, das Rauschen des Selbstgebrannten in die Blechkrüge, das Klickern der Knochenwürfel auf die behelfsmäßigen Fasstische zu übertönen und alle in ihren Bann zu ziehen.
Gillie wünschte, sie hätte sich näher ans Feuer gesetzt, wo ihre Tante mit stampfender Ferse das Lied über den Fall Laskandors, der Heimat, vorträgt. Dort vorne würde sie das Flüstern ihrer älteren Schwester Nidia nämlich ganz sicherlich nicht mitverfolgen können.
Es ist unanständig zu lauschen, besonders in so engen Quartieren wie sie der Wagenzug ihrer Sippe dulden muss. Man lernt, wegzuhören, sei es beim Liebesspiel in der Schlafbank gegenüber, beim Streit im Nebenwagen, oder eben bei der Tändelei der größeren Schwester, die gerade dort hinten im Finsteren, versteckt zwischen Karren und Fracht, mit jemandem anbandelt, der wahrlich nicht hier sein sollte. Gillie wünschte, sie könnte weghören, aber darin war sie noch nie sehr gut. "Das ist Easars Gabe," erklärt ihre Mutter ihr gerne, wenn Gillie wieder einmal beim Spitzeln erwischt wurde und sich ihre Rüge abholen muss.
Gerade eben ist Gillie mit ihrem Schutzgott Easar nicht sehr zufrieden. Nicht nur, dass er sie dazu anregt, lange Ohren zu machen, er hält sie auch davon ab der Vernunft zu folgen und sich näher ans Feuer zu begeben, wo das Moll-Tonlagenlied sicherlich die brünftigen Worte übertönen könnte.
Nidia ist zwei Jahre älter als Gillie, reifer, unvernünftiger, stets hinter den schönsten Männern her und selten daran interessiert, welche Risiken sie eingeht. Es reicht Nidia nicht, dass ihre Sippe toleranter ist als andere und das Tändeln der Frauen ignoriert, solange diese keine bleibenden Konsequenzen davontragen, nein. Nidia scheint es als ihr Recht anzusehen, sich zu nehmen was sie will, selbst wenn sie es nicht braucht.
Mit einem frustrierten Atemzug bläst Gillie die Wangen auf. Es gäbe so viele junge Männer unter den Erben, die mit ihnen reisen, soviele mehr unter den anderen Wagenzügen, die sie hin und wieder treffen, soviel Auswahl. Aber nein! Nidia muss sich an die verbotenen Früchte heranwagen, an die Außenseiter, die von der Erbentradition keine Ahnung haben, kein Interesse dafür, sich anzuschließen. Eines Tages werden die Götter sie dafür strafen, da ist Gillie sicher. Kurzzeitig spielt sie gar mit dem Gedanken, ihren Vater auf das Gekicher und Geraschel hinter den Karren aufmerksam zu machen, aber er wirkt gerade so glücklich mit seiner Musik, seiner dritten Liebe, dass Gillie es nicht wagt.
Und hofft, dass Nidia ein weiteres Mal ihr unsägliches Glück beanspruchen kann.
Zitieren
#2
Das Geschrei aus dem Familienwagen ist unerträglich, dominiert von der peitschenscharfen Stimme von Gillie's Vater. Schon bei Entdecken von Nidias Umständen hat er Gillie aus dem Wagen geworfen, während ihre Brüder bleiben durften. Die Wände des Wagens sind dünn, aber irgendein Teil von Gillies Verstand hat beschlossen, dass der Schmerz zuviel ist, und ihr das Verständnis geraubt. Seither ist das Geschrei ihres Vaters nichts als eine Barrage von bellenden Lauten, und die leiseren Einwürfe ihrer Mutter mehr wie das Winseln eines Welpen. Anfangs hat man von Nidia noch den einen oder anderen Einwurf gehört, Rechtfertigungen und Besänftigungsversuche, aber auch ihre Stimme ist inzwischen verstummt.
Gillie starrt in den rauchverhangenen Himmel, lutscht an ihrer wundgekauten Unterlippe und betet still zu den Göttern. Sie weiß dass Gebete nicht dafür gedacht sind die Götter dazu zu bringen, irgendwas für sie zu tun während sie da sitzt und sich bemitleidet, untätig und weinerlich. Aber nicht nur betet sie nicht für sich selbst, sondern für ihre Schwester, sie bittet auch nicht darum dass die Götter irgendetwas für sie tun, sondern nur darum, dass sie ein Auge auf ihr Fleisch und Blut haben.
"Lyon weise dir den Weg, hin zur Zukunft und fort von der Gefahr," wispert Gillie den vereinzelten Sternen zu, die durch die Wolken und den Qualm der Lagerfeuer blitzen. "Nodons halte seinen Schild über dich." Ob Nodons den Verstoßenen beisteht, weiß Gillie zwar nicht, aber eine Bitte ist noch kein Handel, für den man gestraft werden könnte. "Sulis scheine stets in dein Gesicht," murmelt sie leise und holt Luft für weitere Bitten, die vom Knall der auffliegenden Wagentüre aus ihrem Kopf gewischt werden.
Nidia stolpert verheult aus dem Wagen, wirft ihr einen halb anklagenden, halb aufgelösten Blick zu, und läuft mit wehenden Rockschößen hinaus in die Nacht. Niemand aus dem Wagen folgt ihr, niemand sieht ihr überhaupt hinterher, bis auf Gillie. Sie weiß es besser, weiß dass Verstoßene genauso gut tot sein könnten, aber sie kann nicht anders. Erst als Großmutter von ihrem eigenen Wagen herüber schlurft, sie am Arm packt und begleitet von leisem, scharfem Tadel mit sich zieht, wendet Gillie den Blick wieder ab. Es ist nicht fair! Oder ist es?
An diesem Abend beginnen die Träume.
Zitieren




Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste