FSK-18 Auf dünnem Eis
#1
#12 - 27. Ernting 1402 (I) - SOMMER
#13 - 27. Ernting 1402 (II) - SOMMER
20. Julmond 1401 - WINTER

Der Morgen quälte sich unsäglich langsam über die Bergspitzen, fast so als habe er ein Einsehen dafür, dass er nicht für jeden auf der Welt Erlösung bedeutete. Manches braucht die Nacht, um zu existieren. Manches lebt von Geheimnis, blüht im Dunkel erst auf und vergeht mit dem heranbrechenden Licht, verendet mit dem ersten Sonnenstrahl. Aber unaufhaltsam kam er, der Morgen, so sicher wie das „So sei es!“ im Gebet. Es hätte göttliche Kräfte benötigt, die die des einfachen Volks von Hammerhall überstiegen, um ihn aufzuhalten. Und so hielt niemand den Morgen auf, der in seiner Unbarmherzigkeit zwei Leben trennte, die untrennbar gewesen waren. Nichts regte sich im Kern von Hammerhall. Die Schneedecke, die den Ort zudeckte, war beinah perfekt – wären da nicht die Fußspuren gewesen, die vom schneestummen Kern des Zentrums an den unbesiedelten Rand führten, dort, wo die Hauptstraße die Dorfstraße küsste.

Zwei großgewachsene Frauen verharrten dort, ins Zwiegespräch vertieft. Ein seltsamer Anblick, denn zu dieser Jahreszeit suchte niemand freiwillig diese Isolation. Die Ältere, wohl um die 45 Jahre alt, hielt ihre Hände schwer auf den Schultern der Jüngeren und blickte von einer leicht erhöhten Position am Wegesrand auf sie herab. Das geduldige, geplagte Gesicht trug erste Falten, was die Frau, der es gehörte, aber weder kümmerte noch störte. An diesem Morgen schienen sie ausgeprägter als je zuvor. Tief hatte sich die Sorge eingegraben um die Mundwinkel, fest hatte sich der Kummer in den ernsten Augen eingenistet wie ein unwillkommener Gast, der das Haus nicht mehr verlassen will.

Die Hand der Jüngeren, die wohl 25 Jahre gesehen hatte, hielt die Zügel eines stoisch und beständig Atemwölkchen ausstoßenden Packpferds fest umklammert. Die junge Frau war mit allem ausgestattet, was ein Reisender in Nortgard trug, wenn er dem unbarmherzigen Griff des Frostes entkommen wollte und damit rechnete, den Elementen für lange Zeit ausgesetzt zu sein. Ein schwerer Wolfspelz lag ihr um die Schultern, und eine Gugel, verbrämt mit wärmendem Fell, verdeckte das weißblonde Haar darunter. Die Augen, von einem hellen Braun, ein Spiegel des Augenpaars ihres Gegenübers, blickten die Ältere flehend an. Ein letzter Versuch.

„Geh, Tochter. Geh und tu deinen Dienst an Mithras. Und komm uns nicht mehr unter die Augen, eh du nicht von dieser unsäglichen Sünde und Verderbtheit reingewaschen bist.“

„Mutter, lasst mich wenigstens erklären!“

„Nein. Zu lange schenkten wir euren Ausreden Glauben.“

„Du verstehst nicht!“

„Geh. Vigdis, geh, ehe ich mich vergesse! GEH.“

Es klang ihr noch in den Ohren, dieses allerletzte Wort, das einem Axthieb gleichkam. Wie die ersten Stunden vergingen, hätte sie nicht mehr sagen können, noch, ob ihr jemand begegnete, sie überholte oder gar grüßte. Da war nur Schnee, Eis und diese Leere, dieses entsetzliche Nichts.

Das Pferd tat, was es gut konnte. Es zuckelte brav einen vorgegebenen Weg entlang, ohne nach links oder rechts auszuweichen. Das war einer der weniger offensichtlichen Unterschiede zwischen ihm und seiner Besitzerin, die schneeblind tappte, wohin das Pferd sie führte und es nur zu ihrer Priorität machte, dem warmen Körper des Tiers zu folgen, dem einzigen Bollwerk gegen den Frost, der das Land in seinem unnachgiebigen Griff hielt. Umsonst versuchte sie, die in immer gleichen Bahnen kreisenden Gedanken anzuhalten.

Gestern war alles so klar gewesen. Heute wankte sie in eine unbekannte Zukunft über einen fremden Weg in ein fremdes Lehen, von dem sie kaum etwas wusste. Keiner dieser drei Aspekte hätte sie groß erschreckt, wenn da vertraute, schwere Schritte an ihrer Seite gewesen wären, die sie noch in einer marschierenden Armee erkannt hätte, eine entschlossene Hand, die ihre nahm, ein Arm, der sich um ihre Schultern legte. Yngvar.

Zu sagen, sie litt an seiner Abwesenheit, wäre eine heillose Untertreibung gewesen. Es war vielmehr, als hätte ihr eine unsichtbare Macht die Hälfte ihres Herzens aus der Brust gerissen und es von den Gipfeln der Zwilllinge hämisch gackernd in eine unbekannte Dunkelheit geschleudert. Es war, als würde einem der Boden abrupt unter den Füßen weggezogen. Als bräche das Eis, das man für trittsicher hielt, mit einem Mal ein. Die Kälte in ihren Knochen hatte nichts mit dem Wetter zu tun. Manchmal blieb sie stehen und brüllte seinen Namen in den Wind in der vagen Hoffnung, der Wind möge ein Einsehen haben und ihre Stimme zu ihm tragen. Aye, sie fühlte sich halb wahnsinnig. Alles, was sie vorantrieb, war der tiefe, unerschütterliche Glaube daran, dass Mithras sie noch nicht aufgegeben hatte.

Zwischen dem felsenfesten Gestern und dem zerstörten Heute klaffte ein Spalt. Wie hatte es so weit kommen können? Gestern war die Zukunft heiter gewesen. Geheimnisbelastet, das schon. Aber gleichzeitig von vielerlei Sicherheiten geprägt. Der Sicherheit, in Yngvars Armen der Welt entfliehen zu können. Der Sicherheit, ein Dach über dem Kopf zu haben. Der Sicherheit, die Hand von Mithras über sich zu wissen ebenso wie jene, eine Aufgabe im Leben zu haben. Ihrer Hauptaufgabe war sie nun beraubt.

Gerade 17 geworden war sie mit der Idee angekommen, einen Chor ins Leben zu rufen. Das Leben brodelte in ihr und sie wusste nicht mehr wohin mit all dem ungenutzten Ehrgeiz. Die Welt war so klein und eng zuhause und überall lauerten mahnende Elternblicke, die Näharbeiten bemängelten oder Schreibaufgaben bekrittelten. Sie wollte etwas für sich. Eine Aufgabe. Einen Grund, das Haus zu verlassen. Die Reaktion der meisten Nortgarder Steinschädel in Hammerhall war wie zu erwarten erst einmal schallendes, wenn auch gutmütiges, Gelächter gewesen, als sie bei der Dorfversammlung aufstand und das Vorhaben vorbrachte. Nur der Priester, der hatte nicht gelacht. Sie konnte sich sein Bild vor Augen rufen als stünde sein Porträt vor ihr  – ein ernster, strenger Mann, dessen Schelte sie nicht nur einmal kassiert hatte. Aber in diesem Punkt leistete er ihr unerwartet Schützenhilfe. Vater und Mutter hätten die Idee als bloße Marotte abgetan. Einen Anflug von übersteigerter Glaubensverzückung vielleicht, wie sie so manch ein Jugendlicher durchmachte, wenn er heranwuchs und zu sehr in seiner eigenen Welt lebte. Festen Glauben, das befürworteten die Eltern. Hirngespinste nicht. Vater Tjordans Hilfe aber war es, die den Stein damals ins Rollen brachte. Das, und Vigdis‘ eigene, grenzenlose Verbissenheit, gepaart mit einer Unze Charme, mit der sie am nächsten Tag begann, die Häuser abzugehen, in denen potentielle Sängerinnen saßen.

Ein Kreis von sieben gleichaltrigen Mädchen saß in dem stillen Langhaus, in dem Mithras gehuldigt wurde. Vierzehn nervöse Augen lagen auf ihr. Übersteigerte Selbsteinschätzung war ebenso wenig Vigdis‘ Sache wie falsche Bescheidenheit. Es galt, die Vorsängerin, die Kantorka, zu finden, aber es lag ihr fern, sich selber einfach dazu zu bestimmen. „Wir entscheiden per Abstimmung, wer Kantorka wird. Überlegt euch, was ihr vorsingen wollt.“ Vielleicht war es nur die Unlust der anderen, Verantwortung zu übernehmen. Vielleicht glaubten sie auch, das herrische Mädchen in ihrer Mitte sollte in dem Fahrwasser bleiben, in dem es sich eh schon befand oder vielleicht hatte Mithras ihre Gebete erhört. Aber Kantorka wurde sie und blieb sie. Nie würde sie vergessen, wie der Chor der Mädchenstimmen zum ersten Mal das Langhaus erfüllte. Es war einer der erhabensten Momente in ihrem Leben gewesen. Nie hatte sie sich Mithras so nah gefühlt wie bei dem Gang durch das dunkle Langhaus, das nur von spärlichem Kerzenlicht erhellt wurde. Der Priester stand am Ende des Ganges und wartete, bis die Mädchen, gekleidet in lange, rote Wollkleider mit Sonnensymbolstickereien, ihn entlanggeschritten waren. Es war ein Spiel vom Ruf der Kantorka zur Antwort der Sängerinnen und wieder zurück.

Mithras obsiegt
Immer
So sei es
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#2
1. Hartung 1402 - WINTER

Ordensmeisterin Gesine Behringer ließ sich Zeit. Langsam tunkte sie die Feder in das dafür vorbestimmte Fass, behutsam setzte sie die Feder auf dem glattgestrichenen, vorbereiteten Pergament ab, bedacht begann sie, einen möglichst aussagekräftigen Bericht für Hermeno Falkner über die Fortschritte ihrer Anwärter, Novizen und Legionäre zu verfassen. Ordensmeisterin Behringer gehörte zu den wenigen in den Reihen von Falkners Legion, die am Schreiben von Berichten Vergnügen fand. Sie mochte ihre Ordnung, ihr abgestecktes Feld, die Klarheit, die sie versprachen, die Struktur, die sie mit sich brachten. Für einige Stundenläufe konnte sie so in ihrer Schreibhaltung verbleiben, ab und an einen Schluck von ihrem gewässerten Wein nehmen, sich gelegentlich durch das pechschwarze Haar streichen, das sie kurz wie Igelstacheln trug und zur Türe blicken, wenn sie für einen Moment ihre Gedanken sortieren musste. So hielt sie es auch heute. Kurzfristig verlor sich ihr Blick an dem Holz, das ihr Drinnen vom Draußen der Bittsteller trennte. Die Türe war aus massiver Ravinsthaler Buche und schirmte Ordensmeisterin Behringer von dem langen Gang, auf dem die fleischgewordenen Ablenkungen verharrten, ab. Sie brauchte allerdings keine Geräuschkulisse und kein Bild, um sich zu erinnern, wer dort saß.

Die junge Frau vor der Türe der Ordensmeisterin zählte zur Kategorie „So verloren, dass ich mir nicht einmal Zeit nahm, meine Reisekleidung fortzuwerfen, um mich in sauberere Gewänder zu hüllen“. Immerhin war es Winter, sodass der Staub nicht zu arg an ihr klebte. Zumindest Gesicht und Hände der Abwartenden waren sauber, so wie die kurzen Fingernägel. Ordensmeisterin Behringer las Menschen jeden Tag. Diese hier war auf den ersten Blick ein offenes Buch, wie so viele vor ihr. Beinah hätte sie sie ausgebrannt nennen können, wenn da nicht noch etwas gewesen wäre. Gesine Behringer ließ die Feder sachte mitten im Bericht über die Geschwister Kaltschlächter sinken und suchte nach einer passenden Beschreibung, einem Bild. Als sie es gefunden hatte, nahm sie die Feder wieder auf. Berichte schreiben war ihr so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie anderen Gedanken nachhängen konnte, während sie Fakten für die Ewigkeit aufs Pergament zwang.

Die Interessentin war ein Glutnest, das war sie. Manch einer hat die Macht eines beinah gelöschten Feuers schon unterschätzt und sich, sein Hab und Gut, sein Haus, seinen Hof, seine Lieben, in Sicherheit gewähnt, sein Herdfeuer, Lagerfeuer oder Hoffeuer gelöscht gewähnt. Man meint, die Scheite seien heruntergebrannt und die Wärme vergangen, doch unter weißschwarzen Ascheflocken, verkohltem Holz und Debris glimmt etwas weiter, unentdeckt und heimlich, behauptet sich gegen Wind und Wetter, gegen Löschversuche, gegen die Zeit. Unter der Orientierungslosigkeit, der Verlorenheit und Verzweiflung gloste etwas, das Ordensmeisterin Behringer davon abhielt, die Interessentin fortzuschicken. Es brauchte aber einen Wind von außen, um es freizulegen, das erkannte Behringer. Diese Interessentin würde nicht allein wieder brennen, nicht von selbst das Feuer entfachen können. Reich genug, die Kleidung nicht zu waschen und abzuwarten, bis sie von selbst trocknete, sondern neue zu erstehen, war die junge Frau. Das Wolfsfell um die Schultern, die pelzgesäumte Gugel, ja, selbst die Haltung, ungebeugt noch im Angesicht ihrer Verzweiflung, verrieten dies. Wenn hier nicht persönliche Tragödien hinter einer Flucht standen, wollte Gesine Behringer Damon Vorbis heißen. Für persönliche Tragödien interessierte sich sich allerdings so viel wie für Modeströmungen – gar nicht. Niemand, der freiwillig sein Heim verlässt, sah so desorientiert aus wie die Interessentin. Nein, aus freiem Willen war sie nicht hier. Aber es hatte sie auch niemand herbegleitet, niemand abgeliefert, niemand drohend Wache vor den Tempeltoren bezogen, wie es bei manch einem Spross aus besserem Hause der Fall war, wenn er in Ungnade gefallen war und der Legion übergeben werden sollte, weil man darin die letzte Möglichkeit war, Familienehre zu retten.

Es war nicht ratsam, Interessenten das Gefühl zu geben, die Welt kreise um sie. Die Welt scherte sich einen Dreck um sie, und je eher sie das lernten, desto besser. Erst mussten sie sich den Respekt der Welt erarbeiten – und Behringers. Viele glaubten allerdings, besondere Zuwendung verdient zu haben, nur weil sie sich für den Dienst in der Legion begeisterten und den Wunsch äußerten, bei der Ordensmeisterin vorsprechen zu dürfen. Das hatten sie nicht. Zunächst einmal wurden sie auf der Liste von Behringers zu erledigenden Tätigkeiten ganz unten eingereiht. Spezielle Zuwendung schenkte sie keinem Anwärter, sie schenkte sie keinem Novizen. Und schon gar nicht hatte sie Interesse daran, diese Zuwendung einem unerfahrenen Grünschnabel wie dieser Nortgarderin zuteil werden zu lassen.

Wenn die Interessenten ein paar Stunden draußen auf der harten Eichenbank ausgeharrt hatten, nicht zu Tode in ihrem Stolz gekränkt wieder abgezogen waren, sondern Sitzfleisch bewiesen hatten, mochte man weitersehen. Es war eine effektive Methode, und sie vergeudete keine Zeit, die Behringer ohnedies nicht hatte. Diese Vorgangsweise erlaubte Behringer, die besonders Schwachen von Vornherein auszusieben. Die aufgezwungene Wartezeit machte die Ordensmeisterin pragmatisch abhängig von dem ersten Eindruck, den die Interessenten bei ihr hinterließen. Arrogante Erstgeborene mit Berühmtheitsallüren warteten am längsten. Danach kamen muskelstrotzende Krieger, die gewohnt waren, ihren Willen durchzusetzen, weil sie eine schrankähnliche Statur und eine harte Faust besaßen. Gesine Behringer pflegte überaus herzlich und zahnlastig zu ihnen hinaufzulächeln und ihnen mitzuteilen, es werde ein Weilchen dauern, sie mögen sich an die Luft im Tempel gewöhnen und einstweilen in sich gehen, den Herrn um seinen Segen bitten oder sich vorbereiten auf das Gespräch. Überpflegte Möchtegernbaronessen rangierten an dritter Stelle. Schleifchen im Haar oder berüschte Blusen waren ihren Ansinnen dabei nicht zuträglich, was den Schlaueren dämmerte, wenn sie Behringer zum ersten Mal erblickten. Milder ging sie mit den verlorenen Schäfchen um, den still Verzweifelten. Die ließ sie nur warten, damit sie Gelegenheit bekamen, sich zu sammeln und zu besinnen, ob nicht doch ein anderer Weg, der eines Handwerkers oder Stadtbeamten, gescheiter wäre. Wenn niemand die junge Nortgarderin draußen hergebracht hatte, dann hinderte auch niemand sie daran, den Tempel wieder zu verlassen. Gesine Behringer verachtete Wankelmut und sparte sich gerne die Peinlichkeit, einmal aufgenommene Anwärter wieder entlassen zu müssen. Das machte sich nie gut in Berichten.

Der letzte Punkt am Satzende wurde nicht weniger sorgfältig an seinen Platz gesetzt wie seine zahlreichen Vorgänger. Schludrigkeit war ihre Sache nicht. Es gab nichts mehr, das sie in diesem Zimmer noch hätte erledigen können. Ein Blick zum Fenster verriet die Zeit – zwei Stundenläufe mussten vergangen sein, seitdem sie der Interessentin einen Platz auf der Bank zugewiesen hatte. Es war an der Zeit, nachzusehen, ob sie ausgeharrt hatte, wie ihr aufgetragen worden war. Gesine Behringer richtete die Schriftstücke auf ihrem Schreibtisch, legte die Feder auf die dafür vorgesehene Ablage und überprüfte ihre Finger aus Gewohnheit auf unwürdige Tintenflecke. Nichts. So wie immer.

„Nun kommt herein. Setzt Euch.“

Schweigen. Eine gerade Haltung. Die Augen wach. Es lag nichts Bittendes darin. Die Interessentin mauerte sich ein. Behringer fühlte sich irritiert davon und nahm wieder auf ihrem schweren, gepolsterten Stuhl Platz. Ein gesundes Maß an Servilität hatte noch niemandem geschadet, der etwas von ihr wollte. Die Anwärterin auf ihrem harten Stuhl gegenüber schwieg weiter. So eine also. Manche plapperten, sobald sie den Raum betraten, um die unangenehme Stille zu überbrücken und flüchteten sich in Plattitüden oder stürzten sich verzweifelt auf Kommentare über das Wetter.

„Wie heißt Ihr?“

Sie hatte Besseres zu tun, als abzuwarten, bis die Interessentin sich gemütlich im Gespräch einrichtete. Mit der ungebrochenen Stille, die sich sofort nach ihrer Frage, dieser alleroffensichtlichsten Frage, wieder über das Zimmer senkte, hatte sie allerdings noch nie zu tun gehabt. Das war doch nicht so schwer. Jeder konnte auf diese Frage antworten.

„Nun?“

„Mein Name muss ein anderer werden. Ich will ihn nicht mehr tragen.“

„Ihr könnt den Namen Eures Mannes nicht einfach ablegen. Und wenn Ihr glaubt, hier aus einer unglücklichen Ehe flüchten zu können, werde ich Euch unverzüglich die Türe weisen. Die Ehe ist heilig vor Mithras, das wisst Ihr.“

„So meine ich das nicht.“

Mein Name muss ein anderer werden. Du weißt nicht, was ich bin und du sollst es nicht wissen. Selbst wenn ich es wollte, ich bringe es nicht über die Lippen. Ich kann es dir nicht sagen, auch wenn du die Wahrheit verdienst, Ordensmeisterin. Frag mich nicht danach, ich habe keine Antworten, die ich in Worte fassen will. Ich will dich nicht anlügen, aber die Wahrheit kann ich nicht aussprechen. Jedes Mal, wenn jemand „Vigdis“ zu mir sagt, werde ich nur seine Stimme hören und in den Abgrund stürzen wollen. „Vigdis, ich will dir was erzählen!“ – so oft gehört, so oft, so oft, zu selten. Jedes Mal, wenn jemand „Vigdis“ flüstert, werde ich an jede süße Heimlichkeit denken müssen, gestohlene Küsse hinter Türen, minutiöse Planung, zugeflüsterte Wahrheiten, die vielen Verstecke, die Hütte am See. Jedes Mal, wenn jemand „Vigdis“ ruft, werde ich mich nach ihm verzehren, weil mir jeder Augenblick gewahr werden wird, in dem er meinen Namen geschrien hat, mit dieser endlosen, gefährlichen Unbekümmertheit, die einen ergreift, wenn man den festen Griff auf die Realität endlich verliert. Vigdis gehört ihm zu sehr. Vigdis muss sterben.

„Wie meint Ihr es dann?“

„Ich möchte den Namen meiner Großmutter annehmen. Ihren Vornamen: Marit. Sie war eine mithrasfürchtige Frau und mir stets ein Vorbild, an dem ich mich orientieren will. Und ich bin nicht verheiratet.“

Nun war Behringer diejenige, die das Schweigen seine lautlos attackierenden Tentakel um sich und die andere schlingen ließ, während sie diese seltsame Frau mit ihrem seltsamen Wunsch studierte. Was mochte sie dazu bewegen, ihren eigenen Namen abgeben zu wollen als wäre er ein Makel? Aber sie war auch die, die schließlich den Faden wieder aufnahm.

„Warum seid Ihr hier, Fräulein..?“

„Stein.“

Sie würde abyssverflucht zumindest den Nachnamen behalten – letzte Erinnerung an die Heimat und alles, was mit ihr verbunden war.

„Ich will der Legion dienen.“

„Warum?“

„Ich bin sicher, jeder der hier sitzt, sagt Euch, der einzige Grund ist seine Liebe zu Mithras. Das ist der erste Grund. Auch ich fühle sie. Ich studiere seine Lehren seit Jahren, weil meine Eltern es so wollten. Doch je länger ich ihnen folgte, desto stärker erwuchs auch der Wunsch in mir, ihm noch treuer und eifriger zu dienen. Nicht nur mit dem Wort, sondern auch der Tat.“

„Und der zweite?“

Marit Stein entschloss sich zu den brutalsten Worten, den wahrsten, den schonungslosesten, denen, die so markerschütternd ehrlich waren, dass sie sich gern zusammengekrümmt hätte, als sie sie von der Leine und in ihrer stählernen, undebattierbaren Wahrheit in die Welt hinausließ. Wenigstens diese konnte sie der Ordensmeisterin offenbaren.

„Mir ist sonst nichts geblieben. Es gibt keinen Ort, an den ich gehen könnte, keinen Ort, an dem ich nützlich sein könnte. Ich unterwerfe mich dem Wunsch meiner Eltern, die mich hierher sandten. Ich suche die Ordnung in einer Gemeinschaft, der ich dienen kann, wie man es mir sagte.“

„Warum hat man Euch fortgeschickt?“

„Ich beging eine Sünde."
Sie schaute auf eine Stelle über Behringers Igelkopf.
„Sünden.“

Behringer blickte die Interessentin unverwandt weiter an.

„Ungebührliches Verhalten.“

Die Ordensmeisterin wog ab. Es war ihr wohl bewusst, welche Strategie die Interessentin verfolgte. Happenweise wurde ihr Information vorgeworfen, die andere schlitterte auf einem Grat dahin, der sie gerade so an der Lüge vorbeiführte, weil sie nicht damit herausrücken wollte, was sie umtrieb. Sie konnte nun weiterbohren. Oder sie konnte Nutzen für die Legion aus der Interessentin schlagen und der Priesterschaft die Seelenarbeit überlassen, deren Geschäft das schließlich war.

„Muss ich mit erzürnten Nortgardern rechnen, die uns demnächst die Tore einrennen? Gehörnten Gatten? Gekränkten Vätern?“

„Das müsst Ihr nicht. Niemand sucht nach mir. Alle, die wissen, dass ich hier bin, finden in diesem Wissen Genugtuung. Niemand wird kommen.“

„Ihr werdet beichten. Nicht mir, sondern der Priesterschaft. Es interessiert mich ab diesem Punkt nicht mehr, was Ihr getan habt, sondern nur das, was Ihr tun werdet. Ihr wisst, was der Eintritt in die Legion bedeutet? Eine Abwendung von allem, was eine Frau in Eurem Alter sonst erwarten kann. Ihr werdet nie den Mithrasbund eingehen. Ihr werdet nie ein Kind in Euch heranwachsen fühlen. Ihr werdet der Silendirer Kirche unter Seiner Seligkeit Hermeno Falkner mit aller Macht dienen, und nur ihr allein, nicht der alten Kirche in Servano mit ihrer weichen Auslegung des Mondwächterglaubens. Ihr werdet diejenigen bekehren, die diesem Unglauben anhängen und sie nicht stillschweigend dulden.“

„Ich weiß es. Ich will es.“

Lass mich verschwinden. Ich will Mithras‘ Wort in dieser Welt umsetzen. Ich will dem Herrn dienen, sonst nichts, sonst nichts, sonst nichts. Ich will in einer gesichtslosen Masse an Legionären untertauchen, ich will ein Gesicht haben, das keiner erkennt.

„Bewahrt Euch dieses Wissen. Von diesem Augenblick seid Ihr Anwärterin der Legion der Heiligen Kirche Silendirs. Beweist Euch, Marit Stein, und beichtet. Legt ab, wer Ihr wart und werdet, wer Ihr sein sollt. Es wird ein harter Weg, den Ihr gehen werdet. Erweist Ihr Euch als unwürdig, werde ich keinen Augenblick zögern, Euch aus diesen Mauern zu verbannen. Ich dulde keine Schwäche und ich dulde keine Rückfälle, kein Zögern und kein Zaudern.“

„Sehr wohl, Hochwürden Behringer.“

„Geht hinunter und meldet Euch bei Streiter Lantos. Er wird Euch Wehr und Waffe geben.“

„Sehr wohl, Hochwürden Behringer.“

„Anwärterin Stein?“

„Ja?“

„Erweist Euch als würdig.“
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#3
2. Hartung 1402 - WINTER

Der Schlafsaal war verwaist an diesem Wintermorgen, dem Vortag der Lichtwache, die seit Mithras‘ Erscheinen jenen Tag kennzeichnete, an dem landauf, landab Kerzen, Laternen und Fackeln entzündet wurden, um das Dunkel zu bannen. Mithrasgläubige aller Lehen suchten das Licht mit besonderer Aufmerksamkeit an jedem dritten Hartung, um die finsteren Mächte abzuwehren, die beständig im Hintergrund lauerten und die kleinste Lücke in der Wachsamkeit der Mithrasdiener nutzen würden, ihre garstigen Pläne zu verwirklichen. Hektische Betriebsamkeit hatte die Anwärter und Novizen an diesem Morgen erfasst, denn die Aufgabe, Lichtquellen im Tempel und um ihn herum aufzustellen, fiel wie immer ihnen anheim. Für die Feierlichkeiten am nächsten Tag sollte alles bereit sein, denn dann wollte man sich nicht mehr auf Geschäftigkeit konzentrieren, sondern auf seinen Glauben allein besinnen. Nur eine Anwärterin nahm nicht an dem allgemeinen Gewusel teil.

Auf dem Bett am zugigsten Fenster, das man traditionell den niedrigsten in der Rangfolge zuwies, saß eine gekrümmte Gestalt mit leerem Blick, die Hände neben sich aufgestützt. Zwar war der Schlafsaal elendiglich kalt und die Gestalt nur in ein dünnes Hemd gekleidet, doch zitterte sie weder noch schien ihr die ungenügende Kleidung überhaupt bewusst zu sein. Ja, man hätte fast den Eindruck gewinnen können, es hätten Blendbomben vor ihr explodieren können und sie hätte ihre Reglosigkeit dennoch beibehalten.

Niemandem war ihr Zurückbleiben aufgefallen. Niemand achtete auf das unbekannte Gesicht, auf diese Fremde, die spätnachts in den Schlafsaal gebracht worden war, am Arm geführt wie eine Blinde, von einem Wache haltenden Novizen, der sich auch im Dunkeln zwischen den zahlreichen Betten zurechtfand. Die übrigen Anwärter und Novizen waren zu sehr mit sich selbst und ihren gerade an diesem Tag überhand nehmenden Aufgaben beschäftigt, um sich um den Neuzugang zu kümmern. Die Obrigkeiten schließlich kannten ihr Gesicht noch nicht und wähnten die Schülerschaft vollständig.

So wusste kaum einer von ihrer Nacht im Beichtstuhl. Kaum einer außer Seine Gnaden Laurenz Falk, seines Zeichens Priester der Heiligen Kirche unter Hermeno Falkner.

Marit Stein hatte in ihrem Leben nicht viele Priester gekannt. Vor dem unerbittlichen, geradlinigen Vater Tjordan, der Hammerhalls Säule des Mithrasglaubens verkörperte, hatte es in der rauen Hauptsiedlung Nortgards einen sanften, jungen Priester gegeben, dessen weiche, nachgiebige Art für diesen Ort nicht geschaffen war. Er konnte leidlich gut erzählen und fühlte sich auf einer Kanzel wohl, räumlich säuberlich getrennt von den Gläubigen, möglichst weit ab von ihren Körpern, ihren Nöten, ihren Wünschen. Am glücklichsten war er aber vor einem Kaminfeuer, wo er sich die Augen beim Studium seiner Bücher verdarb. Er verblühte rasch, gleich einer Ähre, die vom Wintereinbruch überrascht wird und niemals zu voller Größe erwächst. Vater Tjordan hingegen war anders.

Er war Beichtvater, Richter und Urteilsvollstrecker in einem. Ihn „Vater“ zu nennen, schien nur natürlich. Niemand zeichnete das Sonnensymbol mehr nachlässig, niemand wagte es, den Namen des Herrn für einen Fluch in den Mund zu nehmen, wie es unter seinem Vorgänger der Fall gewesen war. Vater Tjordan passte nur zu gut an diesen Ort, diesen Kern Nortgards, an dem das Leben nur allzuoft in ein Schwarz oder Weiß eingestuft werden musste, weil es nicht anders ging. Man hatte entweder Feuer oder man hatte keines – dann erfror man eben. Man schuftete sich den Rücken krumm – oder verhungerte, wenn man auf der faulen Haut lag. Man wickelte einen Harnisch aus Fellen und Leder um sich, bevor man sich in die Schneewüsten des weißen Lehens begab – oder büßte mit Erfrierungen. Nortgard verzieh keine Nachlässigkeiten oder Schlampereien, keine Faulheit, keinen Sanftmut, und war darin Vater Tjordan nur allzu ähnlich. Er war es auch gewesen, der Yngvar und Marit durch seine Lehren auf rechte Pfade führte, als die Begierde füreinander sie hinfortzutragen drohte wie eine Flutwelle das kurshaltende Schiff. Dass Vater Tjordan zuletzt nicht mehr vermocht hatte, die beiden in ihre Schranken zu weisen, war ihm nicht zum Vorwurf zu machen. Er hatte die flammende Entschlossenheit von Liebenden, die jedes Verbot auszuhebeln wissen, das ihnen den Weg zueinander verbaut, wenn es auch noch so hehrer Natur sein mag, frappant unterschätzt. Als nüchterner, leidenschaftsloser Mann, der er war, fehlten Vater Tjordan auch die eigene Erfahrung und das Verständnis dafür, wie himmelschreiend schwach das Fleisch sein kann, wenn der Geist auch noch so unendlich willig ist.

1. Hartung 1402


Nachdem ihr Wehr und Waffe ausgehändigt worden waren und sie sich mithilfe einer enervierten Novizin, die diese niedere Aufgabe nur naserümpfend ausführte, in die Rüstung gezwängt hatte, hatte Marit Stein im Schatten einer Säule im Tempel verharrt, bis die letzten Gläubigen nach dem Abendgebet hinausgetröpfelt waren. Das „Sei mein Schild, oh Herr!“ der Gemeinde klang ihr noch in den Ohren in seinem Silendrisch fremden Singsang, tröstlich einerseits, weil sie die Worte kannte, befremdlich andererseits, weil sie anders betont wurden als zuhause, was sie beim Beten über die Silben stolpern ließ als seien diese Steine, die ein hämischer Geist zum Hohn ausgelegt hatte. Sich fremd im eigentlich Bekannten fühlen ist die pure, destillierte Einsamkeit.

So also fühlte es sich an, wenn man den Schritt tat von einer Chorsängerin zur Anwärterin der Legion Silendirs. Die Rüstung, obschon nur aus Lamellen gefertigt, schien ein Eigenleben zu haben und sie in die Knie zwingen zu wollen mit ihrem Gewicht. Während des Abendgebets konzentrierte sie sich vor allem darauf, diesen fremden Panzer zu beherrschen, der sie nun umschloss. Sie wollte die von Ordensmeisterin Behringer angeordnete Beichte nach dem Abendgebet hinter sich bringen. Es hatte keinen Sinn, Notwendiges unnötig hinauszuzögern. Die Ordensmeisterin hatte Beichte verordnet, und beichten würde sie, und zwar beim erstbesten Priester, den sie traf. Eine Beichte war, so hatte es sie die Erfahrung mit Vater Tjordan gelehrt, kein sinnlos langes Palaver. Vater Tjordan hatte Effizienz geschätzt und wollte von den Büßern direkte, gerade Sätze hören. Der Priester, der das Abendgebet gesprochen hatte, verharrte kniend vor dem Altar. Sie wusste nicht, ob er ihre Anwesenheit wahrgenommen hatte und entschied sich dazu, abzuwarten, bis er sein Gebet beendet hatte.

Es war nicht so einfach, sein Alter einzuschätzen, aber er zählte wohl an die vierzig Winter. Keiner der Priester, die Marit kannte, sah aus wie dieser. Sie waren Männer gewesen, denen man den Hang zum Sitzen ansah, die Liebe zu reichhaltigen Speisen, die den Körper als bloße Last empfanden, einen Klotz am Bein, der den Geist durch seine Bedürfnisse daran hinderte, sich zu voller Größe zu entfalten. Ohne die herrlich rote Robe, die ihn der Priesterschaft zuordnete, hätte man den Silendirer Priester leicht für einen Legionär halten können. Er bewegte sich zu agil, zu flüssig, um in Marits Schublade der Priesterschaft zu passen, der sie ruhige und langsame Gesten zuordnete. Der Eindruck eines kampfbereiten Soldaten vor Mithras wurde durch die neben ihm am Altar lehnende Klinge nur erhärtet. Erst als der Priester sich umdrehte und ins Kirchenschiff hineinblickte, kam Bewegung in die wartende Anwärterin. Ein herrischer Deut und ein geknurrtes Kommando beorderten sie nach vorne, während er sich den Waffengurt samt Klinge umband. Scheppernd trat sie vor, ungelenk in ihrer gepanzerten Haut, die nur weiche Stoffe gekannt hatte und gegen diese unwillkommene Änderung einer 25-jährigen Routine schon jetzt aufbegehrte. Die Rüstung scheuerte an Ellbogen und Knien.

„Tritt hervor, Kind. Was ist dein Begehr‘?“

„Mithras‘ Licht, Euer Gnaden. Ich will die Beichte ablegen.“

„So sei es. Dein Name?“

„Marit Stein, Anwärterin der Heiligen Legion Silendirs.“ Der Name, zum ersten Mal in diese neue Form gegossen, klang entsetzlich fremd und glitt ihr doch erstaunlich leicht über die täuschungsaffinen Lippen, leicht wie die fantastischen Schwindeleien, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen waren, wenn sie Yngvars Nähe suchte.

„Du lügst.“ Eine Feststellung, so schlicht wie entsetzlich wahr. Eh sie noch antworten konnte, riss sie ein schraubstockartiger Griff am Arm in eine mit kaltem Stein gepflasterte Kammer, vielleicht drei mal drei Schritt groß, fensterlos, verhangen mit schweren, blutroten Wandteppichen, deren Verankerung nicht auszumachen war. Eine geschickte Maßnahme, um Gläubigen den Eindruck zu geben, die blutroten Himmel über ihnen könnten jederzeit auf sie herabstürzen. Das einzige Möbelstück in dem beengenden Raum war ein Beichstuhl aus dunklem, fast schwarzem Holz. Die Hand des Priesters ließ sie los und wies einladend auf den Beichtstuhl, mit einer Selbstverständlichkeit als weise sie willkommene Gäste an, sich an eine reich gedeckte Tafel zu setzen.

„Warum lügst du?“ Jede Bewegung, die sie vollführte, war eine mechanische, schwerfällige. Die Rüstung erlaubte ihr nicht mehr, sich zu bewegen, wie sie es gewohnt war. Selbst Niederknien dauerte viel zu lange. Das dumpfe Geräusch, mit dem die Knie das abgenutzte Holz berührten, hatte etwas Endgültiges. Die Teppiche dämpften jedes Geräusch, das sonst nachgehallt hätte in der steinernen Kammer. Die Worte kamen stockend. Wenigstens die Türe stand offen. Sie versuchte, aus diesem Wissen Kraft zu schöpfen und sich auf die hereinströmende Frischluft zu konzentrieren. Der Priester hatte sich vor ihr aufgebaut, die Hände am Rücken übereinandergelegt, einem Feldherrn ähnlicher als einem Beichtvater.

„Dieser Name ist ein neuer. Er kommt mir noch schwer über die Lippen. Doch Lüge ist es keine. Ordensmeisterin Behringer erlaubte mir, den alten Namen abzulegen. Sie sagt, was ich war, zählt für sie nicht mehr. Ich soll..“ Sie richtete die Augen auf das alte Holz des Beichtstuhls, das schmal in Höhe ihres Kinns auf arme Büßer wartete, die einen Augenblick Erlösung suchen und geplagte Hände darauf ablegen mochten. „Ich soll ablegen, wer ich war und werden, wer ich sein soll.“

„Schöne Worte. Leere Worte. Wer warst du?“

Sie schwieg.

„Wer warst du?“ Die Worte kamen nur umso fordernder. Es war eine irre Hoffnung gewesen, zu glauben, dieser Priester würde sich mit den Worten begnügen, die der Ordensmeisterin gereicht hatten. Er tat einen Schritt nach vorn.

Das Schweigen kroch ihr aus jeder Pore und verdickte die Luft in dem Beichtzimmer zusehends.

„Ein letztes Mal: Wer warst du?“

Sie schloss die Augen. Die Schärfe seiner Frage durchtrennte die Stille mühelos, ein Messer durch allzu weiche Butter. Die zwei Namen krochen ihr über die Lippen als trügen sie einen unkontrollierbaren, wilden Zauber in sich eingekapselt, der die Macht hatte, die Welt aus den Angeln zu heben.

„Vigdis. Vigdis Stein.“

„Weißt du, was man in Silendir mit abgeernteten Feldern tut, Vigdis?“ Der Name, zurückgeschleudert, traf sie wie eine Ohrfeige.

„Ich stamme aus Nortgard. In meinem Lehen sind Felder rar.“

„Man brennt sie nieder. Die Asche ist der Dünger, aus dem die neuen Pflanzen erwachsen. Ohne sie wächst das Neue nicht. Warum graut dir vor deinem Namen?“

„Er birgt Vergangenheit.“

„Und du glaubst, weil du ihn ablegst, lässt sie sich verleugnen? Nur die Beichte vermag es, deine Not zu lindern. Die Buße. Die Einsicht. Das Gebet. Buchstaben für andere Buchstaben auszutauschen ist Augenauswischerei. Denkst du, Mithras kümmert dein Name? Das tut er nicht. Der Lichtbringer liebt die Wahrhaftigen, die nicht versuchen, sich vor seinem gleißenden, blendenden Licht zu verbergen, sondern ihn in jeden dunklen Winkel ihres Herzens lassen. Dein Name vertuscht gar nichts. Es ist der lächerliche Versuch des Bauers, der sich einen Helm aufsetzt und fortan Soldat nennt. Eine Posse nur, die niemanden überzeugt.“

Mit jedem seiner Worte schien die Rüstung ihr enger an den Leib zu wachsen, als habe sie im Sinne, das letzte Quentchen Luft zwischen Haut und Panzer zu verdrängen. Ein Trugbild, sie wusste es wohl in einem verständigen Winkel ihres Kopfes, doch sie fühlte, der Lamellenkragen wolle sie erwürgen und der Harnisch ihr den Brustkorb eindrücken.

„Helft mir. Vigdis kann ich nicht mehr sein.“ Ein bloßes Flüstern.

„Wer Hilfe sucht, wird Hilfe finden, denn der Herr ist groß und seine Macht unendlich. Ich werde diese Vigdis abschaben wie ein missglücktes Porträt von einer teuren Leinwand. Du magst dich hernach nennen, wie du willst. Es wird dich nicht mehr kümmern, aus welchen Buchstaben dein Name besteht.“

Damit schlug er die Tür ins Schloss.
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#4
14. Heuert 1402 - SOMMER

Ordensmeisterin Behringer tupfte sich verstohlen ein paar Schweißtropfen von der Stirne. Obwohl es erst zur sechsten Stunde geschlagen hatte, war es schon jetzt gänzlich windstill und drückend heiß. Draußen zu sein war zu dieser Stunde noch nicht ganz so grässlich. 
 
Dieser Sommer war erbarmungslos. Flirrende Hitze beherrschte spätestens ab der zehnten Morgenstunde den Kampfplatz, auf dem das Gras mittlerweile zu Heu verbrannt war. Keine einzige grüne Stelle war mehr darauf zu erspähen. Die Luft war staubig schwer, denn auf den nahen Feldern brachten die Bauern das staubtrockene Heu ein und wirbelten unablässig feine Staubkörner auf, die Nasen und Kehlen verstopften. Das war der Grund, warum Behringer die Übungseinheiten der fünf Anwärter vorverlegt hatte.
 
Sinnierend betrachtete die Ordensmeisterin ihren Nachwuchs. Die Stille des Morgens wurde von seinen mehr oder minder angestrengten Rufen und dem Klirren zahlreicher Waffen gestört. Potential steckte in jedem Einzelnen von ihnen, aber noch schlummerte es in so manchem träge vor sich hin und widersetzte sich den entschlossenen Versuchen der Ordensmeisterin, es aus seinem Versteck zu reißen. Noch war die Zeit nicht gekommen, zu der man hätte sagen können, die Anwärter wären gefestigt und bereit, in einen höheren Rang versetzt zu werden. Jeder von ihnen hatte offensichtliche, himmelschreiende Schwächen, die das verboten. Diese Erkenntnis trieb, wenn es auch keine überraschende war, Behringer abermals die Schweißperlen auf die Stirne. Unwirsch fuhr sie sich mit dem schon feuchten Tuch über Gesicht und Igelschopf. Wie an so vielen Morgen nahm sie auch an diesem eine Inventur vor. Fünf Anwärter. Sie hätten gänzlich unterschiedlicher nicht sein können.
 
Ihr Neffe barg, das ließ sich auch ohne den mildernden Blick einer Tante sagen, das meiste Potential. Behringer wusste um den Spottnamen, den die Sonnenlegionäre dem Kind ihrer Schwester verpasst hatten. Die gesamte Legion nannte Aurel Behringer den Goldjungen. Er trug den Namen wie eine Krone. Aurel war, da machte Behringer sich nichts vor, der Sohn, den sie gerne gehabt hätte. Seine Eltern verstanden nicht, wie aus der Vereinigung zweier hochgeistiger Menschen, deren größte Freude es war, Texte zu zerpflücken, dieses kampflüsterne Geschöpf hatte erwachsen können. Überfordert mit den Wünschen des Sprösslings, der sich gegen jegliche Versuche, ihn an ein Buch zu ketten, sträubte, hatten sie Gesine Behringers Unterstützung erfleht. Manchmal beschlich sie das Gefühl, ihre Schwester machte ihr nun das Ausmaß dieser Unterstützung zum Vorwurf. Doch damit ließ es sich leben. Lieber ertrug sie das angespannte Verhältnis zu Aurels Mutter, als dass sie dieses Geschenk Mithras’ aufgeben hätte wollen. Schon als sie ihren Neffen das erste Mal gegen ein gleichaltriges Kind hatte kämpfen sehen, war ihr klargewesen, dass sein Weg untrennbar mit der Legion verknüpft würde sein müssen. Er besaß eine quirlige Wendigkeit und ein natürliches Geschick, eine Waffe zu führen, die kein rigoroses Training hervorrufen kann. Die tänzelnde Leichtigkeit, mit der er das andere Kind über die Wiese trieb, ließ einen vergessen, dass er eine Waffe führte. Für ihn schien jede Bewegung nur ein herrlich leichtes Spiel zu sein. Aber er war kein bloßer Haudrauf. In Aurel Behringer schlummerte auch der Denker, den seine Eltern gerne zu voller Blüte erwachsen hätten sehen. Er tendierte zur Grübelei, wenn man ihn von der Kandare ließ. Ein Fehler, den seine Tante zu vermeiden suchte, indem sie ihm regelmäßig die aufwendigsten Aufgaben zuschanzte, die ihre Liste hergab. Niemals beschwerte sich der Neffe darüber, denn schon zu Beginn seiner Anwärterschaft hatte Behringer in einem ruhigen Moment seine Schultern umfasst und ihm erklärt, er würde zweimal so gut sein müssen wie alle anderen, um es in der Legion zu etwas zu bringen. Sein Nachname erforderte das. Sie sagte ihm zwar nie direkt, was dieses Etwas war, doch hatte Mithras den jungen Mann mit genug Verstand gesegnet, um ihn erkennen zu lassen, dass sie ihn als Nachfolger erzog. Goldjunge – kein Name hätte passender sein können. Noch war er ein stiller Kronprinz, der sich nicht in den Vordergrund spielte oder seinen Nachnamen bei den Gleichgestellten ausnutzte. Er schien es zufrieden, eine strengere Behandlung als die übrigen Anwärter zu erfahren. Doch schon in jungen Jahren schlummerte in dem jungen Mann eine ruhige Autorität, auf die selbst altgediente Novizen verblüfft reagierten. Soviel Behringer wusste, ließ man Aurel bis auf den Spottnamen in Ruhe und akzeptierte den Anwärter weitgehend für seine eigenen Errungenschaften. Ein Umstand, der nicht zuletzt dem diplomatischen Talent ihres Neffen geschuldet war. Den Goldjungen mochte man in der Legion, was ganz allein sein Verdienst war. Er war tiefgläubig, betonte diese Haltung aber nicht unablässig, sondern zeigte durch Taten seine leidenschaftliche Hingabe zu Mithras. Er hatte meist die Oberhand in den Kämpfen der Anwärter, brüstete sich aber nicht mit seinen Siegen. Und nicht zuletzt hatte Mithras ihn mit einem passablen Äußeren und einem Schock blonder Haare gesegnet, die ihm auch ganz ohne rhetorische Künste noch oft Türen öffnen würden. Ja, Gesine Behringer glaubte von ganzem Herzen an ihren Neffen. Und das war seine größte Schwäche, denn das Damoklesschwert der Bevorzugung würde immer über ihm schweben.
 
Der taxierende Blick der Ordensmeisterin glitt zu den Geschwistern Ruthe. Es kostete sie alle Mühe, ihren Stoßseufzer zu unterdrücken. Während Pentos Ruthe der Inbegriff des tumben Waffennarrs war, hielt seine Schwester nach vier Monden in der Legion ihr Schwert immer noch wie einen ekelhaften Fremdkörper, der durch einen gemeinen Schicksalsschlag in ihre manikürte Hand geraten war. Behringers Vorstellungen von der Ausbildung der beiden involvierte eine geballte Ladung Theorie- und Benimmunterricht für Pentos und einen beherzten Stiefeltritt in Richtung Nähstube für Philomena. Ein Adliger mit beträchtlichem Einfluss und zahllosen Verbindungen hielt seine schützende Hand über das Geschwisterpaar, dessen Eltern neureiche Silendrische Kaufleute waren.
 
Behringer wich den Eltern Ruthe weiträumig aus, wenn sie ihrer auf Turnieren oder Festen ansichtig wurde. Beide waren elende Angeber, schrill, laut, unendlich eitel und gänzlich raumgreifend. Sie trugen Edelsteine an jedem Finger und ließen ihre Schneider Goldfäden in die Gewänder nähen. Sollte Guldenach einmal an Kerzennot leiden, könnte man diese beiden am Marktplatz festbinden und als schillernde Lichtquellen nützen. Die Erziehung von Pentos und Philomena zu brauchbaren Novizen hatte damit begonnen, ihnen die Ansicht, sie wären spezieller als die anderen, Stück für Stück zu nehmen. Mehr als bei allen anderen war bei diesen beiden notwendig, keine Ausnahmen gelten zu lassen. Behringer achtete penibel darauf, ihnen mindere Aufgaben zu übergeben. Wenn es galt, den Stall auszumisten, die Latrinen zu leeren oder im Winter die Bettlaken am Fluss zu waschen, standen die Geschwister Ruthe todsicher in vorderster Reihe. Ja, sie mochten mit essigsauren, entsetzten oder grünen Gesichtern dort stehen, aber so wahr Mithras Behringer half, dort standen sie. Die beiden würden niemals Großes tun. Aber es war noch Raum zur Entwicklung vorhanden. Pentos würde ein Mindestmaß an Etikette erlernen, aber seinen Mangel an Umgänglichkeit mit seiner Kampffähigkeit wettmachen können. Philomena würde es vielleicht nie zu mehr als einer leidlich guten Legionsschneiderin bringen nach ihrer Grundausbildung, aber auch die Legion will gekleidet sein. Sie würden nie gut genug sein, aber zumindest besser als jetzt. Und sie hatten einander. Wie diese Symbiose funktionierte, entzog sich Behringers Verständnis, aber sie vertraute in diesem Punkt auf den Lichtbringer, der gewiss wusste, warum er diese beiden an denselben Ort geführt hatte.
 
Talpa Ulat schickte einen Bolzen in die Mitte der Novizen und stand, wie so oft, verloren am Rand. Man hatte es in Silendir wahrlich nicht leicht, wenn man aus Hohenmarschen stammte wie die schmale, kleine Gestalt am Rand des Sandrechtecks. Anwärterin Ulat hatte ein Händchen dafür, aus dem Blickfeld zu verschwinden. Zwar trug sie das Rot der Legion und hätte dem Auge sofort und überall auffallen müssen, aber sie hatte ein enervierendes Talent dafür, mit der Wand eins zu werden, weil sie jegliche Aufmerksamkeit scheute wie der Dämon das Sonnensymbol. Behringer verdächtigte sie anfangs, Hexerblut in sich zu tragen, musste aber nach einer Weile einsehen, dass Talpa Ulat einfach zu lange dem Dunst der Sümpfe ausgesetzt gewesen war. Tarnen und Täuschen war so natürlich für dieses unauffällige, seltsam geschlechtslose Wesen wie Atmen. Während die Ruthes gern einmal versuchten, Messen zu schwänzen, saß Talpa Ulat verlässlich wie ein Uhrwerk zu jeder Messe an derselben Stelle am Rand der dritten Bank – natürlich so nah an der Wand wie möglich. Wenn sie eine Unze Menschenkenntnis oder Selbstbewusstsein besessen hätte, hätte womöglich eine Priesterin aus ihr werden können. Ihre Fähigkeiten im Fernkampf waren beträchtlich, was ihr allerdings im Umgang mit anderen Menschen auch wenig half. Da nützte es wenig, dass sie scharfe Augen hatte und auch als großer Distanz das Auge der Zielscheiben traf. Zunächst hatte sie versucht, sich wie ein Schatten an Aurel zu heften, der zwar keine harschen Worte nutzte, um die Anwärterin abzuschütteln, aber über dieses Verhalten auch nicht in Jubelschreie ausbrach. Es war ihm eher peinlich, auf Schritt und Tritt von der sanften Anwärterin verfolgt zu werden. Lieber suchte Aurel die Nähe erfahrenerer Novizen, mit denen ein Gespräch eher zu finden war als mit der lethargischen Talpa Ulat, die am liebsten am Rand saß und den anderen lauschte. Neuerdings machte Anwärterin Ulat Anstalten, in Behringers Sorgenkind eine Freundin zu finden. Ein sinnloses Unterfangen. Marit Stein wies Freundlichkeiten ab als sehe sie in ihnen einen Versuch, sie zu kränken.
 
Novizin Stein war zum zehnten Mal in den Sand geflogen und stand zum zehnten Mal wieder auf. Was ihr an Erfahrung fehlte, machte sie durch rigorose Sturheit wett, mit der sie Pentos Ruthe zur Weißglut trieb. Immer wenn der bullige Anwärter dachte, nun sei der Kampf geschlagen, stemmte Anwärterin Stein sich wieder hoch. Behringer sah sie gefährlich schwanken und bedeutete Pentos Ruthe mit einem Ruf, es sein zu lassen. „Das reicht. Trinkt!“, erschallte ihr Kommando. Philomena Ruthe hatte sich schon zuvor am Rande des Kampfplatzes positioniert, um nur ja die Erste am Brunnen zu sein. Talpa Ulat würde wie immer als Letzte zur Labstelle gelassen werden. Wie eine Tierherde wies auch jede Menschengruppe Anführer auf, freche Vordrängler und solche, die lieber hinterhertrabten, als selbst Entscheidungen zu treffen.
 
Anwärterin Stein passte in keine dieser Schemata. Mehr als zu Beginn ihrer Anwärterschaft war sie Behringer ein Rätsel. Die Stärken und Schwächen der Übrigen offenbarten sich nach kurzer Zeit. Diese Anwärterin aber verbarrikadierte sich zusehends und ließ Behringer nicht hinter die Fassade blicken. Was ihr aber tatsächlich noch mehr Unbehagen bereitete als die Steinsche Schweigsamkeit, war die Nähe der Anwärterin zu Seiner Gnaden Laurenz Falk. Der Priester hatte ein unnatürliches Interesse an Behringers Anwärterin entwickelt. Gesine Behringer glaubte nicht an ein unsittliches Verhältnis. Die Zeichen sprachen dagegen. Zunächst einmal gab es natürlich nichts, was es nicht gab. Verbindungen, die von beiden Seiten mit Vergnügen aufrechterhalten wurden. Verbindungen, in denen einer Macht ausübte und der andere sich fügte, weil er glaubte, dazu gezwungen zu sein. Verbindungen, die aus schierer Langeweile entsprangen und solche, in denen wenig Zuneigung herrschte, sondern die den fleischlichen Schwächen selbst geschuldet waren. Nichts aber im Verhalten der Anwärterin und des Priesters deutete auf so ein Verhältnis hin. Niemand trug verräterisch hohe Krägen, niemand einen Glanz in den Augen – und Anwärterin Steins Bauch zeigte sich nicht gerundet. Vielmehr nahm sie zusehends weiter ab und wirkte hagerer als beim Eintritt in die Legion. Hinter Falks Zuwendung schlummerte etwas anderes. Er verordnete Anwärterin Stein jeden Abend, ihn aufzusuchen. Behringer hätte es ihm am liebsten verboten. Nicht nur, dass diese Treffen in den anderen Anwärtern Neid hervorriefen, weil eine unter ihnen mehr Aufmerksamkeit erhielt als die anderen – sie sorgten auch für Getuschel. Den Anwärtern und Novizen fehlte Behringers Erfahrung und viele kümmerten die mangelnden Zeichen nicht. Das Gerücht, Anwärterin Stein sei Falks Gespielin, hielt sich hartnäckig. Sie tat nichts, um es zu zerstreuen. Bei Mithras, wahrscheinlich scherte es sie auch keinen Deut.
 
Behringer wusste nicht, was sich in der Beichtkammer abspielte. Sie sah nur Steins Schatten unter den Augen, wie sie sich einkapselte und absichtlich Abstand zu den Kameraden suchte. Eines Abends hatte sie Falk aufgesucht, bevor Anwärterin Stein in die Kammer kam. Behringer traf Falk stehend an, mit dem Rücken zur Türe. Er drehte sich nicht um, als sie die rauchgeschwängerte Kammer betrat und ein Husten unterdrücken musste.
 
„Ich weiß nicht, was Ihr hier tut und habe lange mit mir gehadert, ob ich Euch darauf ansprechen soll. Niemand mag Einmischungen, weder schätzt die Priesterschaft es, wenn sie von Legionären belehrt wird, noch jubelt die Legion, wenn die Priester sich in ihre Belange mischen. Ihr aber ignoriert diese Grenzen beharrlich seit Wochen. Aber lasst Euch einen Rat geben. Ich habe den Eindruck, Ihr wollt Euch ein Schoßhündchen erziehen. Lasst das bleiben. Ich bin sicher Ihr findet einen Anwärter der Priesterschaft, der Eure Aufmerksamkeit zu schätzen weiß.“
 
Falk wendete ihr weiterhin nur sein breites Kreuz unter der Robe zu. Erst nach ein paar langen Herzschlägen wandte er sich um, die Augen gerötet vom Rauch in seinem Refugium. Sein Blick war dennoch klar, fast verächtlich in seiner Überheblichkeit.
 
„Ihr missversteht, Ordensmeisterin. Ich will kein Schoßhündchen. Sie wird eine Bestie für Mithras, die sich von keiner schwachen Haltung an die Leine legen lässt. Ich merze ihre Schwächen aus, eine nach der anderen. Wie ich das tue hat Euch nicht zu kümmern. Seht sie als Geschenk für die Legion an, wenn sie.. fertig ist.“
 
Behringer bereute den Vergleich sofort. Damit hatte sie ihm eine Tür aufgestoßen, die besser geschlossen geblieben wäre.
 
„Mit Verlaub – Eure Wortwahl ist abscheulich. Wir sprechen immer noch von Menschen, die uns anvertraut wurden, keiner.. Hundezucht. Ich sage es Euch nur einmal. Unterlasst Eure Zuwendungen und respektiert die Ränge.“
 
 
„Hermeno Falkner wird mich in den Stand eines Erzpriesters erheben, Gesine. Schon in wenigen Tagen. Dann sind wir gleichen Standes. Wenn du es wünschst, soll die Anwärterin der Beichtkammer solange fernbleiben. Es wird sich um drei, vier Tage handeln. Genieße deinen...“ Sie hörte das aalglatte Lächeln in seiner Stimme, bevor sie es sah. „... Sieg.“
 
Behringer drehte wortlos um und schloss die Tür geräuschlos. Das aschige Gefühl der Niederlage stieg der Ordensmeisterin von den Zehenspitzen bis in den Scheitel. Sie hatte es versucht.
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#5
15. Heuert 1402, Tag der Ankunft (Sommer)

Eine Stimme unterbrach ihre Schritte, als sie kurz vor der 8. Stunde im Begriff war, den Tempel zu betreten.

„He, Steinchen! Wir haben Order, die Fässer dort runterzubringen. Is’ noch Platz am Wagen, setz dich dazu! Die Behr.. die Ordensmeisterin lässt dich sicher, wenn de lieb fragst! Pack mal aus die heiße Liebe, eh?! Oder sparst de die nur für andere auf?!“ 

Langsam drehte sie sich um. Talpa, die blasse Hohenmarschner Sumpfblüte, saß hinter Ruthe und piepste unglücklich, halb verdeckt von dem Störenfried, der eben mit beiden Armen winkte, etwas wie „Nenn sie doch nicht so, Pentos!“

Der Tag der Ankunft war für alle Mithrasgläubigen ein spezielles und ein ausgelassenes Fest, aber das Anwärtergrüppchen hatte in diesem Jahr den Feierlichkeiten ganz besonders entgegengefiebert. Wer klug war, beklagte sich zwar nicht über die getaktete Zeit und die festen Rituale, die eine Vereinigung von Mithrasdienern in Silendir fest im Griff hielten, doch hatte die Sehnsucht nach Unterhaltung und Abwechslung auch in den Klugen zu wuchern angefangen. Ein Theaterstück sollte es anlässlich des Fests sogar in Guldenach geben! Eins mit ganz neuen Moden, munkelte man. Eins, in dem die Schauspieler mit dem Publikum spielten. Seit Tagen schon war dies das einzige Gesprächsthema, das den Schlafsaal beherrschte, wenn die Kerzen ausgingen. Manch einer spekulierte gar entzückt, der lehensübergreifend bekannte Barde Irik Schönaug aus Löwenstein wäre heimlich nach Silendir gereist und spiele den grimmigen Bösewicht des Stücks. Die Abendunterhaltung gestaltete sich ansonsten gänzlich anders für die Anwärter. Von Theaterstücken war da keine Rede. Für gewöhnlich studierte man, hielt Wache oder probierte untertags erlernte Manöver auf dem Kampfplatz aus, bis die Nacht den Tag verschlang und dies nicht mehr möglich war, weil es zappenduster wurde. Kaum einmal bot sich die Gelegenheit für die Jugend des Tempels, Guldenach, das wild pochende Herz Silendirs, zu besuchen.

Ordensmeisterin Behringer wachte wie ein Schießhund über die Ausgänge der Jugend und goutierte keine Vergnügungssucht. Es gingen Geschichten von entfleuchten Schützlingen um, die sich in den weniger respektablen Vierteln Guldenachs verlaufen hatten und förmlich von ihnen verschluckt worden waren. Da, wo Kartenspieler, Trunkenbolde, Diebesgesindel und leichte Mädchen sich die Klinke in die Hand gaben – wenn es denn überhaupt noch eine Klinke gab, die noch nicht für einen schimmligen Laib Brot veräußert worden war. Nein, Behringer hütete ihre Schützlingsschar wie ihre Augäpfel – aber gegen einen Tag der Ankunft hatte selbst eine Ordensmeisterin nichts aufzubringen. Zwar hatte sie am Morgen noch eine feurige Rede über angemessenes Benehmen der Legionsanwärter in der Öffentlichkeit geschwungen, die ganz gewiss nicht umsonst für diesen Tag aufgespart worden war, doch bis zum Abend war der Effekt bei so manchem schon wieder verflogen. Pentos musste die letzten Gedankenfetzen an die Rede, die ihm womöglich noch durch seinen leeren Schädel wehten, im erstbesten Metfass ertränkt haben.

Sein rotes Gesicht und das gar zu feixende, breite Grinsen auf den grobschlächtigen Zügen ließen jedenfalls darauf schließen, dass er einen über den Durst getrunken hatte. Die Mitanwärter versuchten ihn durch Augenrollen, heftige Pscht-Zischer und gezielte Boxschläge gegen die Arme zum Schweigen zu bringen – vergebene Liebesmüh jedoch, denn die Stimme des Anwärters schallte weiterhin ungebremst und marktschreierisch über den Tempelvorplatz. Durch seinen erhöhten Sitz am Kutschbock wurde die akustische Dämpfung nicht gerade besser – eher das Gegenteil. Es war nur eine Frage der Zeit, bis einer der Ehrwürden Wind von dem Radau bekam. Die Novizen, die an den Tempeltreppen Wache hielten, blickten sich schon nervös um. Pentos Ruthe aber war in seinem Element – endlich durfte er wahrhaft einmal die Zügel in der Hand halten, wo er sonst doch der unterste in der Rangordnung war, endlich einmal einen Wagen mit zwei leidlich temperamentvollen Pferden lenken, sie richtig laufen lassen, und für einen Abend lang endlich einmal allzu strengen Augen entfliehen, um sich in Guldenach zu vergnügen – und das alles unter dem Segen der Obrigkeit!

Marit entschloss sich für die bisher wirksamsten Strategie gegen Kontaktversuche: Ignoranz. Begleitet von einem abschließenden Blick, der, wie sie hoffte, Eiseskälte und Abweisung transportierte, wandte sie sich von der fleischgewordenen Penetranz ab, hin zu den Tempeltoren, die gleichzeitig Abwehr vor Mithras’ Feinden sowie Schutz für seine Gläubigen versprachen. Die mächtigen Torflügel des Tempels ließ sich allerdings nicht so leicht öffnen. So erklangen die Rufe des trunkenen Kampfklotzes weiterhin in ihrem Rücken, während sie sich gegen die Tore stemmte, wenn sie sich auch noch so viel Mühe gab, sie zu überhören. Warmer Sommerwind stahl sich in die düstere Kühle des abendlich dämmrigen Tempels, als die Flügel endlich offenstanden, und vermengte sich mit der kaltgewordenen, wachsschwangeren Luft, während die Anwärtertin weiterhin im Torrahmen stand, dem Platz den Rücken zudrehte und sich in der schwierigen Lektion der Gleichgültigkeit übte, während sie sich Pentos als Boxsack vorstellte.

„Komm schon, sei nich’ so! Falk muss es ja nich’ wissen! Siehst ihn eh jeden Abend! Kannst ja mal schwänzen, eh?! Das macht das Kraut schon nicht fett! Macht den Stein schon nich’ weich. Hehe. HEHE! Lächel mal, eh! He, Steinmadam, red doch mal mit uns! Mach schon, schau mal freundlicher! Für Mithras, eh?! Mithras will dich lachen seh’n, he-ho, he-ho!“

Irgendjemand besaß die Geistesgegenwart, dem fröhlich brüllsingenden Anwärter die Zügel aus der Hand zu reißen und den Fasstransport endlich zu beginnen. Pentos’ Aufmerksamkeit schwenkte auf ein anderes Spiel um und er versuchte, die anderen zu animieren, es ihm gleichzutun und den Wagen durch heftiges Hüpfen zum Schwanken zu bringen.

„Wer nicht hüpft, ist Mondwächter, eh-o, eh-o!“

„Der bringt uns noch in Dämons Küche mit seinem idiotischen Geschwätz!“

Ein mehlsackschweres Plumpsen. Vorsichtiges Spähen nach hinten sprach vom abrupten Niederfallen eines schweren Körpers. Fernes Hufgetrappel kündete von dem zunehmenden Abstand, den der Wagen zum Tempel gewann. Endlich Frieden. Sie atmete aus.

„Der Abyss sind immer die anderen“, hatte Yngvar ihr einmal zugeraunt, einen Herzschlag nachdem die Tür ins Schloss geworfen worden war und Vater sie beinahe in der abgelegenen Blockhütte am See ertappt hätte. Er war früher als gedacht von einer Reise zurückgekehrt. Im letzten Moment hatte Yngvar seine Schritte gehört, die herumliegenden Kleider hastig gepackt, die Schwester in die Ecke gezogen und sich mit ihr an die Wand gedrückt. Sie hatten hinter der Tür gestanden, als Vater diese urplötzlich aufgerissen hatte – wie in einem schlechten Groschenroman. Marit, gerade einmal mit einer rasch übergeworfenen Decke bekleidet, hatte die Hände auf den Mund gepresst und sich verzweifelt in die Handinnenfläche gebissen, um nicht die Beherrschung zu verlieren und sich durch ein Auflachen zu verraten. Gelächter war ihr in der Kehle hochgestiegen wie Sprudelwein. Man nutzte die Hütten am See für Nortgarder Bäder – Sprünge in ein ausgeschlagenes Eisloch, die man nur überstand, wenn man vorher lang genug auf den Holzbänken geschwitzt hatte. Vater glaubte an die heilende Kraft der Schwitzhütte und predigte gerne von ordentlichen Nortgardern, die sie regelmäßig aufsuchen sollten, um sich zu stählen. Damit meinte er allerdings: in entsprechend großer Gesellschaft. Sie hörten ihn unwillig aufschnaufen, als er den Holzschwund bemerkte – Resultat der ausgiebigen Stählungsversuche der Tage zuvor. Die Tür schlug wieder zu. Ein sich entfernendes Stapfen verriet die Absicht des Vaters, neues Holz schlagen zu gehen und war die Rettung.

Der Abyss sind immer die anderen. Er schlummerte aber auch in einem selbst. In Momenten wie diesem, Momenten, die sie unerwartet überfielen, weil sie abgelenkt war – von Pentos, von straßenköterstreunenden Gedanken, von Tatenlosigkeit – schlug sie ein Band zu einem Wesen, das nicht mehr existieren durfte. Es nutzte niemandem und niemand brauchte es: das war der Kern der allabendlichen Begegnungen mit Falk. Kein Name. Keine Vergangenheit. Keine Angreifbarkeit. Ein gebetsmühlenhaftes Wiederholen einer Litanei, an die sie sich klammerte, weil sie Rettung versprach, die die Vergangenheit ihr nicht geben konnte. Und dennoch – der Geschmack der Erinnerung blieb ihr abyssalisch süß am Gaumen kleben, gleich einer klebrigen Frucht, die ihren Zenit überschritten hat. Wie kriecht man aus der eigenen Haut und verbietet sich das Denken? Indem man Muster findet, die es umformen.

„Wer sucht nach dir?“

„Niemand.“

„Was bist du?“

„Der Schild des Herrn, das Schwert des Herrn.“


„Wer sucht nach dir?“

„Niemand.“

„Was bist du?“

„Der Schild des Herrn, das Schwert des Herrn.“


Das Spiel von Ruf und Antwort kannte sie nur zu gut. Chöre nützen es gerne für Effekthascherei. Einst hatte sie selbst den Ruf vorgegeben:
 
Hebe deine Augen auf. Zum Elysium. Von welchem dir Hilfe, dir Hilfe kommt.
 
Leise mussten die anderen Stimmen einsetzen, um sich dann in einer dramatischen Spirale hochzudrehen und in der Wiederholung bei „Elysium“ förmlich zu jubeln.
 
Deine Hilfe kommt vom Herrn. Der uns alle von Knechtschaft befreit hat.
Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen.
Und der dich behütet, schläft nicht
Der dich behütet, schläft nicht
Er schläft nicht
 
Hier war es ein anderer, der rief. Ihre Aufgabe war es, dem Ruf zu folgen. Was bist du? Nicht: Wer bist du?
 
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#6
15. Heuert 1402, später (Sommer)

Vor sich hindämmernde Stille hatte sich über das stolze Trutzgebäude gegen empörende Gottlosigkeit und verstaubten Vielgötterglauben gelegt wie eine dicke Glasglocke, die jeden Anflug von Weltlichkeit auszusperren vermochte und jedes Geräusch schluckte – kein Vogelzwitschern, kein Blätterrascheln, keine ausgelassenen Rufe der feiernden Bevölkerung Silendirs durchdrangen die steinernen Mauern des Tempels und störten die beiden Mithrasdiener in ihrem abendlichen Ritual. Die Natur hatte genauso wenig einen Platz innerhalb dieser Mauern wie die schwachen alten Götter der Mondwächter, so wenig wie Sündhaftigkeit und wie Überfluss.

„Ich bereue.“ Die Stimme war zum heiseren Krächzen geworden nach drei Stundenläufen in Falks Beichtstuhl.

Der Tempel zeigte sich gänzlich verwaist an diesem 15. Heuert, denn jeder, dessen Beine ihn, gleich wie, zu tragen vermochten, feierte das Fest der Ankunft in Gesellschaft, im brodelnden, religiös euphorisierten Guldenach, dort, wo man sich durch die Straßen schieben lassen musste, weil es sonst kein Durchkommen gab. Wo die Fachwerkshäuser in manchen Straßenzügen an den Giebeln einander zuzunicken schienen und man sich fragen musste, welche verirrte Seele es für eine grandiose Idee gehalten hatte, Häuser so hoch zu bauen, dass der Himmel aus ihren Erdgeschoßen nicht mehr zu erspähen war. Wo olfaktorische Attacken die Nase betäubten und die Sinne verstörten. Beißender Rauch, von den Freudenfeuern, die an jeder Ecke loderten, schlängelte sich natterngleich und listig noch durch die schmalsten Gassen, vermengte sich dort mit einer Wolke aus Schweiß und einem allgegenwärtigen Bratfettgeruch, der empfindliche Menschen an die Ränder der Menschenschlangen trieb, wo sie sich dankbar übergaben. Strahlendes Mithrasrot ließ die Massen, die sich erfolgreich durch die Straßenschläuche gekämpft hatten und an Guldenachs prunkvollen Plätzen zusammendrängten wie das Mastvieh vor der Schlachtung, wie ein wogendes Meer aus Blut erscheinen. Man munkelte, so manch einer wäre schon in traumgleiche, entrückte Zustände verfallen, berauscht von den dort gemeinsam gesprochenen Gebeten, die durch ihr mühlsteinartiges Wiederholen einen Rhythmus erzeugten, der wie ein Sog wirkte. Andernorts wurden mittelmäßig begabte Theaterschauspieler bejubelt, frenetisch Hymnen gesungen und Becher aneinandergedroschen. Alles im Sinne von Mithras, alles im Sinne einer Huldigung. Marit dankte dem Herrn, es nicht miterleben zu müssen, sich nicht klebrig von den verschwitzten Unterarmen anderer lösen zu müssen, keinen Gemeinschaftssinn vortäuschen zu müssen, keinem Kind die Hand auflegen zu müssen, weil die Mutter sie dazu drängte. Es war Geselligkeit, die man suchte, um die Befreiung der Menschen aus der Sklaverei zu feiern. Geselligkeit, die Marit fremd geworden war. Sie suchte sie nicht, denn das allabendliche Ritual mit Falk bot ihr so viel mehr. Vergessen. Auslöschung. Sicherheit. Erlösung.

„Bereust du deine Sünden, Anwärterin?“

„Ich bereue.“

„Widersagst du den sündhaften Gedanken an dein vormaliges Leben?“

„Ich widersage.“

„Schwörst du, dem Herrn Schwert und Schild zu sein?“

„Ich schwöre.“

„Du lügst. Bereust du deine Sünden, Anwärterin?“

Ihr Kopf fühlte sich wie eine Schüssel zerstampftes Rübenmus an, und während Falk sein Trommelfeuer an Fragen nur wisperte, aus einer Ecke die kniende Anwärterin beäugend wie ein Luchs die Beute aus dem Unterholz, war sie angewiesen, ihre Antworten zu brüllen. Auf diese Weise ließ sich das Spiel von Ruf und Antwort für ihn weitaus länger ohne Nachteile fortsetzen. Sie hingegen büßte ihre Stimme schon nach kurzer Zeit an, was die Antworten quälend gestaltete, denn am liebsten hätte sie es ganz vermieden, auch nur einen einzigen weiteren Ton von sich zu geben. Das aber war der Sinn und Zweck der Übung – Befehlen zu folgen lernen, auch wenn der Instinkt es verweigern wollte. Sie sah das ein.

Immer immer und immer endeten ihre Beteuerungen mit seinem peitschenartig hingeschnalzten „Du lügst“. Sie verbat sich anfangs, anzuerkennen, was der Verstand ihr zu sagen versuchte: der Erzpriester empfand Vergnügen bei diesen Übungen, den gebetsmühlenhaften Wiederholungen, den herausgewürgten Beichten. Ihr Auge sah es an dem fixierten Blick, den weiten Pupillen, an seiner vorgeneigten Haltung, wie er nur darauf wartete, bis die Stimme sie verließ, an seinem Elan, der jedes Wort geifernd umkleiden wollte, obwohl er sich den Anstrich der Neutralität und erhabenen Sachlichkeit so gern geben wollte. Marit Stein kannte den Mann wie ihr eigenes Spiegelbild. Abend für Abend widmete er sich der Anwärterin und übersah in seinem frenetischen Eifer, aus ihr ein tödliches Instrument des Herrn ohne Fehl, Tadel und eigenen Willen zu formen, dass er nicht der Einzige war, der lernte. Er war derjenige, der sie anhielt, auszusprechen, wofür sie zuvor keine Worte gefunden hätte und finden hatte wollen. Er war derjenige, der Aufzählungen vergangener Freveltaten einforderte, derjenige, der ans grelle Licht zerrte, was sie gerne in den dunklen Winkeln ihrer Seele vor jedem schockierten Blick und jedem urteilenden Wort verborgen gewusst hätte, der sie nacherzählen ließ, in welch verderbte Tiefen Yngvar und sie abgestiegen waren. Doch auch sie hatte Augen, und sie hatte Ohren. Zwar erreichten ihren Geist keine Beichten aus Falks Leben, doch er nahm jedes missbilligende Zischen des Erzpriesters auf und sortierte es ein, er merkte sich, was diesen Mann besonders empörte, wann seine Augen eng und feindselig wurden, er kategorisierte und er prüfte. Zwar wurden ihr keine seiner Sünden gebeichtet, doch sie las in seinen Zügen, wie die der anderen ihn belebten. Es störte sie nicht, denn er tat Mithras’ Willen an jedem einzelnen Abend in dieser Beichtkammer. Die Ordensmeisterin war verblendet, das nicht zu erkennen.

„Was sagt die De Ecclesia über jene, die den rechten Pfad verlassen?“

„Jene Seelen aber, die vom Pfad des Lichts abweichen und der Dunkelheit anheimfallen, sollen ewige Qualen im Abyss erleiden, wo sie von Dämonen wieder und wieder zerrissen werden und doch nicht sterben können.“

„Hast du auf den Pfad des Lichts zurückgefunden?“

„Das..“ Sie war irritiert von der Abweichung der bekannten Worte. „Das habe ich.“

„Wirst du ihn wieder verlassen?“

Sie spie ihre Antwort krächzend heraus, überschlug sich fast. „Nie wieder.“

„Ich glaube dir.“

War die Antwort Einbildung? Ausgeburt eines überspannten Geistes, dem die schneidend dicke Luft in der engen Kammer zusetzte?

„Ich glaube dir. Es gibt etwas zu tun für dich.“
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#7
16. Heuert 1402 (Sommer)

Der Tag der Ankunft hatte in ihren bisherigen Leben einen Tag der Faulheit nach sich gezogen, an dem man sich erst zu Mittag aus dem Bett rollen musste und die herrlichen Geschehnisse des Vortags im Geiste durchspielen konnte, ohne von einem äußeren Regelsystem dabei gestört zu werden. Traumverloren konnte man sich vorstellen, neben einem Bösewicht auf der Bühne gestanden und ihn als strahlender Held besiegt zu haben oder die Massen mit einer mitreißenden Predigt aufgeputscht zu haben, bis hunderte unter ihnen das „So sei es!“ brüllten als wäre es ein Schlachtruf gegen alles, was Mithras’ Wort behinderte.

Die Heilige Legion Silendirs allerdings, so informierte sie die Ordensmeisterin, als sie zur fünften Stunde in den Schlafsaal marschierte und die schweren Vorhänge erbarmungslos aufriss, kannte keinen Müßiggang. Pentos Ruthe hatte zwei Wochen Kerzendienst kassiert, als er auch beim zweiten Weckruf noch totengleich liegenblieb, während seine Kameraden schon längst hektisch Helme richteten und Schwertgurte anlegten. Er war nicht der Einzige, der das Feiern übertrieben hatte, aber mit Sicherheit der Entschlossenste. Sie schleppten ihn mit, als er endlich stand.

Marit beobachte die anderen, als sie gedankenversunken auf Pentos’ Rückkehr wartete. Dies war schon der zweite Ausflug an die Ränder des Turnierplatzes, bei denen Pentos seinen ohnedies schon leeren Magen verzweifelt noch leerer zu machen suchte. Sein Taumeln an den Rand blieb nicht unbemerkt und brachte ihm zwei zusätzliche Wochen an dem Dienst ein, den er verabscheute wie kaum etwas sonst. Kerzendienst erforderte eine gewisse Feinmotorik, die ihm gänzlich fehlte. Er brauchte doppelt so lange wie die anderen, bis er die schmalen Kerzen in ihre Halterungen gepresst hatte. Seine Schwester Philomena bewegte sich mit der Trägheit einer Nacktschnecke und suchte so, ihrer Übelkeit Herr zu werden. Defensiv wich sie vor Aurel Behringers mitleidig und gedämpft ausgeführten Angriffen zurück, bis sie auf den Boden plumpste und kokett lächelnd erklärte: „Verloren. Ach, dumm.“ Talpa Ulat feuerte Bolzen auf Zielscheiben und schien damit zufrieden, sich von den Nahkämpfern abgesondert zu haben.

Behringers Stimme klirrte kalt über den Platz. „Aufstehen! Ruthe gegen Ruthe. Ihr habt einander verdient – ein Trauerspiel sondergleichen ist das! Philomena Ruthe: Wäschedienst für zwei Wochen für ständiges feiges Ausweichen. Anwärter Behringer gegen Anwärterin Stein. Zeigt mir, dass die Zukunft der Legion nicht auf saufendem Volk basiert, das sich nicht zurückhalten kann!“

Die Ordensmeisterin kannte keine Gnade, darin war das Grüppchen der Anwärter sich einig, als es sich nach der zehnten Stunde in der Rüstkammer versammelte und seine Schweißbäche mit längst vollgesogenen Tüchern trockenzulegen versuchte. Von Marit erwartete niemand Konversation. Man hatte sich irgendwann zwangsläufig an ihre Schweigsamkeit, ihre Ignoranz gewohnt. Sie saß wie immer am äußersten Rand der türnächsten Bank und reinigte ihre Wehr. Nie blieb sie zu einem Plausch, den man leicht herausschinden konnte in dieser Kammer, in der man für eine Weile nicht unter Beobachtung stand.

Pentos fiel einfach grunzend auf die nächstbeste Bank, mit dem Gesicht nach unten. Zwei Lidschläge später ertönte durchdringendes Schnarchen. Seine Schwester brachte Talpa dazu, die Kammerdienerin zu mimen, ihr die Rüstung abzunehmen und zu polieren, während sie die Waschräume aufsuchte und es so schaffte, selbst verkatert und abgekämpft das meiste für sich herauszuholen. Eine Kaufmannstochter, fürwahr. Die sanfte Hohenmarschnerin aber hatte glühend rote Wangen vor Freude über die Beachtung und säuberte überglücklich und penibel Philomenas Lamellenrüstung.

„Talpa, lass dich doch nicht so von ihr einspannen. Der Herr hat ihr zwei gesunde Hände gegeben.“ Aurel hatte die Stirne gerunzelt. „Ach, es ist doch kein Aufwand. Ich tu es gern!“ „Sie nutzt dich aus, das weißt du? Während du ihren Dreck abwischst, geht sie sich im Zuber einweichen. Gerecht ist etwas anderes.“ „Wenn ich es doch gern tu, ist es kein Ausnutzen!“ Marit sah ihn den Mund unzufrieden verziehen, sein Blick pendelte durch den Raum auf der Suche nach Beistand, bis er bei ihr landete und er sie anschaute, als wolle er sie auffordern, ihm beizuspringen. Dann schüttelte er nur den blonden Schopf, von ihrem Anblick erinnert an ihre Stellung innerhalb des Grüppchens, angelte nach einem nassen Lappen und wischte seinen Helm mit methodischen Bewegungen aus. 

Marit räusperte sich und versuchte sich an einem friedlichen Lächeln. Es fühlte sich unnatürlich an, als hätten die Mundwinkel verlernt, ihre strenge Form zu verlassen, als zöge man eine Grimasse. Wann hatte sie das letzte Mal gelächelt? Langsam stand sie auf, trat an die glupschäugige Talpa heran und nahm ihr Philomenas Kragen aus der Hand. „Du musst das nicht tun.“ Talpa war nicht die Einzige, die verblüfft starrte. Marit spürte Aurels Blick bohrend in ihrem Rücken.

Ein Anfang.

15. Heuert 1402 (noch viel später, Sommer)

„Was weißt du über die Ordensmeisterin?“

„Sie ist mir eine strenge und gute Ausbildnerin, Euer Gnaden.“

„Keine andere Antwort erwarte ich von jemandem, der das Noviziat bald antreten soll. Ordnung durch Führung, Anwärterin.“

„Ordnung durch Führung.“

„Dies ist, so sehr es mich schmerzt, diese Worte vor unserem Herrn zu sprechen, jedoch nur die halbe Wahrheit. Wohl erfüllt die Ordensmeisterin ihre Pflichten auf zufriedenstellende Weise. Doch Gesine Behringer hat den Pfad des wahren Glaubens verlassen. Gleich einer Pflaume ist sie, einer Pflaume, die von außen unbeschädigt wirkt und inmitten ihrer Geschwister am Baume hängt. Hast du je eine Pflaume gegessen?“

„Sie wachsen nicht in Nortgard, Euer Gnaden.“

„Pflaumen sind tückische Früchte, Anwärterin. Man freut sich auf eine Schüssel kühler Pflaumen an einem Tag wie heute, man wählt eine Frucht, deren Haut so seidig weich wie ein samtenes Wams wirkt und öffnet sie erwartungsvoll. Doch in ihrem Inneren offenbart sich, was von außen nie ersichtlich gewesen wäre. Die schönsten Pflaumen sind durchsetzt von Wurmspuren und zu nichts außer Schweinefutter mehr zu gebrauchen.“

„Was hat die Ordensmeisterin getan, Euer Gnaden?“

„Sie zweifelt an unserer Führung.“

„Woher wisst Ihr das, Euer Gnaden?“

„Wer von uns beiden ist mit der Gabe des Herrn gesegnet, Marit?“

„Ihr seid es, Euer Gnaden.“

„So ist es. Die Gabe lässt mich tief in die Herzen der Menschen blicken. Doch glaube nie, das sei einzig und allein ein Segen. Ihre Herzen bergen Erinnerungen, die ich nie zu sehen wünschte, Erinnerungen so verdorben wie ein wurmzerfressenes Häufchen Pflaumen. So wie deine.“

Sie senkte den Blick, betroffen.

„Gesine Behringer will Seine Seligkeit Hermeno Falkner stürzen. Eine Tat so schändlich und nieder, dass selbst ein Wurm noch davor zurückschrecken würde. Doch er, unser geliebter Erzpriester würde das niemals glauben. Er hält große Stücke auf die Ordensmeisterin.“

„Warum sollte sie das wollen, Euer Gnaden?“

„Tut das etwas zur Sache? Fragst du den Hexer, warum er sich dem Dunkel zuwandte, wenn er auf den Scheiterhaufen tritt?“

„N-n.. nein, Euer Gnaden.“

„Was bist du?“

„Der Schild des Herrn, das Schwert des Herrn.“

„So sei es. Es ist unsere heilige Pflicht, den Erzpriester vor den Plänen dieser vom wahren Glauben abgefallenen Frucht zu schützen, eh sie noch andere unter uns verseucht. Doch ein direktes Vorgehen, so sehr dies zu bevorzugen wäre, ist bereits einmal gescheitert. Seine Seligkeit vertraut der Ordensmeisterin blind – noch. Sie selbst ist zu vorsichtig, um einen Fehler zu begehen, doch dem Herrn sei Dank hat sie Schwachstellen.“

Er schwieg, die nebelgrauen Augen auf sie gerichtet.

„Euer Gnaden?“

„Sag du es mir. Wer ist Behringers Schwachstelle?“
 
 
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#8
17. Heuert (Sommer)

Marit strich der anderen über den winzigen Dutt aus schmutzigbraunem Haar, fasste sie um die schmächtigen Schultern und drehte sie zu dem halb angelaufenen Spiegel. Solange die Mitschwester nicht redete, ertrug sie Talpa gut. Der weißblonde Schopf der Nortgarderin überragte den der Duttträgerin um mehr als einen Kopf, was einen Stuhl unnötig gemacht hatte. Ein Tischchen daneben diente ihr als improvisierter Frisiertisch und beherbergte ein solides Buchenholzkästchen, aus dem zahllose Utensilien quollen.

In einer fernen Ecke des Schlafssaals rezitierte jemand eine Heiligenballade unter Ahs und Ohs ob der Gedächtnisleistung des Vortragenden. Einer nach dem anderen tröpfelten die Novizen und Anwärter zurück in den ausladenden Raum und mit ihnen kroch die milde Sommernacht allmählich von draußen herein. Kerzen wurden rundherum entzündet und tauchten den Raum in ein gnädig schmeichelndes Licht.

„Voilá. Im Winter bemühen wir uns um eine andere Farbe. Dann kannst du sagen, es sei nachgedunkelt und fängst dir keine Schelte ein.“

Talpa blinzelte. Eine vertikale Linie trennte ihr Spiegelbild in zwei Hälften, die eine verdeckt von der angelaufenen Seite, die andere intakt, ein fremdes Wesen offenbarend. Schwach gelocktes Haar, zuvor in keine erkennbare Form gebracht und eher an einen Ackerfleck wild wuchernde Steinraute erinnernd als an eine Frisur, wagte es nicht mehr, den ihm zugewiesenen Platz zu verlassen. Ein Sammelsurium an Haarkämmen sorgte für einen ordentlichen Sitz. Der Effekt der Gesichtsteilung war ein grotesker und ließ ihr fliehendes Kinn erscheinen, als wolle es zur anderen, verdeckten Seite flüchten. Doch ihr eines erkennbares Auge war tränennass, als sie sich betrachtete und schließlich flink den Kopf drehte, um sich von allen Seiten zu betrachten.

„Schön, Marit. Wirklich. So hübsch. Du meinst, ich kann das auch alleine?“

„Ich bringe es dir bei. Es ist ganz einfach, wenn die Finger es einmal verstanden haben.“

Die Hände der Hohenmarschnerin befingerten den Dutt begeistert, aber behutsam genug, um ihn nicht zu zerstören. Die andere winkte nur ab, die Relevanz des eigenen Tuns negierend, und befreite ihre Kämme vom fremden Haar der Mitschwester, sortierte ihre Bürsten zurück in die Schatulle mit den sechs kleinen Schubladen und sammelte die ungenutzten Haarklammern auf. Es war wichtig, die Dinge jetzt nicht zu überstürzen. Talpa riss sich von ihrem Spiegelbild los und griff wahllos nach einem Nest an Haarbändern, das auf dem kleinen Brettchen unter dem Spiegel auf Einsortierung harrte. Nervöse Finger zogen die unterste Schublade des kleinen Kästchens auf, ehe Marit sie davon abhalten konnte und grapschten nach der darin ruhenden silbernen Armspange. Den Impuls, Talpas Handgelenk auf ihren Rücken zu drehen, kämpfte deren Besitzerin nieder. Ein bemühtes Lächeln.

„Gib mir ruhig die Bänder.“

Zu spät. Ein fahriger Finger strich über die Buchstaben auf der Innenseite der Spange und Talpa schaute ihre Wohltäterin suchend aus ihren wässrigen Augen an, mit einem überquellenden Drang nach Bestätigung, der in dieser nur Übelkeit hervorrief. Die unsicher wabernde Stimme las leise vor.

„’Für V. Gleich und eins. Seit jeher und für immer. Y.’ Wer sind V. und Y., Marit?“

„Ich weiß es nicht, Schwester. Ein Erbstück. Vermutlich entfernte Verwandte, die es bei einem Besuch liegen lassen haben.“

Marit nahm ihr die Spange aus der Hand als wäre sie nichts als ein Gebrauchsgegenstand, packte aber zu schnell zu und quetschte Talpas vorwitzige Finger dabei unsanft. Diese gab einen kurzen Quieklaut von sich.

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Für die lauernden Bilder hatte sie keine Zeit, aber das kümmerte die Bilder herzlich wenig. Sie schoben sich dennoch ungefragt ins Bewusstsein, jedes eine Fackel, die dieses andere Leben beleuchtete, das in der Dunkelheit aufs Vergessen wartete und nicht vergessen werden konnte. Der Morgen ihres 25. Geburtstag. Frühling 1401, die Eltern ganze Dörfer weit entfernt, aufgehalten vom rasch und überraschend fallenden Schnee, den keiner mehr erwartet hatte. Was eine Tagesreise hätte sein sollen, wurde durch den stetigen Fall der Flocken ruiniert.

Sie strich unruhig durchs Zimmer, schob den schweren Vorhang ruckartig beiseite und starrte die Schneewehen an, die sich vor dem Fenster auftürmten und ans Haus schmiegten. Ein paar Stunden zuvor hatten sie ihn noch wegzuschaufeln versucht, das Unternehmen aber wenig später als zwecklos aufgegeben und stattdessen das Haus verbarrikadiert, wie man es als gelernter Hammerhaller zu tun pflegte, wenn die Natur beschloss, ihre Kräfte zu entfesseln.

„Es wird Tage dauern, bis da wieder ein Durchkommen ist. Sie werden länger ausbleiben müssen als sie wollten.“

Yngvar kommentierte nicht und legte Holzscheite nach. Harz krachte, als das Holz sich protestierend zusammenzog und die Kammern in dem toten Holz aufplatzen ließ. Sie brauchte sich nicht umdrehen, sie wusste allein durch die Folgegeräusche, dass er sich in einen der zwei schweren Sessel vor dem Kamin hatte fallen lassen. Er wählte die Worte sorgfältig, als er sprach.

„Ist es das, was dich beunruhigt, Schwester?“

„Ich mache mir eben Sorgen um sie. Und um uns. Aber wir werden schon durchkommen. Stell dich auf Spiegelei und Grütze ein. Mutter hat noch Pökelfleisch gelagert, wenn es hart auf hart kommt.“ Es klang zu gewollt, sie wusste es selbst. Die Leichtigkeit war forciert.

„Vigdis.“ Das eine Wort nur, sachte Erinnerung: Ich kenne dich zu gut, um dir das abzukaufen.

„Yngvar.“ Schäkern war immer eine Option, wenn man nicht weiterwusste.

„Du siehst bedrückt aus. Wir tun, was wir immer tun. Auch wenn uns keiner dabei beobachtet. Wir halten durch, Vigdis. Wir werden nicht scheitern, denn Mithras wacht, auch wenn kein anderes Auge es tut.“

Sie wandte sich um. „Vielleicht bin ich längst Alander versprochen und du weißt nichts davon. Dann erledigt sich das Durchhalten.“

„Das Alter macht dich grausam, Schwester.“ Er legte ein weiteres Scheit nach und zog einen Mundwinkel hoch, fast arrogant. „Alander ist ein elender Taugenichts und wird es nie zu etwas bringen außer zu dem Vermögen, das Genart ihm vermachen wird. Das wird er unverzüglich wieder verschleudern mit einem weiteren seiner sinnlosen Unternehmen.“

„Vielleicht sind Taugenichtse meine Schwachstelle?“

Er musterte sie. „Warum bist du so zänkisch, Vigdis?“

„Warum bist du so vernünftig, Yngvar?“ Die Wahrheit hatte diese Art, sich ihren Weg zu suchen. Sie drehte sich zurück zum Fenster und schloss die Vorhänge mit einem Ratschen, das die Feuermelodie dumpf unterbrach.

„Dieser Weg würde uns nirgendwo hinführen, das weißt du ebenso gut wie ich. Komm her, setz dich.“

„Ich will nicht.“

„Wenn du dich nicht setzt, kann ich dir dein Geschenk nicht geben.“

Ein Einatmen, dann widerwillig die Frage. „Was ist es?“

„Alanders rechte Hand.“

Sie lachte und ließ sich ihm gegenüber nieder.

„Fang.“

Das Päckchen war schmal und rasch ausgepackt. Die Armspange war ein filigranes Schmuckstück, aus Silber gearbeitet und trug außen feine Gravuren, florale, herrlich gleichmäßige Muster. Sie drehte den Reif und las die Gravur. Er tat, als studiere er die Flammen, wie sie es Vater Tjordan hatten tun sehen. Sie schloss die Augen und ließ sich in den Sessel sinken. Durchhalten...
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„Marit?“

„Mmh?“

„Ich hab dich gefragt, ob ich dir nicht auch etwas Gutes tun kann?“

„Ach, Talpa, das ist doch nicht nötig.“

„Meinst du? Ich kann ja auch wenig, das stimmt schon. Ich könnte dir Bolzen schnitzen?“

„Ich würde sie nicht nutzen. Aber Talpa.. da.. wäre doch etwas.“ Ihr Zögern dauerte genau so lange, wie es sollte. Sie hatte geübt, vor dem Spiegel. „Du schreibst doch den Wachplan, nicht wahr?“

„Aye?“

„Teilst du uns da ein, wie es dir beliebt?“

„Schon. Die Ordensmeisterin lässt mir freie Hand.“

„Dann könntest du mir einen Gefallen tun. Ich möchte mit Aurel Behringer Wache halten. So oft es geht.“

„Aurel? Ahm.. warum das denn?“

„Ich habe das Gefühl, er braucht ein paar aufbauende Worte. Er scheint recht zerstreut in letzter Zeit. Ich möchte helfen.“
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25. Heuert 1402 (Sommer)

Es konnte nicht mehr lange dauern bis zum ersten Sonnenstrahl. Die Stunde davor zog sich endlos. In ihr verlor Zeit ihre Zuverlässigkeit und wurde unberechenbar. Wo eine geübte Wache sonst gewohnt war, die herunterfallenden Sandkörner ab- und das Vergehen der Zeit akkurat einzuschätzen, verlor sie in der Stunde vor dem ersten Sonnenstrahl den Fokus, den es brauchte für Verteidiger des wahren Glaubens. Sie fühlte die Wange auf dem kratzigen Strohsack, der verlockender schien als ein teures Daunenkissen. Sie kniff sich verstohlen in den Handrücken oder die Wangen, rechnete nach, wie viele Atemzüge in eine Stunde passten oder zählte zum dreiundfünfzigsten Mal die Schindeln am nächstbesten Scheunendach.

In der Stunde vor dem Sonnenaufgang verlor die schweigsame Nortgarderin zuweilen ihre eigentliche Aufgabe für einige Herzschläge lang aus den Augen: den dunklen Fleck finden, der den so perfekt schimmernden Goldjungen entstellte. Die Welt verschwamm in dieser Stunde zu nebulösen und vernachlässigbaren Schemen und alles, was zählte, war, ungebrochen stehenzubleiben, bis die Wachablöse kam. Schlaf sandte seine einlullend singenden Sirenenhorden und sie hatte ihnen wenig entgegenzusetzen. Nur widerwillig erinnerte sie sich in dieser Stunde ihres Auftrags. Konzentration. Für Seine Gnaden Falk. Für den Bestand der Kirche, die es zu schützen galt vor subversiven Elementen wie Gesine Behringer. Für Mithras. All dies war ein Mittel zum Zweck. Eine unausweichliche Notwendigkeit. Gesine Behringer war der Feind. Mehr brauchte sie nicht zu wissen.

„Wer Braten essen will, darf keine Angst vor der Schlachtung haben. Vier Dienste ohne Ergebnisse. Ich erwarte Resultate von dir. Du nennst dich Schwert des Herrn, doch deine Klinge bleibt stumpf und vermag es nicht, die Feinde des Herrn zu fällen, obwohl sie schon auf seinen Thron zukriechen wie die Schlangen, die sie sind. Enttäuschend.“ Falks Worte, bevor er sie zu dieser Nachtwache entlassen hatte.

Sie verstand, wie ungeschickt sie sich anstellte. Während der ersten beiden Dienste wurde ihr bewusst, wie sehr die Kunst der Unterhaltung einem Schwertkampf glich. Übung machte sich bezahlt. Mangelnde Übung verlangsamte einen. Nicht nur, dass sie mondelang jeglichen außerdienstlichen Kontaktversuch ihrer Mitanwärter abgewehrt hatte wie der Dämon das Sonnenzeichen und den Tonfall der Kameradschaftlichkeit nie erlernt hatte, sie war es auch nicht gewohnt, einer Konversation einerseits aufmerksam zu folgen und sie gleichzeitig in potenziell kompromittierende Richtungen zu lenken. Ihr Pfad war immer der gewesen, jedem Anflug von Peinlichkeit in weitem Bogen auszuweichen. Es kam ihr frivol und unpassend vor, nach allzu persönlichen Dingen zu fragen und so ließ sie es wo sie konnte bleiben, die nächste Welle von Falkscher Unzufriedenheit bereits fürchtend. Sie würde ihm die schlichte Wahrheit sagen: sie brauchte mehr Zeit, um den Anwärter kennenzulernen und seine Schwächen auszuloten. Die andere schlichte Wahrheit, dass sie mehr Zeit brauchte, um sich in ihre Rolle einzufinden, musste Falk nicht so schnell erfahren.

Dies war der fünfte Dienst innerhalb von acht Tagen, den sie mit Aurel Behringer verrichtete. Ein Novum für beide. Zuvor war Behringer regelmäßig mit erfahrenen Novizen zur Wache eingeteilt gewesen. Sie waren fünf Anwärter und es brauchte nie mehr als zwei Wachen vor den Tempeltoren. Talpa Ulat hatte sich in der Einteilung sträflich an das System ihres Vorgängers gehalten und den am längsten dienenden Anwärter – Aurel – den Novizen zugeteilt. Der beschwerte sich nicht darüber, wohl in der Hoffnung, während der langen Dienste von den Dienstälteren zu lernen. Marits Wachdienste in den Monden davor, als sie mit den übrigen Anwärtern gepaart worden war, hatte sie mit hauptsächlich einsilbigen Antworten bestritten, wenn man sie etwas fragte und sich ansonsten in ihrer Königsdisziplin, der Ignoranz, geübt. Weder Pentos’ plumpe Art, Philomenas vorgetäuschte Busenfreundinnenhäppchen noch Talpas Unterwürfigkeit hatten sie aus der Reserve gelockt. Kindlichere Gemüter wie Pentos bevorzugten während der Wache seichte Sprachspielchen, Spottgedichte über tumbe Mondwächter oder flüsternd übermittelte Witze, die, kämen sie Ordensmeisterin Behringer zu Ohren, für einige Wochen Latrinendienst gesorgt hätten. Weder Marit Stein noch Aurel Behringer sahen ihr Gemüt als ein kindliches an und verzichteten von Anfang an auf derlei.

Es war, das erstaunte Marit Stein selbst am meisten, erstaunlich wenig unangenehm, sich mit dem Neffen der Ordensmeisterin zu unterhalten. Seine Haltung blieb eine formelle, aber freundliche. Er stellte nie Fragen, die sie als bedrängend empfand. Er nannte sie nie anders als „Anwärterin Stein“ während des Dienstes und kreiste lieber um größere Themen als persönliche Befindlichkeiten. Glaubensfragen, politische Diskussionen oder strategische Ideen zum Krieg in Indharim. Sie war dankbar dafür. Die Mauer, die sie um sich errichtet hatte, musste nicht gänzlich eingerissen werden für diese Rolle der Spionin, in der sie so fremd war. Es war nicht notwendig, über die dunklen Flecke ihrer eigenen Vergangenheit zu lügen. Das Thema Geschwister wurde anfangs einmal gestreift und sie erläuterte den Wunsch der Steinschen Eltern, die Kinder Mithras auf bestmögliche Weise dienen zu sehen und erklärte, man sei zum Zeitpunkt ihres Weggangs aus Nortgard nicht genau im Bilde gewesen über die Natur von Hermeno Falkners Kirche in Silendir. Ihre Eltern hätten angenommen, man versuche lediglich, den Einfluss der Kirche auch in anderen Lehen auszubauen und es daher als besten Weg angesehen, je einen Stein in eins der Hauptzentren des Glaubens auszuschicken. Sie selbst hielte aber Falkners Weg für den weitaus besseren. Die Haltung des Bewahrers der Mithraskirche Löwensteins sei eine zu lasche und durch solch eine Untätigkeit wie er sie an den Tag legte, würde der verstaubte heidnische Glaube sich ungehemmt weiter verbreiten. Aurel teilte ihre Meinung und erzählte freimütig, er habe einen seiner engsten Kindheitsfreunde an die Mondwächter verloren – ein Umstand, der ihn schon in mehr als einer Nacht wachgehalten habe.

In diesem Dienst drehten die Gespräche sich hauptsächlich um die heimatlichen Gebräuche und kirchlichen Feste. Wie es in Nachtdiensten mit Aurel Behringer häufig vorkam, konnte ein Gespräch entgleiten und erst einen gefühlten halben Stundenlauf später wieder aufgenommen werden. Er tendierte zu Grübeleien und ließ sich manchmal Zeit mit einer Antwort. Zeit war etwas, das sie im Überfluss hatten. Sein Schweigen störte sie nicht. Sie ließ ihn vor sich hinsinnieren und zählte Schindeln. Wenn Marit Stein in Silendir etwas gelernt hatte, war es, nicht an der Zeit festzuhalten. Das ließ sie nur langsamer vergehen.

„Könnt Ihr Euch an Euer erstes Lichterfest entsinnen, Anwärterin?“

„Aye, natürlich. Wir wurden gewiss schon vorher mitgetragen, aber das erste, an das ich mich erinnere, ist jenes im Jahr 1381. Ich war beinahe fünf. Wir spielten während der Lichterprozession Verstecken. Ich wollte gewinnen.“ Es war mehr als 20 Jahre her und sie spürte ihre Wirbelsäule vereisen als wäre es gestern gewesen. Sie war eine schlechte Verliererin gewesen, zu stur für jedes Spiel. Gewann sie nicht, war ihre Laune unwiederbringlich hinüber. Der Punkt, an dem sie hätte aus ihrem Versteck kriechen sollen, war rasch übersehen. Die Lichterprozession war rasch vorbeigezogen, das letzte Licht rasch außer Sichtweite, die letzte Kerze rasch in Sicherheit gebracht. Die Gläubigen eilten auf ihre Herdfeuer zu ohne einen Blick zurück.

Schweigen. Sein Blick folgte einem Spatz, der durch den Hof segelte und sich auf einer Birke niederließ. „Aber Ihr wurdet gefunden.“

„Ein Lenzing in Nortgard ist nicht dasselbe wie ein Lenzing in Silendir, wisst Ihr, Anwärter? Der Schnee im Norden macht keine Anstalten, zu schmelzen, weil im Süden der Frühling regiert. Ich wurde gefunden, aye. Blaugefroren, ein paar Schritt vom Weg entfernt, störrisch in einer Mauerspalte hockend.“

„Wer hat Euch gefunden?“

Yngvar. Natürlich Yngvar. Sonst war niemand auf die Idee gekommen, in dem Zwischenraum nachzusehen. „Ich erinnere mich nicht. Es war jedenfalls eine saftige Lehre, den richtigen Pfad nicht zu verlassen. Aber wie kommt Ihr auf das Lichterfest?“

„Ach, ich wollte Euch nach einem Brauch fragen, den wir hier in Silendir ausüben. Wir heben den Stummel der ersten Lichterfestkerze auf und bewahren ihn als Andenken. Meinen trage ich immer in der Gürteltasche.“

„Ah?“

Er zog sich die Handschuhe von den Fingern und öffnete den Verschluss. Finger, stundenlang weitgehend unbewegt, verlangsamt von der langen Wache, suchten in der Gürteltasche nach dem Kerzenrest. Er hielt ihn in Händen, sanfter als erwartet, streute aber ungeschickt ein paar Münzen mit aus.

„Lasst nur, Anwärter.“ Schon bückte sie sich, wendiger als er und sammelte das Kleingeld ein. In ihrer linken Hand glänzten die Heller bronzen. Nur eine Münze hob sich vom Rest ab. Marit nahm sie zwischen zwei Finger und hielt sie interessiert hoch.

„So eine habe ich noch nie gesehen.“ Die Münze war ebenso bronzen wie ihre Hellergeschwister und wäre nicht weiter aufgefallen, hätte man sie nicht aus der Nähe betrachtet. Sie trug nicht wie andere Münzen das Konterfei eines Herrschers, sondern war auf einer Seite gänzlich blank. Auf der anderen waren zwei breite Buchstaben selbstbewusst eingestanzt worden: M und A.

„Sie gehörte meinem Freund. Ihr erinnert Euch?“ Sein Lächeln war so glatt, man hätte darauf ausrutschen können. Es kam rasch und sehr bereitwillig.

„Dem Mondwächter.“

„Dem Mondwächter. Mattis Angert.“ Er hielt ihr die Hand hin. Schnell und mit einem nachgereichten Charmebolzenlächeln, das nicht zu ihm passte.

Sie überließ ihm die Münze und erwiderte das Lächeln in einem Anflug von halbvergessener Koketterie.

Du lügst. Ich weiß nur noch nicht, warum.
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#10
26. Ernting 1402 - (Sommer)

Die stickige Stube in dem kleinen Fachwerkshaus am Rand von Guldenach beherbergte zu viele Menschen. Sie atmeten einander die Luft weg. Mit jedem Atemzug wurde ein kühlerer Ort verlockender. Der Abend hatte keinerlei Erleichterung gebracht. Gegen Ende des Ernting hatte sich der Sommer entschlossen, noch einmal mit ganzer Macht zuzuschlagen und ließ seine Fäuste nicht sinken, bloß weil die Sonne unterging. Neben der Eingangstüre verharrten drei Anwärter, stumm, aber von unterschiedlichen Qualen umgetrieben: Pentos Ruthe schwitzte, hing windschief auf seiner Hellebarde und kämpfte mit aufsteigender Übelkeit, wenn man nach der wächsernen Blässe in seinem Gesicht gehen konnte. Talpa Ulat blickte ständig nur überfordert zu Boden und zuckte nervös, sobald jemand in ihre Richtung schaute. Marit Stein hingegen wachte reglos als scheinbar unbeteiligter Golem, musste allerdings den Kopf schmerzhaft gebeugt halten. Diese niedrige Stube war für kleinere Menschen gedacht. Talpa etwa hatte noch gut Platz über ihrem Helm. Falk darum zu bitten, draußen Wache stehen zu dürfen, wäre der Nortgarderin dennoch nicht eingefallen. Sie wusste es besser – mittlerweile. Neben einer Standpauke hätte sie sich vermutlich einen Abend in einer ähnlich niedrigen Kammer eingehandelt, um zu lernen, nicht den Körper und seine verachtenswerten Schwächen über den heiligen Dienst an Mithras zu stellen.

Gegenüber saß der Meister ihrer Geschicke an diesem Abend und stieß eben sein Kristallglas sacht klirrend gegen zwei andere, um sich danach kontrolliert in seinen gepolsterten Sessel zurücksinken zu lassen. Er trug seine Lamellenrüstung unter dem Wappenrock mit stoischer Gelassenheit, so als wöge sie nicht mehr als ein Pfund Federn. Über sein strenges Gesicht wagte keine einzige Schweißperle zu tropfen. In den zwei anderen Sesseln thronten der Herr und die Herrin dieses Hauses, ihres Zeichens umtriebige Händler und neuerdings vehemente Unterstützer der Kirche. Im Gegensatz zu Laurenz Falk war ihre Verfassung bedeutend schlechter, was dem schweren Portwein, dem die illustre Gesellschaft der drei seit einer Weile zusprach, genauso geschuldet sein konnte wie der Luft. Beide hatten sie hochrote Köpfe und tupften immer wieder unauffällig mit Taschentüchern über ihre glatten Gesichter. Einst hatte man in diesem Haus Mithras nur auf dem Papier gedient, doch war diese oberflächliche Haltung berichtigt worden. Eine neue Stärke war hier eingezogen, was allein Falk zu verdanken war. Sein Aufstieg zum Erzpriester hatte Veränderungen zur Folge gehabt, deren erste Früchte nun geerntet wurden. Eine seiner erklärten Absichten war, die einflussreichen unter den Silendirer Geschäftsleuten im Glauben an Mithras zu festigen und das Mondwächtertum, das hauptsächlich noch unter den Bauern Silendirs wucherte, auszureißen. Die Logik dahinter war unbestechlich. Nicht nur war jede Seele, die im Glauben unterstützt wurde, ein Erfolg, Händler kamen auch regelmäßig im Lehen herum und würden den wahren Glauben weiterverbreiten.
 
Seit zwei Stundenläufen verharrten sie nun schon hier. Das Gespräch hatte sich hauptsächlich um die künftige Unterstützung der Talers für die Kirche gedreht und Falks Auftrag, den gesamten Tempel mit Kerzenständern aus dem Talerschen Repertoire zu versehen.

„Wir möchten Euch noch einmal aufs Allerherzlichste zu Eurer Erhebung gratulieren, Eure Seligkeit. Aufs Allerherzlichste. Es gibt keinen, der sie mehr verdient hätte als Ihr.“

Madita und Lesos Taler überschlugen sich fast in ihrer überbordenden Gastfreundschaft. Madita Taler lehnte sich eben vor, um Seiner Seligkeit nachzuschenken, musste aber mit puppenhaft schmollend geschürzten Lippen zur Kenntnis nehmen, dass die zackig vorgeschobene Hand des Erzpriesters ihr Tun unterbrach. Süßlich lächelnd schob sie den Teller mit fein ziselierten Gebilden aus Zucker, den er nicht angerührt hatte, näher zu ihm. Diese Leute waren Marit zutiefst zuwider. In Nortgard bat man einen jeden an seinen Tisch, wenn er rechten Glaubens war. Man kratzte zusammen, was man hatte, um nicht als geizig zu gelten, röstete das hart gewordene Brot und richtete einen Eintopf aus den letzten Resten, wenn es sein musste – und wenn man dafür zwei Tage darben musste. Aber man hofierte niemanden auf diese grässliche, aufdringliche Art der Silendirer. Marit hatte stille Zweifel am neu aufgeflammten Glauben der Talers. Opportunisten wie diese richteten sich einzig und allein nach den einflussreichsten Stimmen im Lehen. Falk erhob sich ruhig und neigte den Kopf.

„Habt Dank für Eure Freigiebigkeit, Schöffe. Frau Taler – Ihr kommt zur Morgenandacht?“ Die Frisur der Angesprochenen, ein fragiles Gebilde aus Brenneisenlöckchen, wippte gefährlich, als sie heftig nickte. Seitdem Falk die Morgenandacht hielt, schienen die Silendirer das frühe Aufstehen weitaus besser zu vertragen als zuvor.

„Legion!“, bellte der Erzpriester ihnen entgegen. Die Schilde, die sie an die Wand gelehnt hatten, wurden aufgenommen.. Hastig öffnete Pentos ihm die Türe, um sogleich selbst dankbar in die Sommernacht zu tauchen. Marit und Talpa folgten nach einem Abschiedsgruß, und während die schmächtige Hohenmarschnerin den beiden Männern schon mit kleinen Schritten hinterherraste, setzte Marit sich ans Ende der Gruppe, schloss die Türe und fing noch den enttäuschten Blick der Hausherrin auf. Wie ein Kind, dem man das liebste Spielzeug weggesperrt hatte, starrte Madita Taler ihnen hinterher.

Die Anwärterin leerte sich die Reste des schal gewordenen Wassers aus ihrem Trinkschlauch in die Kehle und atmete lange ein. Zwar stand auch draußen die Luft, doch immerhin war sie nicht portweinschwanger und schal. Die Straße, auf der sich weitere Fachwerkshäuser aneinander drängten, war denkbar finster, es war grade erst Neumond gewesen. Hinter wenigen Butzenglasfenstern der Straße zuckten noch Kerzenflammen. Talpa und Pentos entzündeten Fackeln und flankierten den Erzpriester, der seinen prunkvollen Wappenrock richtete und die Ärmel zurechtzog. Marit platzierte sich hinter ihnen. Der prüfende Griff zum Schwert war selbstverständlich geworden. Der Schlafsaal und das Ablegen der Rüstung schienen zum Greifen nah, doch als Talpas Blick zu dem Weg glitt, der sie zum Tempel zurückführen würde, schüttelte Falk nur knapp den Kopf.
 
„Noch nicht. Eine andere Aufgabe erwartet uns.“

Vor ein paar Wochen hätten sie ihren Unmut darüber kaum verbergen können. Nun hätte man höchstens in den schmal aufeinandergepressten Lippen der Anwärter aufkeimende Unzufriedenheit erkennen können. Es blieb keine Zeit, für diese Regung gescholten zu werden. Falk hatte anderes im Sinne und die Anwärter folgten ihm hastig Richtung Stadttor. Der Schutz der Priesterschaft war eine der zentralen Aufgaben der Legion und nun, da sie schon einige Monde lang gedient hatten, traute die Ordensmeisterin ihnen auch zu, diese Aufgabe erfüllen zu können. Von einer zweiten Aufgabe hatte Gesine Behringer allerdings nichts verlauten lassen. Es war vorgesehen, nach dem Gespräch bei den Talers in den Tempel zurückzukehren. Seltsam. Marit stapfte hinterdrein, bemüht, Schritt zu halten.

Falk gab das Tempo vor, schritt aufrecht zu den Stadttoren hinaus und schien nicht im Mindesten ermüdet, während die Anwärter sich mühselig hinterherschleppten. In der Anwärterschaft war vor kurzem ein Gerücht aufgetaucht, das besage, Falk wäre ein Nachkomme von Larrik Haffner, des ersten Abtes der Sonnenlegion. Dieser war für seine Strenge bekannt und wurde als Heiliger verehrt. Das unmenschliche Durchhaltevermögen des Erzpriesters konnte nicht von ungefähr kommen, wollten ein paar Wichtigtuer wissen: Mithras selbst musste ein ganz besonderes Interesse an ihm haben. Marit glaubte nicht recht daran, nicht zuletzt, weil sie noch nie gehört hatte, dass ein Abt Kinder hinterlassen haben sollte.  

Vor den Stadttoren wurde die Nacht noch düsterer, doch Falk ließ sich nicht beirren. Er nahm eine Weggablung, die Marit nicht kannte. Sie schien, das war im schwachen Fackellicht auszumachen, auf ein Wäldchen zuzuführen. Talpa brach die Stille.

„Was erwartet uns dort, Eure Seligkeit?“

Der Erzpriester ließ sich so lange Zeit mit der Antwort, dass Marit schon meinte, er ignoriere die Frage bewusst. Dann blieb er abrupt stehen und drehte sich zu Marit um, obwohl Talpa es war, die neben ihm geduldig wie immer auf Antwort hoffte. Zwei harte Augen blickten die Nortgarderin an.

„Der Unglaube in seiner pursten Form.“

Falk wandte sich um, nahm Pentos die Fackel aus der Hand und beschrieb einen großzügigen Bogen mit ihr. Die Umrisse eines ärmlichen kleinen Gehöfts schälten sich aus der Finsternis – eine Keusche. Daneben eine kleine Koppel, für die das Licht nicht mehr ausreichte. Dem Dach fehlten Schindeln und die angrenzenden Zäune wirkten morsch. Das Haus, einer Hütte näher als einer statthaften Niederlassung, stand einsam, ringsum nur von Obstbäumen umgeben. Ein leises Klingeln, als wenige Glöckchen sich bewegten, kündeten von der Anwesenheit des Viehs. Marit hob den Kopf an. Was wollte der Erzpriester hier, mitten in der Nacht? Talpa sah hilfesuchend zu Pentos, der die Schultern anhob, tat ihr aber den Gefallen, nachzuhaken. Die bassige Stimme war gesenkt.

„Wer lebt hier, Eure Seligkeit?“

Der Priester gab ihm die Fackel zurück und schritt auf die Türe zu. Auf der Schwelle hielt er inne und knurrte heiser, zurücktretend:

„Verräter an dem Einen, Anwärter. Nur Verräter.“

Talpa kicherte nervös, den Schild zur Seite werfend. Pentos lachte laut und heiter, als Falk ihm etwas zuraunte. Die Türe wurde mit einem gezielten Stoß der Hellebarde nach innen geschleudert. Marit bemerkte abwesend, wie Übelkeit ihr die Kehle hochstieg.
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