"Gib mir einen Menschen"
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"Wüste werde ich jenes Schloss nennen, das Du warst.
Nacht jene Stimme und Abwesenheit Dein Gesicht."


Hopp!“ Lew hatte bereits zu ziehen begonnen, als Cleo auf den Handkarren für den Leichentransport aufsprang, der wenig später das Friedhofsgelände verließ und über das unebene Kopfsteinpflaster in Richtung Löwenstein holperte. Die kurze Fahrt auf dem Weg in die Stadt gehörte für sie zu den schönsten Momenten des Tages und trotzdem oder gerade deshalb war sie meist schon bevor sie das Haupttor erreichten eingeschlafen. So auch an diesem Tag, der sich mit seinem ungetrübten Himmel in eine lange Periode strahlend schönen Wetters und damit leichter Arbeit reihte. Für einen Totengräber und seine Gehilfin gehörte trockene Erde neben zahlungskräftigen Angehörigen nämlich zu den wesentlichen Erleichterungen ihrer Knochenarbeit, war es doch nicht nur einmal vorgekommen, dass die Speichenräder im knöcheltiefen Gatsch hängengeblieben waren und Cleo vom Karren springen musste, um kräftig zu schieben.

Nicht aber an diesem Tag: Als sie auf dem Weg ins Heilerhaus die Brücke vor den Stadtmauern überquerten, schlief sie bereits tief und fest und umso verwunderlicher als es doch galt, Leichen möglichst frisch abzuholen, war es, dass sie sich allein fand, als sie Stunden später aus deinem traumlosen Schlaf erwachte. Sie rieb sich die Augen und nachdem sie sich umgesehen hatte, kehrte auf die Orientierung zurück. Der Karren stand nur ein paar Schritt hinter dem Haupttor, das sie morgens passiert hatten und das nun in der Abendsonne seinen Schatten in Richtung des Friedhofs vorausschickte. Cleo war keineswegs besorgt, war sie doch gewöhnt, dass Dinge geschahen, für die sie im Augenblick keine sinnvolle Erklärung fand. Der Abend neigte sich bereits der Nacht entgegen, als mit dem Hunger auch allmählich die Unruhe in ihr aufkeimte. Sie schob den Karren von der Straße in den Stall und begann durch einen kleinen Spalt zwischen den Brettern die Straße und die spärlicher werdenden Passanten zu beobachten. Sie hatte keinen Zweifel daran, das Lew sie abholen würde und dass er womöglich zornig war, wenn sie einfach weggegangen wäre.

Das war vor zwei Jahren gewesen. Als der Winter hereingebrochen war, hatte sie sich zwischen ein paar Decken verkrochen und die Angst ihren Posten zu verlassen und Lew zu übersehen, wich mit dem Wechsel der Jahreszeit der Befürchtung ihn nicht mehr zu erkennen. Sie hatte sein Gesicht - oder das woran sie sich zu erinnern glaubte - auf einem Pergamentblatt skizziert und verglich die Skizze mit den Leuten, die nach Löwenstein kamen oder gerade im Begriff waren die Stadt zu verlassen. Es war nicht nur einmal vorgekommen, dass sie in der Gewissheit ihn zu erkennen vom Karren gesprungen war, nur um festzustellen, dass sie sich getäuscht hatte und in letzter Zeit häuften sich auch die Beschwerden, die über sie in der Stadtwache eingingen. Es hieß, eine junge Frau mit bloßen Füßen und zerzaustem Haar lauerte im Stall vor dem Haupttor und überfiel arglose Fußgänger. Sie wurde regelmäßig verjagt und als sie ihrerseits über eine Horde kleiner Kinder klagte, die sie gekratzt hatten, nahm der Wachmann keine Notiz von ihrer Beschwerde und riet ihr stattdessen zu einem Besuch im Badehaus. Ob er Lew dort gesehen hätte? - Nein.

Sie wusste nicht mehr seit wann sie auf dem Handkarren im Stall wohnte und mit den Jahren fiel es ihr zunehmen schwerer, sich den Anlass ihres langen Wartens ins Bewusstsein zu rufen. Mittlerweile hatte die Stadtverwaltung einen neuen Totengräber eingestellt und mit einem Handkarren mit einer beweglichen Vorderachse ausgestattet. Sie war ihm eines Tages gefolgt und in einem günstigen Moment auf den Karren gesprungen. „Nicht in diesem Zustand,“ hieß es dann. Sie begann einzusehen, dass ihre nächste Fahrt auf einem Handkarren nur als Leiche stattfinden würde und dass es auf der Suche nach Lew womöglich ratsam war weniger wählerisch zu sein. Sie kam also dahingehend mit sich überein, dass die Ähnlichkeit mit Lew ausreichend war und folgte ab diesem Zeitpunkt allen Passanten mit schwarzem Haar.

Ein paar Anzeigen wegen Einbruchs später war sie schließlich einem Mann ins Hafenviertel und über den Totenacker in ein Wirtshaus gefolgt. Er stellte sie ein und sie holte den alten Karren aus dem Stall. Nun war sie die Totengräberin. ...
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