Briefe eines vergessenen Kindes
#1
Das Feuer im Kachelofen knackte und warf durch die vergitterte Luke tanzende Schatten in den sonst dunklen Raum. Er hatte sich mit dem Rücken an die warmen Kacheln gelehnt und die Füße entspannt ausgestreckt. Die Briefe lagen in seinem Schoß, unangetastet wie an dem Tag, als Shin sie aus dem Versteck seiner alten Wohnung gezogen hatte. Selbst die Spinnweben hatte er noch nicht komplett entfernt, als wären diese Teil der Verpackung und ihr Entfernen würde bedeuten, sich über Gebühr mit ihnen zu beschäftigen. Aber es war richtig, dass er den Weg der Feigheit ging. Was sollten schon für Erkenntnisse über seine Vergangenheit ans Licht kommen, die schlimmer waren als die Informationen die er bereits besaß?
Als er wenige Tage zuvor genau so da saß wie heute, überkamen ihn Eindrücke und Impressionen aus einem Land, dass er nur aus Erzählungen kannte. Weite Ährenfelder und Wiesen, dahinter Wälder mit pflichtbewusst wie Soldaten aufgereihten Bäumen. Mehr als das kam aber nicht und es blieb ein Blick in eine vergessene Vergangenheit.
Was sollte schon in den Briefen stehen? Dass sie ihn hasst? Dass sie ihn nie wieder sehen will? Damit rechnete er und hatte sich damit abgefunden. War das dann der Grund, weshalb er nicht mehr wissen wollte? Weil er dann Verantwortung für ein anderes Leben übernehmen müsste? Aber was wenn sie eigenständig war und selbst sehr gut zurecht kam, aber keinen Groll gegen ihn hegte? Ihn verärgerte die Tatsache, dass er nicht mal mehr ihr Alter wusste, geschweige denn ihr Aussehen, dass sich über die Jahre sicherlich verändert hatte, aber am schwersten Wog wohl, dass er nicht einmal mehr wusste wie sie hieß.
Es reichte! Es war an der Zeit Taten sprechen zu lassen, statt sich feige hinter Möglichkeiten und Eventualitäten zu verstecken. Sorgsam befreite er das Papier von den Spinnweben, ehe er den ersten Brief entfaltete und las.

Guldenach, 8. Gilbhart im Jahr 1401

Geehrter Vater,

ich habe mich sehr über deinen letzten Brief gefreut. Es ist gut zu hören, dass du wieder in deiner alten Heimat bist und dort Freunde gefunden hast. Mutter hat mir früher erzählt, dass du das Leben eines Nomaden führst und immer dort hingehst, wo es Arbeit gibt. Es muss ein einsames Leben sein.

Mir geht es gut. Die Ausbildung ist hart und manchmal muss ich bis zur Erschöpfung für Herrn Guldenberger arbeiten, aber er behandelt mich gut, schlägt mich nicht und lässt mich sogar bei ihm wohnen. Ich habe ein Fell hinter dem Kamin, wo es sogar im Winter angenehm warm ist.

Zu Mutter habe ich keinen Kontakt mehr, seit sie erneut geheiratet hat. Auch Adrian und Liora sind ganz aus meinem Leben verschwunden. Du weißt ja wie es damals war, mit den Anforderungen von Herrn Silberspann, was eine Heirat mit Mutter betraf. Ich kann ihr nicht vorhalten, dass sie mich in die Lehre schickte. Mir geht es auch gut hier. Das Leben ist bescheiden, aber die Kundschaft ist herzlich und mir mangelt es an nichts.

Ich hoffe bald wieder von dir zu hören. Warum schreibst du mir nicht etwas über deine Abenteuer? Das Leben als Soldling ist sicherlich spannender als das hier in Guldenach.

Möge Mithras ewig eine Flamme in dunkler Nacht für dich brennen lassen,
Deine Alona



Wie betäubt saß er da, das Papier noch in der Hand. Was sollte er jetzt tun?
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#2
In der Taverne herrschte den Abend über reger Betrieb. Der Tag war auch enorm aufreibend gewesen. Den halben Tag war er durch die Wälder geirrt, ohne rechtes Ziel. Er wollte nur seinen umnachteten Kopf frei kriegen. Geholfen hatte es letztlich nicht. Stattdessen stürzte er eine Treppe hinab, legte sich mit Wölfen an und durfte dann noch in einer haarigen Situation vermitteln – ohne rechten Erfolg.
Jetzt war das alles vergessen. Er saß fast alleine im Schankraum, vor sich eine flackernde Kerze. Nur die Rothaarige war noch da und leistete ihm Gesellschaft, auch wenn sie nicht miteinander sprachen. Aus dem oberen Stockwerk hörte man ab und an Schritte und leise Gespräche, wofür er dankbar war. Sonst wäre er vollkommen allein mit seinen Gedanken.
Einen weiteren Brief hatte er ausgepackt und ihn entfaltet. Wie schon zuvor fürchtete er den Inhalt, aber er konnte mit dieser Angst nun wesentlich besser umgehen. So las er.

Guldenach, 21. Hartung im Jahr 1402

Geehrter Vater,

es muss unglaublich spannend sein, einen Adeligen als Leibwache zu beschützen. Ich habe noch nie einen Adeligen getroffen! Nur einmal habe ich einen Ritter auf dem Markt von weitem gesehen, aber hier in den Laden kommt nie so erlauchte Kundschaft. Vermutlich würde ich kein Wort heraus bekommen, vor lauter Aufregung!

Mach dir bitte keine Sorgen um mich. Ich vereinsame nicht. Es tut manchmal schon weh, dass ich Mutter und meine Geschwister nicht sehen darf, aber ich habe Freunde gefunden. Thea ist besonders nett. Sie arbeitet drüben in der Bäckerei und bringt mir manchmal Naschwerk mit, das runter gefallen ist oder nicht den Ansprüchen ihres Meisters entspricht.

Seltsame Glücksgefühle lösten die geschriebenen Worte aus. Ihre Schrift war etwas krakelig, aber sie besaß eine herausragende Grammatik und Rechtschreibung. Das musste ihr ihre Mutter noch beigebracht haben, bevor sie das Mädchen fort schickte.
Krach riss ihn aus der Konzentration, als eine junge Frau aus dem Hinterzimmer gestürzt kam, das Gesicht von Tränen nass. Sie war vollkommen aufgelöst, als er jedoch fragte „Hey! Alles gut...?“ antwortete sie nicht und stürzte durch die Haupttür hinaus in die Nacht.
Kurz darauf rannte ihr ein Schatten nach, der nur Shin sein konnte. So sehr er auch den Anspruch hatte diesen Leuten behilflich zu sein, weshalb auch immer, nervte ihn der Trubel momentan ungemein. Die Rothaarige ließ er alleine am Tresen zurück, ehe er sich in das hintere Eck der Taverne zurück zog und dort weiter las.

Du musst wirklich meinetwegen nicht kommen. Was solltest du auch groß machen? Mich nach Löwenstein bringen und dort in die Obhut eines Schneiders geben? Dann müsste ich ganz von vorne anfangen! Wenn du mir helfen möchtest, könntest du mir etwas Geld für die Meisterprüfung schicken, aber die wird noch ein paar Jahre beanspruchen.

Deiner Bitte konnte ich leider nicht nachkommen. Ich habe Mutter versprochen nicht auf den Hof zu kommen und von meinen Freundinnen ließ sich keine überreden für mich nach dem Rechten zu sehen. Ich weiß also nicht wie es ihnen geht. Sicherlich aber gut! Davon bin ich überzeugt!

Ich hoffe du meldest dich bald wieder!
Deine Alona

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