Botschaften
#1
Der Bote befühlte nervös seine abgeschabte Ledertasche. Es war noch da. Er konnte seine Umrisse selbst durch den robusten Stoff spüren. Rund, wohlgeformt, verheißungsvoll schwer. Das angenehm gewichtige Ding erschwerte seinen Sitz im Sattel, aber er störte sich nicht daran. Hatte es haben müssen, als sie es angeboten hatte, hatte mit einer Heftigkeit gewünscht, es zu halten, die ihn dieser Tage selten überkam. Aber wie hätte er es nun, wo er es endlich berühren durfte, in eine Satteltasche packen sollen, so weit weg von seinen zitternden Händen? Lieber nahm er den unsicheren Sitz im Sattel in Kauf und den Zug auf die linke Seite, an der er die Tasche umgehängt trug.

Sein ganzes Leben lang stand es ihm schon vor Augen, wann immer er später in sich genug Aufmerksamkeit für die Götter zusammenkratzen konnte. Es hatte sich eingebrannt. Er wusste von ihm, so wie er wusste, dass der Himmel Blau ist. Ein Symbol für so vieles. Seinen einst so flammenden, kindlich ernsten Glauben an das Pantheon. Der fruchtlose Versuch, der Vergangenheit den Rücken zuzuwenden. Die Verbissenheit, mit der er sich an den kümmerlichen Rest klammerte, den er hatte. Schatten und Bilder nur. Ein Symbol für die Macht der Götter, deren Tun so unergründlich ist. Er gestattete sich, einen Lidschlag lang die Augen zu schließen. Das Pferd trottete durch den Laubteppich, der die Straße bedeckte. Ein gutes Tier.

Das Haus in Lilienbruch erstand vor seinem inneren Auge. Das Haus, an den Rand des Dorfes geklebt, wie der halbvergessene Gedanke eines Bürgermeisters mit bestenfalls dahindümpelnden Ambitionen. Eine Familie, Blondschöpfe allesamt, versammelt um einen ausladenden Tisch. Vater, dessen dunkle, ruhige Stimme zur Ruhe gemahnte. Es war der Tag der Ahnenandacht. Schon in den Nächten vorher hatte man sich die langen Winterabende mit Geschichten über die Ahnen verkürzt. Und keine konnte so gut Geschichten erzählen wie Mutter. Ihre Zunge war flink, ihr Talent für Wortgebirge und Satzschlösser rar. Man nannte sie nicht umsonst Ogmas Liebling. Schauspielerin hatte sie werden wollen, doch die Götter hatten andere Pläne mit ihr, so erzählte sie es jedem, der fragte, lachte schallend, obwohl es nichts zu lachen gab, und angelte dabei nach einem der zahlreichen herumwuselnden Kinder. Immer war ihr Bauch geschwollen gewesen. Die Sümpfe waren gierig. Man musste vorsorgen, denn sie schluckten zu viele Kinder, als dass man sich mit einem oder zwei hätte begnügen können.

Er konnte nicht mehr sagen, ob er seine Ahnen, deren Tun und Wirken Mutter durch ihren Worten Leben einhauchte, wirklich gekannt hatte oder nicht. Zu oft hatte er von ihnen gehört, zu fest hatte jedes Wort aus den Geschichten sich in seinem Kopf verankert. Und immer, immer stellte Mutter mit feierlichem Ausdruck, der sich auf dem heiteren Gesicht so selten einfand, die schillernde Bronzeschale auf den Tisch, der Platz für sie alle bot. Rund wie ihr Bauch, rund wie ihr Antlitz. Der kostbarste Gegenstand im Haus. Schimmernd in seinen Boden eingelassen der Mond, das rätselhaft wandelbare Symbol ihres Glaubens. Und immer, immer zündete Vater die Kerze an, die so dick wie sein Unterarm war. Einem so großen Mann, dessen Pranken sich mühelos über die Kinderköpfe legen konnten, traute man so eine Sanftheit gar nicht zu. Doch es geschah immer lautlos. Die Kerze fand die Schale, in die sie gehörte ohne jedes Geräusch, so als hätte ein einfaches „Plonk“ die Ahnen verschreckt, und das Licht, das einzige Licht in der kümmerlichen Holzhütte, erhellte die schmalen Gesichter. Einmal im Jahr nur konnte man sich eine Kerze dieser Art überhaupt leisten. Es war nur recht und billig, sie genau in dieser Nacht, vom 21. auf den 22. Julmond, anzuzünden.

Die Kinder packten sich an den Händen und wappneten sich für die Nacht. Kleine, schweißnasse Hände klammerten sich aneinander. Das Herz schlug ihnen bis zum Hals. Besinnlichkeit war am Tag der Ahnenandacht das Gebot der Stunde, doch Mutter hatte eine kleine Schwäche. Entsetztes Aufkreischen und nervöses Gekicher der Kleinen versüßten ihren Abend wie kein Krug Honigwein es vermocht hätte. Darum wunderte sich auch zuerst niemand, als sie sich mitten in der Geschichte über Oheim Ottokars Ende krümmte und anfing zu husten. Einer ihrer geliebten Taschenspielertricks, gewiss. Erst als die Kerze flackerte und der Bote auf die Tischplatte starrte, konnte er die dunklen Tropfen ausmachen, die sich in das Holz fraßen wie gierige kleine Zecken. Die Hexerkeuche machte vor niemandem Halt. Auch nicht vor Ogmas Liebling.

Ein Rascheln im Unterholz riss den Boten aus seinen Gedanken. Er ließ sie ziehen, so wie er alles und alle ziehen ließ. Verfluchtes Ravinsthal. Hier musste man sich sogar vor wanderndem Pflanzengetier in Acht nehmen.
„Die Götter haben noch Verwendung für dich. Es ist nicht dein Schicksal, dich im Troll totzusaufen. Das ist Angus‘ Schicksal, und er braucht keine Nachmacher.“ Ein kleines Körnchen in ihm wollte ihr glauben, dieser Vatin, die ihn aus dem Troll geschleppt hatte, als hätte sie ein Recht dazu. Er war auf den Marktplatz gestolpert, geschubst von dem rothaarigen Dämon, der ihm im Nacken saß, hoffnungslos vernebelt von dem billigen Kornbrand, der ihm schon vor Stunden seliges Vergessen gewährt hatte. Zuerst schlug er nach ihr, halbblind vom Alkohol, aber sie schnaufte nur. Seine Hand traf ins Leere. Er setzte sich auf seinen Hosenboden und beschloss, es auszusitzen. Aussitzen war eine Spitzenstrategie. Wenn man sich nicht mehr wehrt, gibt der Gegner irgendwann auf. Ein regloser Klumpen Mensch wird jedem irgendwann langweilig. Der Schwall Wasser, der sich über seinen Kopf ergoss, vergällte ihm allerdings die Sitzerei. Ehe er noch kohärente Worte des Protestes formulieren konnte, bugsierte die Vatin ihn über Treppen, endlose Treppen.

In einer warmen Küche fand er sich wieder. Der sehnsuchtsvolle Blick zu einem Fass, auf das jemand riesengroß „Met“ gepinselt hatte, wurde von der Vatin mit einem peitschenden „Nein!“ unterbrochen. Sie stellte eine rauchende Teekanne vor ihm ab. Er verlor sich in den aufsteigenden Dampfschlieren und ersehnte den nebulösen Zustand zurück, aus dem sie ihn ungebeten gerissen hatte. Allein, sie ließ ihn nicht. „Rede.“

So fand er sich auf dieser Straße wieder, die sich wie ein mehrfarbiges Band raschelnd vor ihm erstreckte. Er war dort, weil sie ihn geschickt hatte. „Ich gebe dir jetzt etwas. Aber nichts im Leben ist umsonst, mein Freund. Und du wirst etwas für mich tun.“ Als sie ihm die Schale hinstellte, dauerte es einen Moment, eh der Heller fiel. Starr blickte er sie an. „Nimm sie. Und ehre die Götter. Sie haben dich immerhin noch nicht aufgegeben.“ Als seine Hände sich um die Schale schlossen, stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Er hielt sie fest, als hinge sein Lebensfaden daran. „Du musst jemanden für mich finden. In Hohenmarschen. Es ist mir egal, wie du es anstellst. Schmuggel, Bestechung, List. Dir fällt gewiss etwas ein. Sein Name ist Koren. Koren Ginsterstrauch. Und wenn du ihn gefunden hast, dann gibst du ihm das hier.“ Er war wie erschlagen von ihren Forderungen, aber er hätte in diesem Augenblick noch Ja gesagt, wenn sie eine Locke der Vogtin von Löwenstein oder das Ohr von Lisbeth Winkel verlangt hätte. Ein Brief wanderte in seine Hand. Es interessierte ihn nicht groß, was drinstand. Aber hätte er ihn aufgemacht, wären folgende Worte zu lesen gewesen.

Koren,

gnade dir das Pantheon, wenn du in den Sümpfen stirbst. Das würde ich dir nie verzeihen, hörst du? Irgendein Aspekt meiner Seele wird noch nach meinem eigenen Tod einen Teil von dir finden und heimsuchen, wenn du mich verlässt, das schwöre ich.

Ich würde dir gern schreiben, hier geht alles seinen gewohnten Gang, aber das wäre eine dreiste Lüge. In Ravinsthal halten uns bewegliche Pflanzenranken auf Trab, die sich selber entwurzeln und dem unvorsichtigen Spaziergänger nach dem Leben trachten. In Löwenstein tragen sich noch merkwürdigere Dinge zu. Cois berichtet von einem Patienten im Heilerhaus, der in der Kanalisation von Schwarzem Schleim und Lebender Dunkelheit befallen wurde. Es wirkt, als wären die Städter gänzlich ratlos, was sie damit anfangen sollen. Der Gedanke an die lebende Dunkelheit lässt mich nicht los. Ich werde sehen, ob sich darüber etwas in Erfahrung bringen lässt. Ist das nicht faszinierend? Lebende Dunkelheit. Ich weiß gar nicht, wer auf den Namen gekommen ist. Ah, schon höre ich dich wettern. „Was braucht dich die Stadt, Gwendolyn? War sie noch nicht grauenhaft genug zu dir?“ Schon gut, schon gut. Aber was können Unschuldige für die Grausamkeiten anderer?

Als wären lebende Ranken und angreifender Schleim noch nicht genug, gibt es noch eine andere Bedrohung. Man hört jetzt allerorten Geschichten von einem Untier mit unzähligen Zähnen. Aber das halte ich für ein Schauermärchen.

Um noch etwas weniger Gräuliches zu erzählen: Ich bin zurück ins Druidenviertel gezogen. Das große Haus alleine zu bewohnen, zahlt sich nicht aus. Es ist mir außerdem ein wenig unheimlich, bei all diesen Geschichten so weit ab vom Schuss zu wohnen, weit von allen Wächtern.
Aki Duran war ein paar Mal bei Ceras und mir, um mehr über die Götter und ihre Geschichten zu erfahren. Er hat Statuen gemeißelt, die den 21 entsprechen. Ich will ein Fest organisieren, wenn er fertig ist. Mögen werde ich ihn wohl in diesem Leben nicht mehr, aber sein tiefer Glaube und seine Beharrlichkeit imponieren mir dann doch.

Ich schicke dir noch die Gösselpost mit, damit du etwas zum Lachen hast oder sie wenigstens einer Sumpfkröte in den Rachen schieben kannst. Cois ist angeblich mehrfacher Vater. Ist natürlich alles Schwachsinn, aber ich habe herzhaft gelacht.

Koren?

Komm zurück.

Es küsst dich,

Gwendolyn
[Bild: Gwendolyn-Signatur.png]
Toast can never be bread again.
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