FSK-18 Übergänge
#1
Was sie sah war der dunkelblaue Abendhimmel. Leer und endlos weit, hier und da mit Sternen übersät, wie unwillkürlich verteilte kleine Lichter. Die Aussicht könnte schlimmer sein.

Sie lag auf den Rücken zusammengesackt im Sand, den ersterbenden Blick nach oben gerichtet. Sie wünschte, sie könnte noch seine warmen Kristalle spüren, die die Wärme des Tages in sich aufgenommen hatten. Sie wünschte, sie könnte überhaupt noch etwas spüren – doch ihr Körper war immer noch vollkommen taub. Sie stellte sich vor, wie das Blut aus der Stichwunde lief, im Takt des viel zu schnell schlagenden Herzens. Sie stellte sich vor wie das Blut aus der Wunde an ihrem Arm rann, filigrane Muster auf der bleichen Haut malte und dann versickerte. Es waren die Wunden die ER ihr geschlagen hatte. ER, der ihr alles nahm und ER, der genauso alles gab. Sprach ER noch immer? War ER noch da? Sie hörte seine Stimme nicht mehr, spürte seine Anwesenheit nicht.

Dann verschwamm ihr Blick.

Sie war Schmerzen gewohnt. Das beständig kränkelnde Kind, ertrug sie beharrlich von der Wiege an. Dennoch fürchtete sie Diese. Dennoch erwartete sie diese. Ach, wenn sie doch nur noch irgendwas spüren könnte. Bilder rauschten durch ihren Kopf wie Erinnerungen die nicht ihre waren, wie Gedanken die nicht ihre waren, wie die Zeit, die nicht ihre war. Wieder und wieder waren sie da und über Allem lag diese unglaubliche Wut. Sie war doch noch nie wütend gewesen auf irgendwen oder irgendetwas, also woher kam dieser abgrundtiefe, scharfe Zorn? Das Sichtfeld franste allmählich aus, und die Ränder färbten sich rot.

Dann setzte der Schmerz ein.

Er zerriss sie, bis sie nur noch Staub war und fügte sie wieder zusammen. Es war der gesammelte Schmerz all‘ der vergangenen Jahre – der eigenen und der anderen. Der Schmerz der Welt geballt in ihrem zerbrechlichen Körper, der unter diesem Druck zu kapitulieren drohte. Ließ ihren Geist aufgeben, suchte Schutz in einer anderen Welt und erfasste mit kühler Beiläufigkeit, wie ihr Körper sich in Krämpfen schüttel, wie sie sich beschämend undamenhaft in den Sand erbrach und die kühle Nachtluft über die Schweißperlen strich, an den Stellen wo SEINE Klinge die Kleidung zerfetzt hatte.


Du wirst sterben! Nein, das werde ich nicht! Ich bin die Heilerin, ich darf nicht sterben!

Du wirst nicht mehr dir gehören!Nein, ich gehöre immer nur mir selbst!

Du wirst… - Sei still!


Die Stimme zerbrach in unzählige Scherben von Gelächter, die laut und vielstimmig durch ihren Geist hallten. War das der Wahnsinn, von dem ER sprach? Konnte es sie brechen? Konnte es der Schmerz? Nein, man konnte nur soweit gefesselt werden, wie man es selbst zuließ. Also bog sie den Rücken durch, drückte den Oberkörper in die Höhe und schrie mit letzter Kraft, noch zweifelnd zwar, ob es nur ihrem Geiste entsprang oder es tatsächlich schaffte ihre Lippen zu verlassen:

ICH WERDE SEIN!

Der Schmerz verschwand abrupt. Nur sein Echo hallte in dem weiterhin klopfenden, hin und wieder stolpernden Herzen nach und nahm das zersplitterte, leiser werdende Gelächter mit sich.
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#2
Dunkelheit umhüllte sie weich und trügerisch sicher. Die Stille sie einst damit verband, existierte nicht mehr. Stetes Flüstern, wie ein leises Zischen. Unverständliches, zusammenhangloses wehte ihr daraus entgegen und damit einhergehend, kurze Bilder wie fremde Erinnerungen.

Er hatte gesagt, das dies passieren würde.

Sie wusste, dass sie eigentlich in diesem Raum war, mit den dicken grauen Mauern. So winzig, dass sie ihn in zwei Schritten durchqueren konnte. Er hatte es nicht explizit ausgesprochen, aber sie wusste dass es für sie ein Kerker war. Einer um sie zu kontrollieren, um die Rebellion zu dämpfen…um sie anzupassen und zu formen. Sie erbebte in einem neuen, unbekannten Verlangen, dass sie nicht einordnen konnte. Es fühlte sich unbarmherzig an, wütend und hungrig.

Sie sehnte sich nach dem Schlaf und seinem süßen Vergessen, doch er kam nicht und würde auch nicht mehr kommen. Stattdessen wartete etwas in dieser Dunkelheit, lauerte auf den Moment der Schwäche, um zu springen und sie zu überwältigen. Es war bereits so nah, dass sie es spüren konnte. So nah, dass sie es schmecken konnte.

Sie würde ihm gehorchen müssen, ohne ihn war sie verloren in diesem Nichts. Sie würde tun müssen was er verlangt, seine Gedanken weiterführen, sein Wissen tragen. Sie hatte keine Wahl mehr.

Dann sprang es und die Schwärze wurde blutrot.

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#3
Der Herbst war eine jener Jahreszeiten die sie unter anderen Umständen wirklich genossen hätte. Das leise Knistern des bunten Laubes unter den Sohlen der Stiefel, die steife Brise die vom Meer ins Land wehte und den Geruch von Schnee mit sich führte, die zarten Nebelschwaden die an den letzten Blättern der Bäume zupfte und stetig zunehmende Kälte, die durch den neuen, warmen Mantel ausgesperrt wurde. Doch in dieser Zeit verlor es seinen Charme und in diesen Abendstunden auch seine Farben. Die Kälte war ihr gleichgültig geworden, wie so ziemlich alles im Moment. Es war ihr schwer genug gefallen, sich vor ihm die Blöße zu geben und ausgerechnet ihn um Hilfe zu bitten. Sie hasste es, auf ihn angewiesen zu sein. Am liebsten würde sie ihm aus dem Weg gehen und ganze Lehen zwischen ihn und sich selbst schieben. Doch die Dämmerung hatte sie verbunden. Mit den behandschuhten Händen tastete sie das Revers nach oben und schlug den weichen Kragen hoch.

Er hatte sie in seinen Plan eingeweiht und es gelang ihr nicht einmal ansatzweise zu verstehen, warum er dies tat. Weil er ihre Meinung dazu wissen wollte? Von wegen! Sie war sich sicher, dass es ein Test war, ein Produkt seiner Neugierde um ihre Reaktion zu erfahren und sie einzuschätzen.

Und er hatte gewonnen. Einfach so. So spielend leicht und mehr als er sich jemals hätte erträumen können. Was sie dafür bekam, waren Qualen und Gewissensbisse. Dabei hatte sie wirklich alles versucht um ihn davon abzubringen. Sie hatte diskutiert, lamentiert und wirklich gute Gründe vorgebracht – doch vergebens. In ihrer Verzweiflung hatte sie ihn sogar versucht zu provozieren und ihn an seinem Stolz zu packen. Doch wie soll das funktionieren, wenn überhaupt keiner vorhanden ist, sondern nur Grausamkeit? Das Einzige was da noch half, war klein bei zu geben und das bestmöglichste dabei heraus zu holen.

Es hatte lange genug gedauert sich einzugestehen, dass es in der Tat solche gab, die ihr am Herzen lagen. Die nicht irgendwo in der Nähe nur herum dümpelten, sondern wirklich nah waren. Sie wusste das es egoistisch war, wenn sie um deren Sicherheit bat und argumentierte. Sie wusste, dass dafür jemand anderes seinen Hals hinhalten würde müssen. Nein, es war nicht gerecht und ihre Gewissensbisse, die mit jedem Schritt über die schlammigen, candarischen Wege stärker wurden, bestätigten es nicht nur, sondern klagten sie förmlich an. Dennoch war es richtig den einzigen, wahren Vertrauten in Sicherheit zu wissen und sie würde die Entscheidung jederzeit wieder treffen.

Doch das schlimmste für sie dabei war tatsächlich, dass sie sich ihm dafür offenbaren musste. Sie musste das Innerste nach außen kehren, die Emotionen preisgeben und ihm zeigen wer und was für sie galt. Damit hatte er sie in der Hand und sie war sich dessen bewusst. Er würde sie damit quälen, er würde versuchen sie damit lenken zu wollen und er würde es damit auch schaffen.

Sie hatte eigentlich nur noch eine Möglichkeit. Sich von denen fernzuhalten, die ihr etwas bedeuten und sich an seine Fersen zu heften um das Unmögliche zu erreichen: Ihm die Menschlichkeit zurück geben, die all‘ diese Jahre aus ihm heraus gesaugt hatten. Das Schwierigste dabei war, dass er es nicht bemerken durfte. Sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, was dann für eine Strafe auf sie warten würde. Aber sie musste es einfach versuchen und das würde sie auch.

Mit diesem neu gefassten Entschluss schritt sie forscher aus und passierte die Kreuzung nach Kliffweiden zu ihrer Behausung. Irgendwo lag doch gewiss noch ein dicker Stapel Papier, der abgearbeitet werden sollte, waren bestimmt noch Besorgungen die erledigt werden mussten und Regale die aufgefüllt werden wollten.

Hauptsache Beschäftigungen die einen davon abhielten da zu sein, wo man eigentlich viel lieber wäre.
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#4
Geduldig lauschte sie dem Stallknecht und gab ihm das auch hin und wieder durch ein Nicken zu verstehen. Er hatte die Hufe der Drechslerstute kontrolliert und neu beschlagen lassen, das Zaumzeug für sie angepasst und weich gesattelt. Eigentlich hätte sie schon lange auf den braun schimmernden Pferderücken sitzen können, doch Richter, der Stallbursche, verteilte immer noch seine gut gemeinten Ratschläge. Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen. Das erste Mal ausreiten und das auch noch alleine. Vor einem Jahr wäre es nicht einmal ansatzweise denkbar gewesen, doch jetzt konnte sie das alles endlich nachholen. Magna, blinzelte ihr aus ihren freundlichen, braunen Augen zu und fraß in aller Seelenruhe das Heu aus ihrem Futtersack. Offenbar war ihre Ruhelosigkeit für keinen der Anwesenden ansteckend. Selbst die schillernde Fliege saß ruhig an der Wand und putzte die Flügel

Draußen erhob der kühle, herbstliche Küstenwind seine Stimme und heulte lautstark um die Ecken des robusten, grob gezimmerten Stalls. Sie fuhr aus den Gedanken und zuckte zurück, als Richter ihr demonstrativ und mit tadellosen, tadelndem Blick die Zügel vor die Nase hielt. Sie lächelte ihm verlegen zu und nahm die Lederriemen aus seiner Hand. Er nahm dem Pferd den Jutesack mit dem Heu ab und hielt ihr die Stalltüre auf. Langsam führte sie Magna durch die Pforte. Draußen blies ihr der Wind die bunten Herbstblätter ins Gesicht und sie verharrte noch einen Moment, genüsslich die frische Luft in sich aufnehmend, die nach dem Mief nach Heu und Pferdemist im Stall, mehr als nur begrüßenswert erschien.

Dann hob sie einen Fuß und schob ihn in den Steigbügel, griff mit der linken Hand an den Sattelknauf und zog sich hinauf. Es war gar nicht so schwer. Ruhig stand die braune Stute an Ort und Stelle und tänzelte nicht einmal, als sie noch ein wenig unbeholfen im zweiten Versuch, das andere Bein über den Pferderücken schwang. Beifallheischend sah sie zu Richter, doch der hatte sich wieder mit der Mistgabel bewaffnet und schichtete das Stroh um. Mit Sicherheit verdrehte er dabei sogar die Augen. vermutlich lernt man in Candaria das reiten schon im alter von 5 Jahren- Auf einem Zackelschaf!

Vorsichtig drückte sie Magna die Knie in die Seiten und versuchte sie mit einem Zug rechts oder links zu dirigieren, so wie sie der Stallknecht angewiesen hatte.
Mit einem Ruck setzte sie sich in Bewegung und verfiel alsbald in einen gleichmäßigen Schritt parallel zu den Klippen. Sie jauchzte. Endlich…sie hatte es geschafft! Stolz wie ein Freizeitjure drückte sie den Rücken durch und sah sich um. Leider war auch hier niemand zu sehen, der sie dafür bewundern konnte, außer eine Herde Zackelschafe, die in ihrer Koppel ziemlich unbeeindruckt auf dem restlichen, verbliebenen gelben Gras des Sommers herum kauten. Alles Banausen!

Sie zurrte das Band, dass den unverzichtbaren Hut auf ihrem Kopf hielt, unter dem Kinn fester und presste noch einmal die Knie in die Flanken des Pferdes. Wieder ein Ruck und Magna verfiel in einen Trab. Die nahezu blattlosen Sträucher und Bäume zogen an ihr vorbei. Zügig aber noch nicht schnell, was ihren Mut oder vielleicht auch Übermut anfeuerte. Das dumpfe Pochen der Hufe über den weichen Boden der Auen klang gleichmäßig und rhythmisch an ihr Ohr und ließ allerdings auch im Gleichklang ihr Hinterteil dabei in die Höhe hüpfen. Ohja…das würde heute Abend ordentliche Schmerzen geben. Sie zog erneut an den Zügeln und lenkte das Pferd auf den Weg zurück, nur um sie noch einmal mehr mit Schenkeldruck zum Galopp anzutreiben. Sie beugte sich weit über den Pferdehals und quietschte vor Freude... ungefähr so, wie diese kleinen Mädchen von 12 Jahren.

Wenn ihr Vater sie sehen würde, oder ihre Brüder. Sie würden kollektiv in Ohnmacht fallen. Haare und Wind peitschten ihr ins Gesicht, eventuell auch die letzten, kleinen Insekten dieses Jahres über die sie nicht so genau nachdenken wollte und sie spürte, wie sich die sonst so bleichen Wangen rosig färbten.

Ha! Von wegen krank und gebrechlich. Von wegen kleines Püppchen. Von wegen „Hüte lieber die Stube, sonst wirst du nur wieder krank!“ Der Rausch dieser Geschwindigkeit…naja ihrer Geschwindigkeit, denn vermutlich würde ein erfahrener Reiter sie mühelos überholen und dabei sogar noch ein Käsebrot essen…fühlte sich an wie fliegen. Das stille Jurenlager tauchte an ihrer rechten Seite auf und selbstverständlich sahen nicht einmal die Pferdeherren sie graziös, wie Hummel vorbeigaloppieren. Ihr Vater hatte Unrecht. Ihre Brüder hatten Unrecht. Denn hier saß sie nun, auf dem Rücken eines Pferdes, lebendig und ohne gebrochene Knochen und nicht einer einzigen lapidaren Schramme. Ständig diese albernen Sorgen. Selbst als sie damals aus Trotz weggelaufen war, haben sie sie gejagt und sofort wieder eingefangen, nur um sie wieder ins Bett zu stecken. Keine Freunde, nur Bücher. Keine Freiheit, nur Einsamkeit.

Ruckartig setzte sie sich auf, zog sachte an den Zügeln von Magna um sie wieder zum langsameren Trott zu bewegen.

Sorge, Jagd und Einsamkeit. Die Idee kam so schnell, wie auch der Rausch abflaute.

Sie wendete mit einem Zug die Drechslerstute und lenkte sie im Trab zu den Toren zum Südwald.

Sie musste die Idee mit den Anderen teilen. Es war nur eine kleine Idee: Hübsch, ein wenig bunt und nur wenig glitzernd, aber vielleicht war es der eine Weg, um den einen Bruder zu finden.

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#5
Sie starrte auf das wunderschöne Buch auf dem Schreibpult. Riesig war es, gebunden in reinem Leinen und dicht gefüllt mit Seiten. Leeren Seiten, die sie immer wieder aufs Neue beim Durchblättern verhöhnten. Arellus wollte, dass sie jene füllte, mit blauschwarzer Tinte und einer eigenen Geschichte. Er wollte, dass sie es verwandelte in jene flüsternde Welt der Zeilen, die geneigte Leser entführen und gefangen nehmen. Sie biss sich auf die Unterlippe und ihr Blick wanderte wieder zu der offenen Tür des Balkons. Verfluchte Gedanken.

Wo war er? Seit sie mit in seine Gemächer gezogen war, war es ein Leichtes seine Anwesenheit auszumachen. Normalerweise. Sein Geruch in den Räumen, die Stimme die von Wänden wiederhallte. Auch wenn er oft später zu Bett kam und manchmal früher aufstand…es gab immer jene Stunden, in denen sie sein Gewicht neben sich im Bett spürte, die Regungen wenn er sich im Traum wälzte. Auch dass er manchmal über Nacht fortblieb, daran hatte sie sich inzwischen gewöhnt. Es gehörte eben zu seinem Wesen. Doch diesmal blieb er lange fort...zu lange.

Zuerst hatte sie sein Fortbleiben in der Nacht vom Tag des Donners auf den Freiungstag bemerkt. Doch das war nicht besonders ungewöhnlich. Das Fernbleiben am Tage und der darauffolgenden Nacht allerdings schon. Seine geliebten Felder lagen wüst und ungepflegt da, nicht einmal abgedeckt vor der Eiseskälte, die sich über das Land gelegt haben. All‘ jene lieb gewonnenen Kleinigkeiten, die er prinzipiell selbst erledigte und niemanden anderen erledigen lassen wollten, blieben aus.

Er war nicht mehr hier.

Sie trat vom Pult weg zu dem Balkon, auf dem Sie in den letzten Tagen schon viel zu oft und viel zu lange verharrte und der schwer an ihrer und ihrer Sorge trug. Der Hof blieb leer. Die stille drückte schwer auf dem Anwesen. Selbst Violetta werkelte für diesem Moment nicht in der Küche der Taverne. Ludger war gewiss irgendwo auf der Jagd und Tidus…tja…der tat mit Sicherheit irgendwelche Tidus-Dinge. Sie ging auf und ab, den Blick mal zum himmel gericht und mal wieder in den Hof.

Bis heute Abend. Solange würde sie ihm noch geben, um heim zu kehren. Ansonsten würde sie ihn suchen gehen..und wenn sie dafür das ganze Lehen mobilisieren würde.

Sie wand sich um und wurde der Bewegung im Hof gewahr…
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