Nachtschatten
#1
Vor 12 Monaten

In endlosen Träumen von Dunkelheit flüstern Stimmen von Möglichkeiten, die niemals waren und Wirklichkeiten, die nie erwachten.
Welten, verschlungen im Schatten und wiedergeboren als rastlose Traumsplitter in fremden Sphären.

Sieh die zerbrochenen Augen im zwiefachen Schatten.
Sieh das Band, das Leben und Tod umschlingt.
Alles ist vorherbestimmt.
Alles ist Ordnung.
Nein.
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#2
Vor 12 Wochen

Es ist beinahe still im alles verbindenden Gewebe, eine atemlose Ruhe wo einst ganze Sippen das Band zum vibrieren brachten. Ein einziges entferntes Echo blitzt einem erlöschendem Stern gleich auf und verbirgt sich dann wieder in Schatten hinter Schatten - nicht rasch genug, als dass der Sucher nicht erkennen würde, welche unwürdige Gestalt noch immer über die Welt wandert, wo andere - Bessere! - verloren sind.

Warum hat ausgerechnet jener überlebt?
Und wer versteckt sich noch?

Da ist etwas, an dass er sich nicht erinnert: Ein heller Klang gerade an der Grenze des Wahrnehmbaren, das Flüstern singenden Glases in unbestimmter Ferne.
War es schon immer da und nur überdeckt von der Gewalt und Präsenz des Unlebens, oder ist das etwas Neues?

Da ist noch anderes, an dass er sich nicht erinnert: Die eigene Vergangenheit ist wie ein ein leeres Blatt Papier.
Kein Name. Keine Herkunft. Keine Geschichte. Nichts, was dem Erwachten verrät, wer er ist, das ihm hilft die anderen, umso präsenteren Fragmente zu ordnen.

So oder so: Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Feind triumphiert hat.

Aus dieser Erkenntnis sollte Wut folgen, aber es ist noch zu mühsam sich an Zorn zu erinnern: Das Gefühl schmeckt wie längst erkaltete Asche, die nicht brennt, sondern aus dem Begreifen rinnt, wie Staub durch vergeblich zupackende Finger. Es spielt keine Rolle wie sehr er sich bemüht zu hassen.

Zu lange gab es nur den Schatten und seine unerfüllten einfachen Forderungen: Fressen. Kampf. Vermehrung.
Zumindest für das Erste ist gesorgt. Die anderen werden sehr bald folgen müssen.
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#3
Vor 8 Wochen

Obwohl der Erwachte vorbereitet ist, überrascht ihn der Moment dennoch: Gerade eben noch war das Band intakt - im nächsten schon ist die Zerfaserung vollendet. Die Präsenz, die gerade eben noch dabei war sich einzufügen, verschwindet wieder:
Separiert. Abgetrennt. Und vollkommen überwältigt.

Ein weiteres Mal. Der dritte Fehlschlag. Ein weiterer passender Kandidat, der vernichtet werden muss.

Es war nie einfach die Saat weiterzutragen, aber die Herausforderung bestand nicht im Akt, sondern in der stolzen Überwindung des eigenen Selbst: Wer einen Teil von sich selbst weitergibt, der bleibt zwangsläufig geschwächt zurück, verliert Monate, sogar Jahre auf dem Pfad der Macht.

Nun scheint es, als hätten die Spielregeln sich geändert: Der tobende Wahnsinnige im sorgsam aufgebauten Käfig ist bereits der dritte vergebliche Versuch die Dunkelheit weiterzugeben. Irgendetwas ist nicht, wie es sein sollte.

Für einen Moment fragt er sich, ob der Uralte den Krieg überstanden hat und schimpft sich selbst töricht: Ohne den Uralten gäbe es das ganze Band nicht mehr. Er ist der Anfang und das Ende und so weit entfernt wie die feindselige Sonne am Horizont. Vielleicht gefährlicher.

Aber der Uralte beantwortet Fragen so wenig, wie der Sturm, dem der Kapitän eines untergehenden Schiffes seine Herausforderung entgegenschreit.
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#4
Vor 6 Wochen

Ein weiterer Fehlschlag. Dieses Mal war das Opfer vollkommen willkürlich ausgesucht, ein armer Bursche, der sich zur Unzeit aus der Sicherheit des Hauses gewagt hatte - gerade rechtzeitig, um die Aufmerksamkeit des Erwachten zu erregen und wie erwartet, war die Verwandlung auch dieses Mal unvollendet geblieben.

Es ist nicht das erste Mal, dass der Erwachte seine begrenzten Kenntnisse verflucht: Es gab andere, die sich der Erforschung aller Details dieser Existenz verschrieben, aber sie sind nicht länger im Band zu finden.
Vielleicht würden sie wissen was zu tun sei, aber sich an diese Gedanken zu hängen ist fruchtlos, nutzlos. Deprimierend.

Es ist dieser Moment, in dem die verhangenen Wolken der Erinnerung aufklaren und für einen Moment sieht der Erwachte den Bleisarg mit den Schutzzeichen vor sich. Sieht, wie er selbst sie einer Vorlage folgend ergänzt, erweitert.
Der Sarg in dem er später gefesselt wurde. Durch wen? Warum?

Das Bild beantwortet diese Fragen nicht.
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#5
Vor 4 Wochen

Der Erwachte erinnert sich an den Feind.
An einen Krieg der im Schatten geführt wurde, so tief, dass nicht einmal seine Geschwister in der Lage waren hindurch zu sehen.
Er erinnert sich an die Diskussionen nach den ersten Opfern.

Wer war es, der die Jäger jagte?
Keiner der so sorgsam platzierten Spione schien etwas zu wissen und mit jedem Vernichteten wurde die Unruhe grösser.

War der Feind in der Lage die Verbindungen im Band der Schatten zu bemerken?
War der Feind befähigt die Maske zu durchblicken und die Wahrheit zu sehen?

Einige der Geschwister flohen. Andere rotteten sich voller Tatendrang zusammen.
Die Leere im Band sagt dem Erwachten, dass das eine so vergeblich war, wie das Andere.

'Was habe ich damals gewählt?'

Da ist nur Stille, wo eine Erinnerung sein sollte. Eine Wahrheit, verborgen unter Abgründen, die über all die Jahre in Gefangenheit aufgerissen wurden.

Und kein Feind.

Waren keine Wächter aufgeschreckt worden durch das eigene Erwachen? Hatte der Feind sich vom eigenen Sieg berauscht so weit zurückgezogen, dass ihm die neue Präsenz entgangen war?

Niemand war gekommen um ihn herauszufordern.
Noch nicht.
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#6
Vor 2 Wochen

Er erkennt die Frau am Echo ihrer Saat, die gleichzeitig vertraut und vollkommen fremd erscheint und jetzt nimmt er sich die Zeit sie aus eigenen Augen zu beobachten. Damals war diese Saat das einzige, was ihn davon abhielt die beiden Lebenden anzugreifen - sie bedeutete Ungewissheit und Ungewissheit bedeutete Gefahr. Daran hat sich nichts geändert, aber die Möglichkeiten sind dünner geworden als Nebel unter dem erstarkenden Schein der Sonne.

Fressen oder gefressen werden - der Schatten kümmert sich nicht um Zwischentöne, aber genau über diese Schleier von grau in grau denkt er nun nach, während am Horizont bereits die erste Helligkeit zu erahnen ist und die tiefen Schatten weicher macht.

Etwas flüstert von Hoffnungen und der Erwachte lauscht.
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#7
Vor einer Woche

'Warum bin ich hier?'

Es gibt keine Erinnerung an den Tag an dem die Einkerkerung ihren Anfang nahm, aber dennoch sieht er in aufblitzenden Fragmenten gelegentlich den wuchtigen Bleisarg vor sich und die darin eingravierten Schutzzeichen.
Da ist die Ahnung von Erklärungen und Plänen, die im Schleier des Vergessen verloren liegen, zunichte gemacht von der erzwungenen Starre.

All das begann an einem anderen Ort und nach all den langen Nächten des Erwachens fällt ganz unverhofft eine Wahrheit aus den noch immer ungeordneten Fäden der vom Wahnsinn verwüsteten Erinnerung und er weiss wieder, wie er gerufen wurde.
Eine ganze Flut folgt diesem ersten Tropfen, zeichnet die Stationen eines Lebens, schärft Gewohnheiten und Gewissheiten, füllt die Zwischenräume mit Hoffnungen und Verlangen.

Zum ersten Mal betrachtet der Erwachte sich selbst und er begreift.
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