Das Leben einer Zecke
#1
Zecken sind missverstandene Tierchen. Man unterstellt ihnen ganz zu Unrecht, sich zu bereichern. Dabei lieben Zecken das Leben. Sie beißen sich in weiche Körperstellen und saugen sich an ihrem Gastgeber fest, bis sie als plumpe, kleine Kügelchen abfallen und das Bisschen Leben mitnehmen, das sie ihrem unfreiwilligen Wirt entrissen haben. Wer möchte es ihnen verdenken? Es ist eben ihre Natur.

Da war es doch sehr verwunderlich, eine Zecke dabei zu beobachten, wie sie in Richtung der abgelegeneren Krypten am Rande des Löwensteiner Friedhofs wanderte. Der unwissende Betrachter mochte in der Gestalt eine Hinterbliebene vermuten, eine Trauernde, die wie Hunderte vor ihr mit gesenktem Kopf über das Feld der Toten schlich, während sie stille Tränen weinte. Doch sie war keine von ihnen. Sie lebte gut, weil sie zeckengleich fortwährend anderes Leben schwächte. Doch wer mochte es ihr verdenken?

Wie die Friedhofsbesucher vor ihr wusste sie, wohin ihre Schritte führen sollten. Wenn sie den Friedhof betraten, tanzten die Buchstaben der geliebten Namen vor ihren Augen. Sie wussten bereits, wie das Marmorschild aussehen würde, das ihren Schmerz, den sie niederzukämpfen gelernt hatten, wieder ins grelle Licht zerren würde. Sie bereiteten sich vor auf das Gefühl von Verlust, das einem das Herz sprengen mochte.

Die Zecke aber tat nichts dergleichen. Kurz verharrte sie inmitten der Kryptenansammlung im hinteren Teil des Gräberfelds. Ihr schwarzes, verkümmertes Herz frohlockte, denn sie ahnte, wie ihr die bevorstehende Tat den Aufstieg bereiten würde. Die nächste Stufe war in greifbarer Nähe. Sie würde sich ansaugen mit Erfolg, durch das, was zu tun sie im Begriff war. Oh, der Meister würde sie loben. Seine sorgende Hand würde sich auf sie legen. Die Aufregung brachte sie ganz durcheinander. Beinah hätte sie die richtige Krypta verpasst. Streng gemahnte sie sich zur Vorsicht. Es galt, schnell und sorgfältig zu sein.
Sie blickte sich um. Hier hinten war es noch stiller als im südlichen Teil. Die Reichen, die sich eine Krypta leisten konnten, erhielten nicht so oft Besuch. Vielleicht schämten sich ihre Verwandten zu sehr über ihre Erbschaften und das prunkvolle Leben, das nur auf Kosten der Toten möglich war.

Die Wollfußwickel störten die schwere Stille der auserwählten Krypta nicht. Totenstille heißt nicht umsonst so. Es war ekelhaft ruhig. Die Zecke ließ sich davon nicht beirren. Sie fand, was sie suchte. Der Sarkophag stand unverrückbar und felsengleich an der Längsseite. Vielleicht lagen in dem steinernen Grab unendliche Reichtümer, glänzende Münzen, schillernde Rubine? Es interessierte sie nicht. Der einzige Gegenstand, der für sie von Interesse war, prangte in schönster Unauffälligkeit auf dem Sarkophag. Es war ein unscheinbarer, gelblich angelaufener Totenkopf. Daneben eine Plakette. Die Zecke las, ohne die Lippen zu bewegen, worauf sie stolz war:

Hilda Tannenzweig
1120-1145
Geliebte Tochter, geliebte Schwester.
Ihr Leben galt Mithras.
Unschuldig in die Gewalt von Hexern gelangt, starb sie im Dienst an dem Einen.
Bis zuletzt hielt Hilda an ihrem Glauben fest und setzte dem Bösen das Licht entgegen.
Ihr Leib mag gebrochen sein, doch ihr Glaube lebt in uns fort.
Mithras obsiegt!


Frech legten sich ihre Hände um den Schädel. Ah. So einfach machte man es ihr also doch nicht. Da war Mörtel zwischen Schädel und Sarkophag. Aber auf solch ein Hindernis war sie vorbereitet. Mit einem schartigen, alten Dolch bohrte sie nach. Gute drei Jahrhunderte war das her, da hielt der Mörtel nicht lange, was er halten sollte. Der Schädel war ihrer. Er verschwand in ihrer Tasche und sollte das Tageslicht nicht wieder sehen.

[Bild: iCdXD7W.png]
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