FSK-18 Yngvar
#1
Von Sünde und dem Aufbruch

Die im Mondlicht weiß glänzenden Schneeflocken segelten unermüdlich vom in vollem Mondlicht erhellten Firmament gen Boden und ließen sich, gleichgültig ob ihres kommenden Schicksals, gegen die Scheiben des kleinen Hauses treiben, welches in der tiefen Nacht zwischen den traditionstriefenden Langhäusern Hammerhalls wie ein einsamer Flecken trotzigen Lichtes wirkte, dass der Nacht kleinlaut sein Fortbestehen entgegensäuselte. An den Scheiben verendeten die Schneeflocken nach kurzem Verweilen, als müssten sie noch einmal verschnaufen bevor die Wärme des Hauses sie durch das Glas hindurch hinwegschmolz und in kleinen Rinnsalen zum Erdreich laufen ließ, in dem sie vielleicht irgendwann einmal einer Pflanze zum Austreiben verhelfen sollten. Die Wärme des Hauses, das pulsierende Leben im hier und jetzt, all' das war den zerbrechlichen, kleinen Kunstwerken, die zu abertausenden vom Himmel hinabstiegen verwehrt aber auch gleichgültig, bestand ihr Zweck vielleicht sogar darin, nicht weniger zu tun als den Boden durch ihre Nässe fruchtbar zu halten.

Vielleicht war es jedoch auch nicht die Hitze des Ofens, sondern die Scham, welche die Winterkunstwerke vom Glas gen Boden zerfließen ließ. Im Hause nämlich, scherten sich ein Männlein und ein Weiblein nicht um die Außenwelt. Vielmehr erging sich der gebettete Männerkörper darin, unter wohligem Stöhnen, mit leichtem Schweiß benetzt und durch stetiges Winden seines Leibes einer fürchterlichen Erregung Luft zu machen, die das Weiblein dort an ihm manipulierte. Tatsächlich entzückte sich das ebenfalls splitternackte Fräulein daran, neben des Mannes durchaus ansehnlichem Körper sitzend zu verweilen. Ihre feingliedrigen Finger umschlossen des Mannes ganzen Stolz, während das Weiblein sich ihren Körper zudem selbst verzückte, ob des Mannes Reaktion auf ihr unsittliches Tun. So legte sie Hand an das, was jedem frommen Fräulein den Atem hätte stocken lassen und empfand die höchste Freude dabei als des Mannes Gemächt zwischen ihren Fingern zu höchst Lust explodierte und das Weiblein mit seinem warmen Tau benetzte. Der Ekstase Schrei des Mannes sei es verdankt, dass diese finst're Mar ins Licht geholt ward, als ein polterndes Laufen das Auffliegen des Mannes Zimmer schon von weitem ankündigte. Erschrocken und plötzlich furchtsam und verletzlich sahen Bruder und Schwester vom Bette zu ihrem Vater, der anhub erst zu greinen und dann zu fluchen. Es war, so mag man sich einig sein, kein Abend der wohl mehr als eine Randnotiz in der Familienchronik werden wird, so schmachvoll sollten dessen Ereignisse sein.

Der nächste Morgen brachte vielleicht einen Hauch der Erleichterung, gepaart mit der Trauer, ihren Sprößlingen Lebewohl zu sagen, als der eine sich in Richtung Hauptstadt und Servano aufmachen sollte, während sie den Weg nach Silendir zu beschreiten hatte. Was eines Priesters mahnende Worte nicht vermocht, sollte eine große Pilgerei richten und im Dienste an des einen Herrn kulminieren, der alle Sünde zu tilgen wusste - und wenn dies im Feuer eines Scheiterhaufens passieren musste. Es war ein schrecklicher Abschied, wenngleich Bruder und Schwester mehr umeinander trauerten, als um den Verlust des Elternhauses, hatten sie doch noch den Geschmack des lustvollen Nektars der vergangenen Nacht auf den Lippen. Während sich die Spur von Vigdis Stein, dessen zarte Hände ihren Bruder umgarnt hatten, auf den Pfaden des verschneiten und kühlen Nortgard verliert, leuchtet uns der Pfad des tapferen Yngvar heim nach Servano und schlussendlich nach Löwenstein, dessen Tore ein anderer veränderter Mann durchschritt. Das liebevolle Säuseln, dass er seiner Vigdis entgegenbrachte, war verschwunden und durch den Willen ersetzt worden, sich der Prüfung zu stellen, die zweifelsohne nicht nur eine Strafe elterlichter Liebe und mithrastreuer Fürsorge war, sondern auch eine letzte Handreichung des Einen, die ihn vielleicht noch davor bewahren konnte, seine Seele an die finsteren Mächte zu verlieren, dem Herrn Mithras entgegenstanden.

Viele Menschen hatte Löwenstein gesehen und die meisten davon gingen gebückt durch die Stadttore. Manche hatten schwer zu schleppen, weitere waren erschöpft und wieder anderer gingen gebückt, aus Liebe zu ihrem Adeligen. Nicht jedoch Yngvar Stein. Dieser Mann, kein Berg wie man ihn aus Nortgard erwarten würde, jedoch eines Körpers zu eigen, in dem sich Stein und Stahl im Härtegrad messen ließen, ging erhobenen Hauptes und in gerader Haltung durch die Tore der Stadt, im Wissen, dass allein der Glaube den Berg versetzen konnte, der ihn von der Sünde reinigen würde.
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#2
Im rechten Licht

Löwenstein spielte auf der Klaviatur des Lebens seiner Einwohner – und es spielte meisterlich. Jeder neue Tag brachte auch ein neues Stück auf diesem altehrwürdigen, gottgeschmiedeten Flügel. Der Tag begann mit der Harmonie des heraufziehenden Morgens, der Sonne, ja Mithras höchstselbst, wie er sein wachend' Auge über Stadt und Land ausbreitete. Und während die Feuchte der Nacht noch vom Antlitz der Welt unter seinem wachenden Auge weggebrannt wurde, begann die Stadt einen weiteren Akt aufzuspielen.

Voll von Dissonanzen und ungleich weniger harmonisch krochen die Menschen aus ihren Behausungen und begannen ihr Tagewerk. Das hässliche Gesicht von Löwenstein, es begann sich in diesem emsigen Treiben zu manifestieren, bis auch der letzte Mensch sich auf die Straßen getrollt hatte und damit den harmonischen Gleichklang mit Fehltönen zu besetzen begann. Man konnte nun betrübt darüber sein, dass die Schönheit dieses Zentrums aller Lehen in all' dem Grienen und Poltern unterging – oder man konnte seine Ohren noch etwas weiter spitzen. Was nämlich anfänglich wie eine Aneinanderreihung einzelner, unzusammenhänger Störgeräusche im großen Instrumentarium dieser Stadt anmutete, erhielt den Klang mithrasgefälliger Harmonie und Ordnung, wenn man nur genau zuhörte. Den Schmied aus fernen Baronien zog es täglich erneut auf dem gleichen Weg zur Markthalle, wo er seine Waren feil bot, genau wie Bauern Servanos ihren Posten auf dem Marktplatz bezogen und anpreisend, schreiend und grölend ihre besten Erträge feilboten, nur um später auf den gleichen Wegen wieder auf ihre Äcker zu gehen, damit sie am kommenden Morgen erneut auf dem Marktplatz stehen konnten. Es waren immer die gleichen Wege, die gleichen Lebenslinien, die sich durch das Aderngeflecht dieser Stadt zogen, die, je länger man sie betrachtete, aus natürlichem Antrieb, ohne dass sie es bemerkten, sich der Ordnung Mithras' fügten. Gleich ob Mondwächter oder im richtigen Glauben stehend, gleich ob tiefgläubig oder nur alltagsverehrend, die meisten von ihnen hielten sich an das Geflecht der Ordnung, dass unser einziger Herr über die Welt gebracht hat, als die lange Nacht von Sklaverei und Blutzoll endete. Das mochte die Andersgläubigen nicht weniger falsch in ihrem Denken machen, wohl aber zeigte es die umfassende Allmacht des einzig wahren Gottes, dessen wundervolle Herrlichkeit selbst dort schien, wo sich die Menschen von ihm abgewandt hatten.

Als der goldene Ball über den Dächern Löwensteins stand und den Tempel des Mithras in ebensolches Licht tauchte, wirkte es auf den einstigen Sünder, der sich mittlerweile in der Anwartschaft der Sonnenlegion befand, als wäre es die Hand des Herrn höchstselbst, die in wundervollem Licht über die Häuser seiner Stadt strich. Ja, es war seine, Mithras' Stadt. Und er konnte über Fall oder Glorie dieser Stadt, in der Licht und Schatten täglich miteinander rangen, besser urteilen als jeder andere, wurden doch die Grundsteine auf die Initiative seiner Herrlichkeit und Größe hin gelegt.

Das Morgengebet bereits hinter sich, drückte Yngvar seinen auf Füße und Hände gestützten und gerüsteten Körper mittlerweile immer wieder aus der Bodenlage hinauf, in eine gerade, horizontale Haltung. Die Atemwolken, die sich dabei von seinem Mund absetzten, wurden kontinuierlich größer und wenngleich er Übungen dieser Art nicht mit vielen Wiederholungen bedenken konnte, hatten sie ihm bereits viel dabei geholfen, die kühle Klarheit und Einsicht, die von den Gebeten an den Herrn zurückblieb, länger greifbar zu halten. Und solange er Methoden gefunden hatte, seinen Geist vollständig von allem zu reinigen, was nicht dem Kontext Mithras' entsprach, würde er diese anwenden – immer und immer wieder.

Er hatte bereits selber angefangen sich zu fragen, wie er so schnell nach dem Rettungsanker der Kirche nicht nur gegriffen hatte, sondern die Kette mittlerweile zum großen Schiff der Gefolgschaft des Einen und Wahren mit ausladenden Bewegungen emporkletterte. Wenngleich die Frage sich aufdrängte, fiel die Antwort gleichwohl simpel aus: All' das Laster und die Sünde, die ihn aus seiner Heimat weg und in die Arme der Kirche getrieben hatte, waren ihm zutiefst zuwider gewesen. Sein bisheriges Leben war von der Furcht geprägt, niederen, hässlichen und gänzlich unkeuschen Trieben nachzugeben, während er nach außen die Fassade des stolzen und ehernen Sohnes eines guten Hauses aus Nortgard vorgeben musste, gleichwohl er und seine Schwester das innerste seiner Familie mit Verwesung durchhöhlt hatten. Kontemplationen dieser Art hatten stets zur Folge, dass die Splitter des Lasters, dass in seinem Kern bereits zerbrochen war, sich in kurzen, aber hässlichen Schüben durch seinen Leib bohrten – und so auch jetzt. Die reine Erinnerung an seine Schwester führte dazu, dass sein Geist automatisch das Bild ihres nackten, vollkommenen Körpers aus den Tiefen seiner Seele zurückholte, wo er es bereits ver-, nein, begraben glaubte und sein Körper folgte der Verknüpfung, die er mit diesem Bild hatte, indem das männlichste seiner Körperteile in freudloser Erwartung anzuschwellen begann.

„Mehr Wiederholungen“ empfahl sich der Anwärter Stein, als eine weitere, nun gequältere Wolke heißen Atems sich dem Körper entsagte und einen letzten Kuss von Wärme und Vergänglichkeit auf die zermarterten Züge seines Gesichts zeichnete. Die Schweißbildung unter Kleidung und Rüstzeug begann mittlerweile Juckreiz auszulösen, der glücklicherweise in Kooperation mit der Anstrengung dafür sorgte, dass das Bild des lastervollen Geschwisterchens schnell verschwand – schneller als sonst. Ein Erfolg.

Als er sich, die Glieder müde und weich, aus der Selbstmarterung und gleichermaßen Ertüchtigung erhob, betrachtete der Anwärter einmal mehr das Lied, dass die Stadt nun spielte und die Dissonanzen blieben fort, waren Momenten der Klarheit gewichen, die sich ihm vom Dach des Tempels in ihrer vollen, majestätischen Schönheit, ausbreiteten.

Es galt nun, mit frischem Wasser die Schwäche aus dem Leib zu spülen und damit neuer Kraft Platz zu schaffen. Es war nur noch eine Nacht bis zur Lichtwacht und es würde sicher noch viel zu tun geben, auch und insbesondere für einen Anwärter der Sonnenlegion.

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#3
Das Feuer

Oft sind es die kleinen Momente, die uns weitaus mehr lehren als jene, die groß und zeremoniell begangen werden. Der Anwärter hatte gehofft und wurde darin bestätigt, dass der Tag der Lichtwacht auch der sein sollte, an dem die Novizin Eylis zur Legionärin Eylis berufen wurde – berufen in der dunkelsten und längsten Nacht, die ein Leben unter Mithras kennen sollte. Unter dem Feuer eines Scheiterhaufens, der auch die letzten Sonnenstrahlen unter des einen Herren Wacht in sich aufnahm um das Feuer noch höher lodern zu lassen, war es die wohl höchste Ehre, die ein Sonnenlegionär an diesem Tag empfangen konnte.

Das Feuer hingegen, beeindruckte auf seine ganz eigene Weise indem es, einmal heraufbeschworen, wie ein flammender König vereinnahmend über den Platz zu herrschen begann. Zwar zelebrierte die Kirche ihre Riten, jedoch und vor allem auch bestärkt durch das Feuer. Aber – der vermutlich wichtigste Punkt – das Feuer war das Zentrum des Abends. Es war die eine unverschlingbare Bastion gegen das Dunkel, dass keinen Leib und keine Form kannte, unantastbar für Klinge noch Pfeil. Noch viele Stunden in dieser Nacht würden sich die Flammen im wachsamen Blick des Anwärters spiegeln und ihn schleichend, Stunde um Stunde, mehr für sich vereinnahmen. Indem sie Gnade und Güte zeigte und dem Anwärter die ersten Stunden noch Wärme in seiner Wacht schenkte, offenbarte sie jedoch auch Stunde um Stunde mehr die verbrannten Reste dessen was einst noch schadloses Holz gewesen war, als wolle es zeigen:“Sieh her, dieser Ort ist mein. Hier herrsche ich und hier verschlinge ich, was mir zu nahe kommt.“

Und obschon man es nichts geringeres als „Verschlingen“ nennen konnte, gab die Flamme auch, für alles was sie nahm. Nicht nur, dass sie, getrieben durch Opfer und Brennholz Wärme gab, nein sie veränderte auch all jene Dinge, aus denen sie Wärme und Feuer hervorbrachte. Es war dieser Widerstreit aus Güte und Zerstörung, die des Anwärters Blick immer wieder ins Feuer zog und ob der zornesgleichen Glut wieder den Blick auf die Welt daneben und dahinter wieder von sich wegschob. Die Welt daneben und hinter – sie war ein Statist geworden in der wundervollen Feuersbrunst, die erst in einem Jahreslauf von diesem Tag an wieder so hoch brennen würde. Diese Erkenntnis widerum rief urplötzlich ein Gefühl der Traurigkeit und der Verlustangst aus, als sei es grundverkehrt, dass Feuer erlöschen zu lassen. Der Nortgarder begann sich bei dem Gedanken zu ertappen, wieviele Bäume man wohl fällen müsste, um das Feuer stoisch bis zur nächsten Lichtwacht brennen zu lassen. Was für ein glorreicher Tribut an Mithras ein derartiges Feuer wäre!

Als er diesen Gedanken immer tiefer in das Labyrinth der flammenden Wohltat folgte, fühlte der Anwärter sich mehr als einmal im Tanz der Flammen einem Taumel nahekommen, der Verlockung des Feuers nicht mehr wiederstehen könnend, dieser sagenhaften Glut, die so wundervoll brannte, als wäre sie aus Mithras' Adern direkt in die Welt hineingetropft und all' jenen die Willens waren, die Last der Erkenntnis zu tragen, die Glorie seiner rotgoldenen Macht offenbarte. Die Welt war nicht mehr nur in den Hintergrund getreten, sie verschwand vollständig und bestand für die Momente dieses heraufziehenden Taumels nur aus Feuer und Glut. Es war ein wundervoller Tanz, voller Schönheit und Anmut. Schöner und verzückender als jeder Frauenleib es je sein würde und einzigartig rein in seiner Form und seinem Zweck. Es gab nichts ehrlicheres, nichts erstrebenswerteres als die Flamme, dieses reinigende, wundervolle Feuer, dass allen Makel aus der Welt brennen konnte. Es war Krieg und Frieden, Mittellosigkeit und Wohlstand, Freude und Trauer – das Feuer war alles zugleich und es war darin vor allem eines: Absolut vollkommen.

Umso plötzlicher verging der Taumel, als der Blick des Anwärters durch einen vorbeiziehenden Passanten nicht mehr nur vom Feuer fremder Verlockungen erfüllt wurde, sondern vom Hier- und Jetzt gleichsam durchmischt wurde. „Zu früh ...“ murmelte der Anwärter gedankenverloren und ungehalten zu sich selbst, wie auch zur Irritiation des vorbeiziehenden Mannes, der ihn daraufhin anblickte und möglicherweise einen Schritt schneller nach Hause eilte.

So verging die Nacht darob weitgehend ereignislos, wenngleich dem Anwärter die Erinnerung wie ein Brandmal im Kopf bleiben würde, dass niemals unberührt zurückkehrte, wer sich dem Flammenmeer, das Mithras bedeutete, bereitwillig hingab.

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#4
Die Pforte

Irgendwo, im fernen Silendir, mochte noch zu später Stunde eine Frau, die sich gerade erst der dortigen Splitterkirche unter Hermeno Falkner angeschlossen hatte, in ihrem Bett liegen, die Beine angewinkelt und darauf ein Schreibbrett aufgesetzt. Sie war schon seit Wochen nicht mehr dazu gekommen, mehr als die zu ihrer Lehre gehörigen Worte in Schrift zu bannen und so kam es, dass sie es höchst entspannend fand, nun, das erste mal seit langem, etwas zu tun, dass einzig und allein ihrem eigenen Seelenheil helfen würde. „Liebster Bruder, ...“ begannen ihre Zeilen, als die Erinnerungen gleich einem Platzregen im Sommer auf sie niedergingen und darum kämpften, einen Platz in den spärlichen, wenigen Zeilen des Pergaments zu finden.

Zur gleichen Zeit, im für den einen oder anderen vergleichsweise nahen Löwenstein, saß ein Mann in gleicher Pose und auch er hatte sich erst kürzlich der heiligen Sache des Mithras verschrieben. Im Gegensatz zu ihr hatte er es jedoch vermocht, eine Anwartschaft um einen Platz in der Sonnenlegion der heiligen Kirche des Mithras in Löwenstein zu erhalten – der althergebrachten, der einzig wahren Mithraskirche. Seine Hand war, begleitet von einem nachdenklichen Blick über das Holzbrett gefahren, das „Schreibbrett“ - eine der wenigen Habseligkeit aus seiner Heimat. Anwärterin Wehmer hatte zu Recht Beschwerde darüber geführt, dass man in so einer Position kaum schreiben konnte – und sollte. Wenn niemand zusah, riefen derlei Erinnerungen und Situationen ein ehrliches Lächeln auf die Züge des Mannes, der es mit jedem Tag mehr vermochte, das Externe – die anderen, die Umwelt auszusperren, so es erforderlich war. Ein letztes Mal würde er dieses Relikt, diese Erinnerung an ein altes Leben, nutzen. Und so begann auch der Mann seine Zeilen in klarer und geübter Handschrift. „Liebste Schwester, ...“ begann er, als könnte der gleiche Beginn der beiden Briefe ein Tor in eine Welt aufstoßen, die besser war, als diese.

„Meine Reise war, wie vermutlich auch Deine, beschwerlich und von so vielen Entbehrungen gezeichnet. Nicht nur, dass ich täglich weinen musste, nun da ich von Dir vermutlich auf ewig getrennt sein werde, auch vermisste ich besonders in den kalten, mondlosen Nächten, Deinen warmen, schützenden Leib, der mir doch stets wie ein Mantel der Unbesiegbarkeit war. Zusammen waren wir unschlagbar, mein Liebster und der Gedanke gibt mir Hoffnung, dass wir es noch sind.“ Die ersten Zeilen flossen förmlich aus der Hand der Frau, als würden Feder und Pergament ihren eigenen Tanz vollführen, in dem Tinte und Papier eine eigene Kunstform beschrieben. Die Frau wurde zur Statistin – und sie lächelte. „Weisst Du, dass ich auf einem von Vaters alten Schreibbrettern schreibe? Wenn er gewusst hätte, dass sein elender Schreibunterricht der Anfang war, der Anfang von allem was später unsere Ketten sein sollten, er hätte uns vermutlich das Lesen und Schreiben verboten. Ich vermisse es, die Zeilen, die wir damals einander schrieben, Dir vorlesen zu können.“

„Ich wünschte, Du hättest bei mir sein können,“ schrieb der Anwärter der Mithraskirche derweil in seiner ganz persönlichen Arena, in der Tinte und Papier gleichwohl die magische Pforte beschrieben, die von der Frau in Silendir genauso aufgestossen wurde. „Ich wünschte, Du hättest bei mir sein können, als ich gezwungen war, einem Menschen, wenngleich Tagedieb, das Leben zu nehmen. Erneut. Du warst damals für mich da, als ich keine Wahl hatte und ich hatte sie auch diesmal nicht. Mein Lohngeber hingegen verstand nicht, dass mich der Gedanke daran, was der Tod dieser armen Kreatur ausgelöst haben könnte, beinahe zerriss und ich fürchte etwas in mir starb auf dieser Reise, die mich immer weiter von Dir trennte. Löwenstein hingegen, baute mich auf. Die heilige Kirche des Mithras ist ein Ort der Erkenntnis und der Einkehr und auch wenn die Regeln streng, die Arbeit hart und die Bedrohungen durch Hexerei und andere finstere Mächte realer ist, als ich je zu träumen wagte, fand ich hier eine Familie, die mich auffängt, wenn es erforderlich ist. Ich hoffe, Du hast dort, wo sie Dich ausbilden, den gleichen Erfolg und die gleiche Art von neuer Familie gefunden, Liebste.“

Sie hingegen, konnte nicht mehr als nachdenklich und überrascht zugleich betrachten, wie die Feder Worte in Schrift überführte, die ihr gefühlt nicht unwesentlich schneller in den Sinn kamen, als sie bereits im Papier verewigt waren. Die kleine Kerze neben dem Bett der Frau war mittlerweile die einzige, die noch im Schlafsaal brannte. „Wenn es nur einen Menschen gäbe, mit dem ich überhaupt etwas teilen könnte.“ schrieb die filigrane Hand der Anwärtersschwester weiter und sie spürte dabei diesen Dorn in ihrer Brust, der dieses kriechende Gefühl von Traurigkeit auslöste, wenn ihr bewusst wurde, was sie alles hatte aufgeben müssen. "Wochen sind vergangen und hier gibt es niemanden, den ich Freund oder Familie nennen kann und ich zweifle, Bruderherz. Ich zweifle, dass Vaters Entscheidung richtig war und ich zweifle, dass ich das hier überstehe. Die Erinnerungen an die Heimat, an uns, an das Leben das eigentlich doch sehr gut war, sind zu mächtig, als dass ich mich ihnen entziehen könnte und ich glaube, ob dem was wir hatten, werde ich gemieden. Obschon ich in einem Gebäude voll von Mithras-Dienern bin, bin ich einsam und mein Herz zerspringt in Nächten wie diesen, in denen ich das Gefühl habe, nicht vor, noch zurück zu können. Hilf mir.“ Eine einsame Träne rann der Frau die Wange hinab und tropfte mit einem dumpfen „tock“ auf den Holzrand des Bretts.

„Ich kann nicht umhin, Vaters Weitsicht mit Demut und Respekt zu begegnen.“ setzte der Anwärter hingegen sein Schreiben in die Einsamkeit fort. „Ich vermisse, dass wir einander so viel mehr teilen konnten, als ich es jenen, die mir hier in der Kirche lieb und teuer sind, überantworten wollte, aber würde, wenn sie danach fragen. Die Offenheit, die Selbstoffenbarung, meine Liebste, war das Beste, was ich tun konnte und ich glaube sogar, dass es mir bei einigen der Meinen überhaupt erst die Tür aufgestossen hat, ihren Respekt zu verdienen. Wenngleich die Tage lang und das gute Werk an Mithras schwer ist, fühle ich mich stärker denn je, beinahe schon unbesiegbar, ob der tiefen Einsicht und Klarheit, die jeder Tag mir aufs neue bringt. Ich bin geformt worden, meine Liebste – zu einem willigen Gefäß des Herrn, das nach den Flammen leckt und nicht weniger will, als das Licht dorthin zu bringen, wo nur Schwärze regiert. Mithras mag vielleicht nicht der Anfang aller Welt gewesen sein, aber er ist der Anfang unserer zivilisierten Welt. Der richtigen Welt, die das göttliche Recht hat, sich über alles andere zu erheben. Ich werde nun schließen, meine Teuerste, vielleicht zum letzten mal, auf diesem alten Brett, dass nicht mehr als eine Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit ist, die zwar wundervoll, aber auch voll der Laster war. Ich wünsche mir, dass wir eines Tages wieder zusammenfinden, wenn der Tag der ewigen Sonne bevorsteht, von dem an keine Nacht mehr über die Welt hereinbrechen und sie vollkommen sein wird.

Ich liebe dich,
- Yngvar.“


Die Schwester hingegen hatte mittlerweile aufgehört zu schreiben und ihr Licht gelöscht, als man sie hieß, endlich die Nachtruhe einzuhalten. Das Brett mit den Zeilen presste sie noch die ganze Nacht fest an ihren Körper und ließ den Tränen ihren Lauf, der wohl noch lange ihren Weg säumen sollte, an dem ihre Träume und Hoffnungen im Tagestakt zerplatzten wie Seifenblasen, die von einem verirrten Insekt getroffen werden.

Der Bruder widerum hatte sich mittlerweile in den Hof der Kirche begeben und sich die wenigen Minuten genommen, besagtes Schreibbrett mitsamt der verfassten Zeilen einem Feuer zu übergeben und somit die letzten Seile zu kappen, die ihn noch an seine Vergangenheit gebunden hatten. Ein kurzer Augenblick, in dem er schreckliche Furcht und Einsamkeit spürte, als die Flammen das Papier zu verschlingen begannen, wurde als der Zweifel daran abgetan, den Mut aufzubringen, sich ganz seinem neuen Leben zu verschreiben. Anschließend nutzte er noch die letzten Stunden, die ihm bis zur Wachablöse blieben und schlief erstmals seit vielen Tagen so tief wie ein Stein.

[Bild: Pforte.jpg]
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#5
Des einen Pfades Ende.

Die Nacht war in den Tagen der Anwartschaft Yngvar Steins ein steter Begleiter geworden, in diesen Tagen, die so voller Greuel und Monstrositäten waren, die der heiligen Mutter Kirche aus allen Richtungen drohten. Die stetigen Nachtwachen hatten den Schlaf der gewohnheitsmäßig zu diesen Zeiten anstand nach und nach zu einem obskuren Ding werden lassen, dessen Nähe man nur suchte, wenn es ausnahmsweise keine Order der Legion zu erfüllen gab. Der eigene Körper war zu einem willigen Gefäß geworden, dass sich zu allen Tageszeiten mit den Befehlen der Legion füllen ließ.

Nur in dieser Nacht nicht. Yngvar hätte schlafen können, die Ruhe finden, die er in den letzten Tagen nicht bekam und auch beinahe nicht mehr wusste, wie sich ein entspannter Körper anfühlte. Er hatte sich seit seiner Einkehr in die Legion selten so gefühlt wie in dieser Nacht, in der seine Gedanken den Schlaf- und Wachzyklus vorgaben und ihm die wohlverdiente Ruhe versagten, solange sie in seinem Kopf Debatten zu führen pflegten. Das Pochen dieses innerlichen Aufbegehrens wurde bereits nach nicht einmal einem Stundenlauf so stark, dass der Anwärter sich wieder Kleidung anzog und die Hallen des Tempels verließ – ohne dabei die Schärpe oder sonst ein Erkennungszeichen der Legion anzulegen. Eylis hatte ihm ins Gedächtnis rufen wollen, wie sehr es wichtig war zu verstehen, was man schützte und so sicher er sich auch war, dass es keinen Weg zurück auf dem goldweißen Pfad von Mithras gab, so sehr beschäftigten ihn die Worte der bisweilen stocksteifen Legionärin doch. Viele mochten ihr das Stocksteife als Nachteil auslegen, doch hatte ihre Steifheit bislang vor allem auch bedeutet, dass sie so viel Kreuz wie zwei Männer zeigen konnte, wenn es drauf ankam. Eine kluge Anführerin, deren Worte man, vor allem als Anwärter nicht, einfach so in den Wind schlagen durfte.

Und so fand sich Yngvar recht schnell in den heruntergekommenen Straßen des Armenviertels wieder und beobachtete aus einer dunklen Ecke heraus das Treiben in der Katz'. Das Ein- und Ausgehen der Kundschaft, den warmen und auf den ersten Blick einladend erscheinenden Lichtschein des Hauses, dass aus dem Dreck des Viertels wie ein Fixpunkt ragte. Es war nicht so, dass die Neugier den Anwärter nicht doch lockte, zumal er über genügend Handgeld verfügte. Ein Umstand, der seinen Oberen zwar besser verborgen blieb, bislang aber auch nie zu deren Nachteil gewesen war, da seine Ausgaben bislang ohnehin nie dem Eigennutz gegolten hatten. „Heute Abend könnte es anders sein..“ waren die Gedanken, die sich ihm manifestierten. Es war klar, dass es hier nicht nur um Gesaufe oder Spielerei ginge. Wenn er dieses Haus betreten würde, würde er zweifelsohne jede einzelne Münze für die beste (und vor allem sauberste!) Hure auf den Kopf hauen, die er finden konnte und Stunde um Stunde nachlegen, als sei sie eine Opferschale, die man nur mit Münzen befüllen muss. Ein interessanter Gedanke, sich das Laster noch einmal in all seiner ausgeschmückten Schönheit anzusehen – zu „leben“, bevor die Zeit der Entbehrungen wirklich begann.

Etwas hielt den Anwärter jedoch zurück, etwas dass an ihm zog – nicht wie dieser kleine lustvolle Dorn, der ihm einflüsterte, dass an den Schenkeln einer Hure schon nichts schlimmes sei - „Nur das eine mal..“ würde er sich später erinnern – nein, das was an ihm zog war wie eine sanfte und bestimmende Hand zugleich, die ihn dazu brachte, sich unwillkürlich über den Arm zu reiben, als hätte sich dort ein Juckreiz breitgemacht. Als hätte dieses Jucken ihn wie ein Fallseil aus den Verlockungen zurück in seinen statuengleichen Panzer katapuliert, den er sonst zur Schau trug, wurde ihm erst auf den zweiten Blick, ohne die Brille derer die sich in perspektivloser Selbstverachtung in die Arme von Suff und Hurerei begaben, klar wie tief verdorben dieser Ort war. Yngvar wurde schlecht bei dem Gedanken dass er beinahe den Verlockungen nachgegeben hatte und milde taumelnd, man hätte ihn für betrunken halten können, suchte er geschwind den Weg hinaus aus dem düstersten Viertel der Stadt und je näher er den ordentlichen Vierteln kam, umso leichter bekam er wieder Luft und vermochte es, die Übelkeit herunterzukämpfen. Der Kommentar eines unbekannten Gesichts in der Dunkelheit, dass ihn mit „Na, einen zuviel gehabt, Jungchen?“ ansprach, ließ ihn kurz panisch werden und seine Schritte beschleunigten sich und erst als die ehernen Mauern des Tempels sich vor seinen Augen erhoben, fand er den inneren Frieden wieder, an dem er so intensiv in den vergangenen Wochen gearbeitet hatte und betrachtete die Tempelmauern nun vom Marktplatzbrunnen aus in beinahe versonnener Manier. Yngvar fragte sich vor allem, ob Ehrwürden Eylis genau das bezweckt hatte.

Die Konfrontation mit dem Laster suchen und obsiegen? War das die Lehre, die sie für ihn ersonnen hatte? Ihre Ehrwürden meinte selten das, was sich auf den ersten Blick offenbarte, sondern drängte in aller Regel auf eine tiefere Wahrheit, die unter dem Offensichtlichen lag. Wie auch immer ihre Intention gewesen war, er vermochte es nun, klarer zu sehen. Er musste keine Hure nehmen, um zu wissen, dass all die Menschen in dieser Welt irgendwann damit begannen, sich ungenügend und fehlerhaft zu verhalten und es nur die Führung der heiligen Kirche sein konnte, die ihre schützende Mauer um die Menschenschöpfung gleich einer zarten Blume schließen musste, auf dass sie in den gepflegten Gärten des Einen zu voller Schönheit erblühe und nicht auf den Äckern von Laster und Greuel zu welken und dorren drohte.

Düster, gar bösartig waren die Laster, die dem Menschen einflüsterten, dass sie eine adäquate Antwort auf die eigene Fehlbarkeit sein würden – in dieser Nacht jedoch, hatten sie nicht triumphiert.

[Bild: 014-allegorie-der-wolllust.jpg]
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#6
Drachentöter

Der Novize flog. Die Wucht eines schlangenförmigen Schemen hatte ihn vollständig getroffen und nun flog er, den Schmerz im Blick tragend, an den anderen Streitern vorbei und seine unrühmliche Begegnung mit der Welt, die sich oberhalb des festen Bodens abspielte endete erst abrupt, als er gegen eine der Begrenzungsmauern der Mühle krachte und die vom Aufprall zugefügten Prellungen und Schmerzen mehrstimmig in seinem Kopf explodierten.

Die Überraschung war hingegen das erste was er spürte, als er vom Boden abgehoben war. Nicht die Überraschung, von der Kreatur getroffen worden zu sein, denn er spürte wie er dem wachsenden Drängen der Kreatur nicht mehr allzu lange standhalten konnte, die anderen Streiter im Chaos aber alle ähnliche Probleme hatten. Nein, die Überraschung war vielmehr, dass er wusste, dass dies nicht das Ende sein würde. Egal wie viele Verletzungen diese Schreckgestalt aus Schatten und Dunkelheit reißen würde, egal wieviel Kraft es kosten würde, sie waren zu weit gekommen um es hier enden zu lassen. Und so war das unvermeidliche schließlich geschehen und die Kreatur schleuderte den tapferen Novizen quer über den Innenhof des tobenden Kampfes und erlaubte ihm damit aus einer einzigartigen Perspektive zu sehen, was vor sich ging: Die vielen Kämpfer, allesamt mit der Waffe und dem Schild voran, die verbissen und verzweifelt Schatten um Schatten bekämpften und dabei jeden Schmerz in Verzweiflung um ihrer Leben willen erduldeten, die Priesterschaft des Mithras, die den Feuern in ihrer Mitte mit innigen Gebeten zubrüllten, sie mögen höher brennen und dabei selbst die Schutzheiligen von Land und Kirche anriefen und auch die Heiler und Fernkämpfer, die dem Geschehen aus zweiter Reihe doch vermutlich viel zu nah waren als sie es gerne gewesen wären.

Und obschon die Schatten sich alle Mühe gaben, die Formationen zu durchbrechen, indem sie verschwanden und wieder neu auftauchten, nur um kurz darauf wieder durch die Nichtwelt zu wandern, dem was dem Auge jedes anderen verborgen war, so war es auch der Ordnung und Disziplin all dieser Kämpfer zu verdanken, die weitgehend ihre Formationen einhielten, dass sie dem Chaos nicht nachgaben. Die Ordnung – unser höchstes Gut. In diesen wenigen Lidschlägen, in denen sich dem Novizen das gesamte Schlachtfeld auf einen Schlag offenbarte, schoben sich die Tage aus jüngster Vergangenheit vor sein geistiges Auge und zeigten ihm diese göttliche Linie all' dessen was geschehen war, auf. Sie waren vorbereitet worden, ohne es zu wissen und ohne es zu sehen. Selbst in diesem Zustand völligen Wahns, in dem Justan sich vor der Kirche versündigt hatte und für so viel Chaos sorgte, dass man meinen konnte, er versuche absichtlich Zwietracht zu sähen, war es, als hätte Mithras seine Hand führend über seine Kinder gehalten und sie durch die Dunkelheit geführt, die der ehemalige Legionär hinterlassen hatte. Für wenige Tage nur war ein chaotischer Zustand eingetreten, der durch seine Exzellenz letztlich gerade gerückt wurde und in der Nachbetrachtung ergab selbst diese Randnotiz einer viel größeren Geschichte einen Sinn.

Die vielen Prüfungen denen sich die Mitglieder der Kirche in den letzten Tagen hatten stellen müssen und die sie bisweilen an den Rand der Erschöpfung und in Teilen sicher auch der Verzweiflung brachten, sie kulminierten in diesem einen, perfekten Moment, in dem auf die Novizenerhebung auch die Erhebung von der Legionärin Eylis zur Novizenmeisterin Eylis erfolgte. Es war als sei dieser heilige Augenblick die Spitze all' dessen, was in den letzten Tagen, Wochen, Monaten an ihren Kräften gezehrt hatte und sich nun in einem einzigen, wundervollen Moment entlud. Perfekte Ordnung, gerade Linien, klare Strukturen. Dieser Moment war ein Fixpunkt im Zeitgeschehen, ein unverrückbarer Augenblick, an dem das Licht des Befreiers so klar leuchtete, dass es in alle Sphären strömte und zeigte:“Wir werden nicht wanken, wir werden nicht fallen. Wir sind aufrecht, wir sind das Licht.“

Beflügelt, beseelt von dieser Erkenntnis, die ihm in jeden Muskel, in jeden Knochen floss, erhob sich der Krieger aus dem metallenen Bündel, dass er bei dem Aufprall war erneut und schritt mit erhobenem Haupt zurück in diese Welt, in der zur Zeit das Chaos regierte. Flammen, Blut und Schweiß mischten sich weiter in einer Welt, die von brüllend über das Schlachtfeld getragenen Kommandos und Schmerzschreien erfüllt war. Diese Schlacht kontrastierte in so vielen Dingen mit dem perfekten Augenblick, den sie keinen ganzen Tag zuvor noch erlebt hatten.

Und das Zentrum dieser Geschehnisse war: Der große, schwarze Verheerer, die echsenartige Kreatur, die mit jedem Flügelschlag den Wahnsinn die Seele hinaufkriechen ließ. War es tatsächlich der Drechslerfluch oder ein abyssaler Schatten, der mit den Ängsten der Menschen spielte? Konnte es beides zugleich sein? Alles in seinem Körper trieb ihn in Richtung der Kreatur, dieses vollkommen Dunkels, dass er aus tiefstem Herzen hasste und verachtete, diese wandelnde Verderbnis, die ihre Schatten wie Puppen auf dem Feld dirigierte. Der Novize klammerte sich an den Augenblick seiner Erhebung und an die Worte der Priester, an das reinigende Feuer, dass die Kreatur immer weiter zu schwächen schien. Und während noch die letzten Schatten zurück auf die Ebene geschickt wurden, von der sie kamen, war eine Transformation zu beobachten, die des Novizen Aufmerksamkeit immer wieder auf sich zog.

Die Feuer, die heilige Präsenz des Herrn vermochten es tatsächlich mit Hilfe der Priester diese unglaublich verderbte Kreatur zu schwächen und sie schrumpfen zu lassen bis sie, nur noch ein kleiner Wurm ihrer einstigen Gestalt, sich in den nächstgelegenen Busch flüchtete, wo tapfere Krieger und bemühte Priester versuchten, nach dem Schattenwurm zu stochern, wie Speerjäger im Fluss nach einem Lachs. Irgendwer würde ihn treffen, ihm den Kopf abschlagen – es war ein Sieg.

Der Novize wollte sich soeben einen neuen Überblick verschaffen, das was noch soeben Chaos war, in eine ihm eigene Ordnung bringen, als er den Schatten sah, der schnurgerade aus dem Busch schoss. Ein kurzer Blick, was wohl am Ende des Weges sein mochte, den der mit weit aufgesperrtem Maul sich windende Wurm mit beachtlicher Geschwindigkeit zurücklegte: Die Erzpriesterin.

Es brauchte nicht einmal den Bruchteil eines Gedanken, als der Krieger, die Muskeln müde, die Glieder ermattet, in einem letzten Anflug von Kraft seinen Schild beiseite warf, seine Klinge fest umgriff und nach der Kreatur auf halbem Wege schlug. Ein Moment verging, als bräuchten seine Augen erst mehrere Lidschläge um zu begreifen was nun passierte. Denn anstatt entzweit vor ihm zu liegen, schlängelte sich das Wesen seine Klinge hinauf. Dem Krieger wurde schlagartig schlecht und als er dieser Kreatur so nah in die schattenhafte, schemenhafte Form blickte, spürte er erneut die Berührung des Wahnsinns und der Verderbtheit, die nach ihm leckte und ihn verlockte.

Aus der Ferne hörte er Ehrwürden Bernau brüllen, die Kreatur sei dem Feuer zu übergeben und nicht weniger würde der Novize tun, wenngleich all' das Geschehen um ihn herum zurücktrat als er seine eigene Stimme in seinem Kopf wahrnahm, die ihn bestärkte, antrieb, nicht nachzugebenmag auch mein Leib vergehennicht zu wankenmag die Erde daselbst in ihren Grundfesten bebennicht den Einflüsterungen nachzugebender göttliche Glanz erfüllt michsich dem Feuer zuzuwendenund macht meine Seele gesund. So sei es.

Dann wurde sein Geist schlagartig leer. Klar. Und alles was er hörte, war stille und er beobachtete sich selbst dabei, wie er auf die Knie fiel, vor diesem Feuer, dass so heiß und wundervoll brannte, als er seine Klinge hineinstemmte, mit diesem Wurm, dem letzten Relikt des Wahnsinns, dass diesen Ort verdorben hatte. Der Krieger überantwortete sich vollständig dem Willen dieser einzigartigen Glorie, folgte dem Feuer und fühlte sich, als sei er aus einem tiefen Schlummer erwacht, der nicht erholsam sondern unendlich kräftezehrend war, als die Kreatur einen tiefen Schrei ausstieß und letztendlich verging.

Was in einer Überwältigung blieb die er noch nie zuvor gespürt hatte, waren nicht nur die Eindrücke dieses Kampfes, sondern auch dieses Gefühl sakraler Vollkommenheit und Heiligkeit, die ihn inmitten des Salzkreises und am Feuer umfing. Ein Gefühl, dass ihn gleichermaßen erfasste, wenn er den Tempel betrat. Ein Hochgefühl, als müsste er in jedem Augenblick, in dem ihm die Gnade dieses Gefühls zuteil wurde, die Waffe aufnehmen und weiterkämpfen, unablässig, pausenlos, bis entweder sein Leib sich auflöse oder er im Kampf fallen würde. Micael, wie auch Phoebe hatten die Veränderung bemerkt, ohne vielleicht ihre Tragweite begriffen zu haben, sich vielleicht sogar gesorgt, dass seine Seele schaden genommen haben könnte, wenngleich das, was die Klerus-Anwärterin später sagte, kaum näher an der Wahrheit hätte sein können:“Ihr seid wie eine Flamme, der man zu viel Nährboden gegeben hat und mit all den Neuen Eindrücken Zeit braucht, sie zu verstehen, Novize Stein.“

Und als der Novize die Gänge des Tempels rastlos abschritt, Ruhe in seinem Bett suchte, später von Micael zur Ablöse geweckt wurde und genauso rastlos vor dem Tempel stand und dabei mehr als sonst vor den Toren auf und abschritt, diesem unbändigen Bewegungsdrang nachgeben müssend, erinnerte er sich immer dieser Worte, die es ihm ermöglichten, diese neue Sicht auf die Welt in strukturierte Bahnen zu lenken. Die Analogie mit dem Nährboden traf zu, denn sein Hunger, stärker zu brennen, sich selber gar zu entflammen an der Gabe des Herrn, verwandelte sich nur langsam in ein Glimmen, ein Schwelen, dass nur darauf wartete, dass man erneut eine Fackel daran hielt.

Für die meisten mochte es vor allem eine Schlacht der Befreiung, das Tilgen eines Übels gewesen sein – für Yngvar Stein hatte diese Nacht die Sicht auf die Welt vollständig verändert.

[Bild: zhaitan__the_elder_dragon_of_death_by_la...6t9o66.jpg]
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#7
Nachtgeflüster

Wohlige Kühle strich über das Gesicht des Novizen, als er zur Decke des Schlafsaals blickte, in dem er eigentlich die nötige Kraft und Ruhe für die kommenden Tage hätte finden sollen. Das Mondlicht schien durch die schweren, großen Fenster des Kirchengebäudes und tauchte den Raum damit in ein schwerfälliges Schattenspiel, in dem sich vor allem die Silhouetten sich im Schlaf umdrehender Kirchendiener an der Wand abwechselnd entlangrollten. Der groteske Schattenzauber fand allerdings keinen Anklang beim Novizen, der einen Teil der durch eine Mauerfuge hineinströmenden Kaltluft gierig in seine Lungen sog, um den verbrauchten Teil seines Odems kurz darauf wieder in die Halbstille des Saals zu entlassen.

Der Schwindel, der Taumel des Sieges war vergangen oder verblasste zumindest genug um die Sicht auf das freizugeben, was blieb. Trotz aller Bescheidenheit fühlte Yngvar das Wachstum, dass er durchlaufen war. Dieser eine Punkt im Zeitgeschehen Amhrans hatte ihn so viel größer werden lassen als er vorher war, wenngleich das auch bedeutete, dass die Verantwortung und der Anspruch wachsen würden. Es war die Randnotiz eines Mannes, der das Gefühl hatte einen Sprint hingelegt zu haben, während er sonst gemächlich auf seinem Pfad gegangen war. Nun, einige Tage später, war die Klinge der Gewalt des Wortes gewichen. Er hatte die Reaktion des Oberleutnants der Wache beobachtet, die Anerkennung darob, dass er das Unwesen ins Feuer gestossen hatte, genau wie die Reaktion des einfältigen Mädchens in der Kirche, die ihn auf die Erzählung hin einen Dämonenjäger nannte. Große Namen bargen große Verantwortung. Und der Novize wusste, dass er die Verantwortung derartiger Titulaturen noch nicht schultern konnte. Noch nicht. Denn wenn Leute ihn Drachentöter oder Dämonenjäger hießen, zwang man auch ihn, sich damit zu beschäftigen, ob diese Bezeichnungen nicht in ferner Zukunft für ihn zur Realität werden konnten. Irgendwann, vielleicht. Es galt zunächst, derlei weder zu begünstigen, noch zu verbreiten. Geduld. Und wieder die Mühle.

Sie war, obschon sie Vergangenheit war, weiter von Relevanz. Die Ereignisse folgten ihm in seinen Geist, nicht nur als Träume, sondern auch bei Tag. Es war jedoch nicht der Schrecken der Schemen, der in ihm hinaufkroch, so wie er es bei Gnaden Teran beobachtete und für die er nichts als Mitgefühl aufgrund ihrer vielfältigen Entrückung übrig hatte, sondern vor allem war es das Licht und diese unendliche Erfüllung mit Klarheit, dass ihn immer wieder heimsuchte. Bisweilen beschlich den Novizen das Gefühl, dass die Welt sich ihm wie eine flache Ebene präsentierte, in der jede einzelne Seele nur ein winziger Faden war, der aus dem Webstock der Welt hinausragte. Es war diese Kühle, die gleich der Nachtluft über sein Gesicht strich und ihn in einen Zustand der tiefen Sicherheit und Einkehr versetzte.

Es hätte ihn vermutlich verunsichert, wenn es nicht aufgetreten wäre, seit er den Schattendrachen ins Feuer des Herrn gestoßen hatte. Der Umstand jedoch, dass er es damit assoziieren konnte, veränderte die Situation. Es war nicht Furcht, die den Novizen umtrieb, sondern Erklärungsnot. Er war erfüllt, wo er vorher keine Lücke vernommen hatte, wenngleich er sich sicher war dass eine Leere entstehen würde, würde das Gefühl verblassen. Erneut ein Ausatmen, diesmal schwermütiger, gefolgt von der Frage ob er der Erzpriesterin, der er sich anvertraut hatte, auch hätte erzählen sollen, dass ihn das gleiche Gefühl nicht nur an den heiligen Orten des Mithras beschlich, sondern auch wenn er den Willen Mithras' mit dem Schwert vollbrachte. Sein Schwert. Ein kurzer Moment der Panik wallte auf und der Novize griff nach dem Waffengurt an der Seite seines Bettes und überprüfte mit raschen Handgriffen ob es noch da war. Und das war es. Natürlich.

Er betrachtete die Klinge im Mondlicht, mit ihrem silbrig schönen Glanz, der ihr alle Einfältigkeit nahm und sie nobel und wundervoll wirken ließ. Mit der freien Hand fuhren seine Finger die Klinge in Länge und Form nach, während er den Stahl versonnen und friedlich ansah. Knarzend gab das Bett wenige Augenblicke später den Körper des Novizen frei, der mit erneut wenigen weiteren Handgriffen ein sauberes Leinentuch aus seiner Feldkiste geholt hatte und die Klinge nun darin einschlug, sie förmlich bettete und sie, nachdem er sich selber wieder ins Bett gelegt hatte, in seine Armbeuge schlang und erleichtert ausatmete. Sie waren im Angesicht der Dunkelheit aneinandergeschmiedet worden. Sie teilten ihre Erlebnisse nun einander und die Klinge war nicht mehr nur bloßer Stahl, nicht mehr nur ein Werkzeug. Sie war ein Augenzeuge, ein lebendes Ding, wenngleich seelenlos, dass ihn nicht fehlen würde. Niemals.

Der Novize schlief daraufhin den Rest der Nacht bis zur Weckzeit durch. Das erste mal seit der Reinigung.

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#8
Zwischen den Seiten

“Die Welt ist ein Tanz. Zwischen den Paaren, sich drehenden Tanzpartnern, die in einer Abfolge einstudierter und aufeinander abgestimmter Schritte durch den Raum schweben, irre ich umher. Ich bin ein atypisches Element in dieser perfekten Symmetrie aus Galanz und Eleganz, verdammt dazu, mich alleine um mich selbst zu drehen, während jedes Röcklein brav um ein paar stramme Männerbeine schwebt und einem festen Ritus aufeinander folgender Schritte nacheilt. Wie ein wunderschönes Schachspiel tanzen sie, die Paar-Elemente dieser Welt, über die Felder eines unsichtbaren Kompendiums aus Regeln, Tradition und Glauben, in denen der König allenfalls von seiner eigenen Dame geschlagen wird.

Ich hingegen, komme mir vor wie der Bauer, dem sein Springer fehlt und vollführe meine kunstvollen Bewegungen allein. Am Rand kann ich sie hingegen sehen, die verzückten aber schüchternen Elemente, Teile meiner Welt, die in ihrer Wichtigkeit in den Hintergrund getreten sind oder dort erst anfangen, sich hegen und zu pflegen, bis sie einstmals stark genug sind, mich zum Tanz zu bitten. Und über uns allen steht er – der rote König, der Befreier, der uns die Wahl gab. Es ist nicht etwa so, dass er uns wie Marionetten steuerte oder Puppenfäden an uns befestigte und dennoch sieht er alles was war, ist und sein wird. Ich spüre seine Wärme und sein Licht, gleich einem Kandelaber mit endlosen und unzähligen Armen, die sich über die Weite des Raumes erstrecken, ungesehen, solange man sich nicht getraut, hinaufzublicken und einzig sich und den Tanz seines Partners sieht. So wird mir auf einen Schlag klar, warum es meine, die bewusste und höchst eigene Entscheidung war, alleingestellt durch den Raum zu flanieren, denn mein Blick ist frei.

Ich sehe die Abertausenden kleiner Flämmchen, jede Kerze eine Insel der Einkehr und Einsicht, Wunder voller Weisheit, die sich einem nur offenbaren, wenn man den Mut aufbringt, den Blick hinauf zu richten. Bescheiden und demutsvoll drehe ich mich also im Taumel des weltlichen Gleichklangs, als mir der rote König in seiner Güte eine Flamme geschenkt und mich damit vollständig in Brand setzt. Die Paare klappen hinfort wie Holzkameraden, die nur einer Narretei dienten, um den Blick zu verschleiern und sich fortan in meinen Augen nur am Boden ihren Drehungen und Schritten hingeben, wie Spielkarten die zu Boden gesegelt von einer gelegentlichen Windbö' in sanfter Drehung fortgetrieben werden. Ich sehe einen Horizont wo keiner ist und spüre den Einfluss, der mir gegeben ist. Es ist ein Bruchstück aus einer Welt der Wunder und der Herrlichkeit nur und doch reicht es, um mein ganzes Leben aus den Fugen zu reißen und neu zu ordnen.

Kann ich danach greifen, hat es einen Zweck, dass er mir dieses Geschenk gemacht hat, dass in seiner Herrlichkeit schlicht und ergreifend nicht angemessen zu hinterfragen ist? Von all' den Wahrheiten, die uns im Diesseits erwarten, ist es die, dass der Blick auf die Welt sich vollständig verändert, wenn der Befreier sich entschieden hat, einen kleinen Teil seiner Allherrlichkeit an uns abzugeben, auf dass wir sie uns in seinem Sinne dienstbar machen. Wir vollbringen großes und sind fortan sanfte Riesen unter den Menschen, die auf einen Schlag nicht mehr nur einen Menschen mit einer Hand zu behüten vermögen, sondern ganze Scharen.

Also tanze ich still und alleine weiter, unter den Lichtern der Erkenntnis, die das Firmament sind, in der Hoffnung, dass sich einstmals ein zweites Element in die Welt der Riesen erhebt und wir zwei entflammte Narren einer anderen Welt sind.”

Das Hadern knisterte leicht, als der Novize das Papier in eines seiner Bücher, ferne Relikte der Heimat und Hort tiefer Weisheit, einlegte. Der Blick indes, richtete sich auf ein gänzlich anderes Büchlein, das ohne viel Gebrauchsspuren auskam, und eine Geschichte verbarg, die weitaus weltlicher als seine eigene war.

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#9
Zwischen den Welten

Die Mannwerdung war, so man in einem Haus von Etikette und Anstand aufwuchs, zunächst vor allem eine Zeit die irritierend und furchterregend war. Ein Leib, vormals mit starker Hand, solider Tradition und ergebenem Glauben, gehegt und gepflegt, begann plötzlich, aufzubegehren und gar Gelüste zu entwickeln, die verlockend und unbeschreibbar waren. Was dort in einem aufblühte, war offenbarend und einschüchternd zugleich, wenn auch niemals mit grundsätzlicher Negativität behaftet und es war am Ende die elterliche Führung, die dafür Sorge tragen sollte, dass ihm der neu entdeckte Trieb nur zu Diensten sein sollte, wenn die Umstände wohlwollend innerhalb der Ordnung des Herrn lagen. Nun konnte man in Yngvars Fall mit Fug' und Recht behaupten, dass dieses Vorhaben problembehaftet und in besonderer Weise von Fehlschlägen begleitet war.

Dass sich sein Verhalten wieder in rechte Bahnen hatte rücken lassen, war letztlich das Ergebnis einer sehr radikalen Maßnahme und seinem Dienst in der Sonnenlegion zu verdanken und fortan kam er recht gut damit aus, das Werkzeug des Mannes dort zu lassen, wo es hingehörte. Denn für die Aufgaben in der Sonnenlegion war es nur bedingt dienstbar. Tatsächlich verschwendete der Novize keinerlei wachen Gedanken mehr an die beglückende Wärme des Frauenleibes, wenngleich man auch nicht von Abneigung sprechen konnte. Die Vollziehung des Triebes, das konnte man mittlerweile erwiesenermaßen behaupten, war ihm vollständig gleichgültig.

Die Vertrautheit indes, dass was man im Volksmund lapidar als "seelenverwandt" titulierte, dies war etwas, dem er sich weiterhin öffnen konnte, ohne unter der Last ihres Fehlens zu leiden. Nun wäre zu argumentieren gewesen, dass der Novize in der Legion und auch beim Klerus eine Menge Brüder und Schwestern im Glauben hatte und dies war auch unbestritten. Doch gab es feine, andere Unterschiede. So wie man eine Mutter auf eine andere Art liebte, wie man es mit seiner ordentlich vermählten Ehefrau tat. Randnotizen. Abschweifung.

Der Novize hatte die Erinnerung an das Aufblühen seiner Männlichkeit in dieser Zeit bewusst gewählt. Er hatte Parallelen gesehen, wenngleich ein Priester ihn für den Vergleich vielleicht zu recht verprügelt hätte. Doch lag in seiner unsäglichen Geschichte eine Lehre, die er sich nun zunutze machen konnte.

Die Augen öffneten sich und der Nachthimmel offenbarte sich an der oberen Hälfte des Blickfeldes, voll der Klarheit und der Sterne, während die untere Hälfte ihm Löwenstein mit seinen Dächern, Gassen und Einwohnern offenbarte. Der milde Regen in dieser Nacht hatte das Dach des Tempels in eine spiegelnde, fluide Fläche verwandelt, in der das Firmament sein Ebenbild spiegelte und, den vom Umhang und der Kapuze seiner Novizentracht herabfallender, schwerer Tropfen zum Trotz, auch Yngvars Antlitz in schwimmenden Linien zeichnete. Sein Abbild schwamm vor ihm in der fließenden Oberfläche der steinernen Decke des Glaubenszentrums, eine gar nicht so falsche Analogie zum Original, wenn man die letzten Tage betrachtete, in denen er zu erklären versuchte, was sich seit der Reinigung verändert hatte. Im Innern hingegen, herrschte eine Klarheit, die er sich eines gedanklichen Mantras gleich, abzurufen gelernt hatte. Es war nicht so, dass auch dies mit der Reinigung zusammenhing, wohl aber hilfreich gewesen war, um nicht vollständig wahnsinnig zu werden.

Ein kurzer Gedanke folgte, in dem der Novize sich fragte, wie es all' die Menschen fertigbrachten, die nicht seine Ausbildung in Treu und Glauben genossen, wurde jedoch einem Fingerstreich gleich in die hinteren Ränge seines Kopfes mit der Antwort verbannt, dass ihnen schlicht die Einsicht fehlte, zu begreifen was sie gesehen hatten. Sie verdrängten, während er begriff, wenn auch nicht vollständig. Ein Splitter des Wahnsinns, den man gesehen hatte, reichte um ihn Tage, vielleicht Wochen zu beschäftigen. Er war dankbar, dass Mithras ihn nicht hatte mehr sehen und spüren lassen.

"Klarheit." rief er sich nun noch einmal in die Gedanken zurück. Er brauchte diese Kontrolle, für das, was er sich vorgenommen hatte, für eine Beweisführung, die das Fragen und das Nachdenken überflüssig machen würde, um Platz zu schaffen. Für neue Fragen und neues Nachdenken.

Als sich die schwer gerüstete Gestalt langsam erhob, gleich eines stählernen Automaten, der in vollem, aufrechten Stand, den Blick nach vorne gerichtet, auf die Welt vor sich herabblickte, zuckten Lisbeths Worte durch seinen Verstand. "Bescheidenheit." Erneut das Wegwischen, verbunden mit einer abgepressten Atemwolke, die seinen Odem gen Firmament zerstäubte. Bescheidenheit hatte in diesem Augenblick, in diesem Moment, in seinem Moment, keinen Platz. Zurückhaltung trat in den Hintergrund, Bescheidenheit trat in den Hintergrund, Sanftmut trat in den Hintergrund, als der Novize seine Klinge zog und ihren, durch den einfallenden Regen verklärten, silbernen Glanz betrachtete. Das Schwert war sein verlängerte Arm geworden, ein seelenloser Bruder in einem Meer von Dingen, die hinter ihm als unwichtig zurücktraten. Die Spitze der Klinge blickte nach vorne, als wollte sie voller Tatendrang verkünden, dass der vor ihnen liegende Weg ein gemeinsames, andauerndes Wunder sein würde. Im heiligen Feuer des Mithras vergraben, hatte sich auch das Wesen der Klinge verändert, als die Schattenkreatur an ihr erstarb. Es waren Feinheiten, die nur ihr Träger wahrnehmen oder sich einbilden konnte und Yngvar war es gleich, was von beidem zutraf.

"Klarheit." Wieder dieses Wort, dass so viel bedeutete, so kraftvoll wahr. Ein Moment folgte, in dem die Augen des Novizen sich für die Unendlichkeit eines Lidschlags schlossen, in dem seine Hand die Waffe fester umgriff und sie seinem Körper beiordnete. Das mit dieser Handlung gleichgeschaltete Einatmen führte dazu, dass die Hand jedoch nicht nur den Griff der Klinge zu umschließen schien, sondern, als läge dahinter ein weiteres, ein in die Klinge eingefaltetes Mordwerkzeug, dass sich, in diesem Moment noch sträubte dem sich nun formenden Willen des Novizen zu unterwerfen, hervorzutreten, sich um das Dingliche zu weben. Ein Rucken durch Hand und Klinge folgt. Dann Stille - bis auf das ewig gleiche, beruhigende Fallen der Regentropfen auf den Jahrhunderte alten Stein des Tempels.

Ein Betrachter hätte nun sehen können, wie die Figur für einen Moment die Haltung verliert, gleich einer milden Kraftlosigkeit, die im Schattenspiel der Nacht einsetzt, bis der Krieger sich offenbar seiner Beharrlichkeit besinnt und von neuem beginnt. Und so verstrich die Zeit einer Nacht in welcher der Krieger beharrlich nach einer Form für das suchte, was ihm neu war.

Zeit – sie verfloss, wie der Regen in den Fugen des Tempeldaches, wie eine schwer greifbare Masse. Sie rann dahin, Stunden zerflossen zu Minuten, die widerum in Sekunden ausschwemmten und machten jede Möglichkeit, sie als feste Größe im Gefüge der Welt wahrzunehmen, unmöglich. Die Zeit war eins. Die Welt, die, in der er wirkte wie ein Kind, dass verzweifelt dem Krabbeln entwachsen wollte und die, in der er Yngvar Stein war, Novize der Sonnenlegion, auch sie waren plötzlich eins. Beides wob sich um den Mann und sein Schwert wie ein zerbrechlicher Faden, der beides mit der Präzision eines Schneiders zusammenführte und sich aus Leib und dieser anderen, formbaren Fremdartigkeit speiste.

Die Irrealität begann vollständig voranzutreten, gleich einem Windhauch im Sommer durch den Mann hindurchzuwogen und sich auf dessen Hand und dessen Klinge zu setzen, bis letztendlich beides so wandelbar erschien, wie die das Wetter eines Frühlingsmonats. Die Form jedoch, folgte nun dem Willen des Kriegers, dessen Hand zu einem erneuten Ruck anhob als die Vielschichtigkeit von Realität und Unwirklichkeit ineinanderfloss und die Klinge mit einem Vibrieren und Wabern erfüllte und ihr sämtliche, physischen Attribute nahm. Sie war für den Hauch eines Augenblicks, nicht länger als es einen Hieb damit gebraucht hätte, erhoben und erfüllt mit einer Göttlichkeit, die zu begreifen den Wahnsinn bedeutet hätte – fähig Fleisch und Stahl gleichermaßen zu durchtrennen, als sei es Butter an einem viel zu warmen Sommertag.

Das Verblassen der Wirkung indes, hinterließ einen Novizen, der dort noch Minuten stand, seine sich mit Regen benetzende Klinge besah und sich erneut damit konfrontiert fand, einzuordnen, was er vollbracht hatte. Die Erinnerung verblieb als eingebrannter Fixpunkt einer Nacht, die sich mit der Lehre aus seiner Jugendzeit verband: Was ihn seit der Reinigung der Mühle aus dem Unbewussten, aus dem Diffusen, nun mit Klarheit strafte, erforderte Führung, Anleitung und eine wache Hand.

Anderenfalls würde auch das nicht mehr als ein Trieb sein, der irgendwann den Menschen zum Tier machte.

[Bild: walking_on_the_roof_by_wulfman65-d4rtq7c.jpg]
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#10
Der Mantel

Will jemand etwas über einen in Erfahrung bringen, so kommt man nicht umhin, die damit einhergehenden, zwangsläufigen Fragen zu beantworten. Die Frage nach dem "woher" genauso wie die Frage nach dem "warum" es "wohin" ging. Es sind einfache, oberflächliche und in den meisten Fällen auch unverfängliche Annäherungsversuche an das Unbekannte in menschlicher Gestalt, denn jeder der eine Reise tut, wird mit ihnen zwangsläufig rechnen, wo sie doch so offensichtlich sind.

Das "woher" gibt einem einen Grundstock an weiteren Informationen, auf deren Basis man ein Gespräch weiterführen kann, wenngleich derlei selten weiter in die Tiefe führt, sondern sich nur eine weitere, schlichte Information an die nächste hängt. Viel seltener jedoch fragt jemand nach dem Weg, das "dazwischen" und das ist das wahrhaft verwunderliche. So ist es doch erstaunlich, dass ein Mann sich auf den Weg von seiner Heimat macht, seinem Elternhaus entrückt und die einzigen Fragen, die man ihm stellt, diejenigen nach dem "woher" und dem "warum" sind.

Das "dazwischen" oder "davor" findet hingegen allenfalls rudimentäre Beachtung, wenngleich beides den Charakter des stählernen Bronzekoloss' der Mithras-Kirche viel stärker geformt und geprägt hat. Fragte man diesen Novizen, der mit dem Feuer des Herrn am Morgen dem Bette entsteigt und seinem Licht in der Nacht zur Ruhe kommt, würde er diese Zeit vermutlich als ferne Erinnerung beschreiben, ganz so als sei diese Zeit, die Zeit vor der Sonnenlegion, die lange Reise gewesen und nicht mehr als die blasse Erinnerung einer anderen Person. Die Gefühle dahinter, die Empfindungen, die Talente und verborgenen Ansichten des Kriegers haften ihm weiter an, wie der Schatten dem Licht. Es war nun noch nie so, dass ein waschechter Nortgarder mit seiner Gefühlswelt hausieren ging. Und so tat es auch Yngvar beileibe nicht. Es war nicht etwa so, dass er eine Abneigung dahingehend empfand, sondern vielmehr hatte er schlicht und ergreifend nicht den Drang über derartige Dinge zu sprechen, wenn die Etikette einer vornehmen Gesellschaft es nicht vorschrieb. Und gerade dort war eher der Platz für vorgeschobene, pauschale Nettigkeiten, denn tiefgründige Erforschung eines vergangenen Lebens.

Dass diese andere, diese alte Welt im Novizen nicht vollends verblassen konnte, zeigten die stummen Hilferufe seiner Geschichten, nicht dem Vergessen anheim zu fallen, indem sie sich vollkommen unwillkürlich und plötzlich in seine Gedanken schoben, zumeist wenn er für sich war. In vielerlei Hinsicht betrachtete Yngvar nämlich den Weg nach Löwenstein als ungleich beschwerlich im Gegensatz zu seinem Leben in der Legion und dabei war es nicht etwa so, dass das Leben in der Kirche nicht von Widrigkeiten geprägt war. Doch gab es diese seltenen Situationen im Leben, in denen man erst seinen Sinn und seine Zweckbestimmung erkannte, wenn man das erste mal durch eine unbekannte Tür getreten und den Duft einer neuen Sache erschnüffelt hatte. Jeder Handgriff, jeder Schritt, den er als Novize der Legion bislang getan hatte, fühlte sich an, als würde er in einen maßangefertigten Handschuh greifen. Unerheblich wie hoch die Hürde, gleich wie schwer die Aufgabe, und einerlei wie beiderlei ausging: Er hatte seinen Platz gefunden. Es war perfekt und von Mithras bestimmt.

Vermutlich war es das einfache Leben einer menschlichen Passform des Glaubens, einem Gefäß dass man zur rechten Zeit an den rechten Ort gestellt hatte, um es bis zur Oberflächenspannung mit Gebeten und Kampfeswillen zu befüllen, dass den Weg von Nortgard nach Löwenstein so beschwerlich hatte wirken lassen. Denn er war von vielem geprägt, was im Kontrast zu seinem jetzigen Leben stand. Die Welt als Alleinreisender, wenn auch im Willen dass die Statuten des Befreiers einen schon ans Ziel führten, war vor allem vom Chaos des einfachen Mannes geprägt, einer Strukturlosigkeit, Furcht und Führungslosigkeit, die es einem abverlangte, konstant gegen den Sog der Ordnungslosigkeit anzukämpfen. Es war leichter, die überreizte Disziplin und die Prinzipien eines Mannes zu belächeln, als ihnen Anerkennung entgegenzubringen, zumal sie vielen ein Spiegel für eigenes Versagen waren.

Yngvar würde niemals erfahren, ob diese eine Nacht auf seiner langen Reise anders verlaufen wäre, wenn er sich etwas weniger treu im Glauben und mehr wie ein versoffener Söldner verhalten hätte. Vielleicht provozierte er mit seinem schon damals bestehenden Drang, seine Ausrüstung sauber und gepflegt zu halten, der Einhaltung der vier Standardgebete und der weitgehenden Enthaltsamkeit was die berauschenden Getränke anging, zu sehr, so dass der fahrende Händler, der neben ihm noch eine junge Frau auf dem Karren mitfahren ließ, derart von der Tugend geblendet war, dass ihm nur die Flucht in sein eigenes Moloch von Sünde und Bösartigkeit blieb. Am Ende verschüchten wir jene, die wir durch gutes Beispiel zu retten uns anschicken so sehr, dass die Überwältigung ihnen allen Besserungswillen raubt. Solche Seelen sind selten noch zu retten und es erfordert immense Kraft, sie zurück in das Licht der Ordnung zu ziehen. Weder die Kraft, noch das Wissen darum, waren in dieser Nacht im Nortgarder vereint.

Im Grunde aber, gab es keine Antwort auf die Geschehnisse dieser Nacht. Es gab nur das leise Wimmern eines hilflosen Mädchens, als ein Mann im Bestreben, sich den Ausgleich für eine Mitnahme auf dem Karren auch mit Gewalt am Frauenleibe nehmen zu dürfen, nicht damit rechnete, dass gerade der Mann, dem er warme Mahlzeiten und einen Platz zum Schlafen auf dem Karren versprach, ihm zum Verhängnis werden würde. Tatsächlich war es die grausame Seite der Medallie der Ordnung, die ihn das hilflose Gewimmer länger als für einen Menschen zuträglich ertragen ließ. Es gab klare Regeln in diesem Tross und eine davon war, dass der Nortgarder dem Mann zugesagt hatte, ihm kein Leid anzutun, solange sie den Weg miteinander teilten. Und sein Wort, seine Integrität, waren schon immer auszeichnend für Yngvar Stein, ja für die ganze verfluchte Familie, gewesen. Gleichwohl aber brach der Mann nicht nur des Reiches Gesetz, indem er auf greuliche Weise tat, was er eben tat, sondern auch jede Regel von Anstand und Respekt. Und wenn sich drei Freie begegneten, waren Anstand und Respekt Dinge, die das Zusammenleben maßgeblich regelten. Sie trennten die Barbaren von den Zivilisierten – und soweit es Yngvar betraf, verlor der Händler jedes Recht darauf indem er das Weibsbild gegen ihren Willen bestiegen hatte.

Also tat der Nortgarder das, was er tatsächlich recht talentiert konnte. Als die Plane des Karrens sich auseinanderschob und das fahle Mondlicht des einsamen Vollmondes die breite Gestalt des Kriegers schattenhaft in Szene setzte, gleich einer dunklen Monstrosität, dessen rechter Arm am Ende durch Kette und Keule eines Flegels verlängert wurde, brauchte es keine Worte, der Erklärung. Es gab keine Belehrung, keine Moralpredigt und keinen Versuch, noch einmal an die Werte der Zivilisation zu appellieren, die von roten Roben im Land aufrecht erhalten wurden. Nein, in dieser einen Nacht war die schwarze Tugend das stumme Gericht und der Vollmond, ein zum stillen Aufschrei verzerrter Mund im Mantel des Firmanents, sang sein ungehörtes Klagelied, als die Geschundene die Gunst der Stunde nutzte und das Weite suchte. Sie rann so schnell sie konnte, bar jedes Vertrauens für andere Menschen, verletzt, beschämt und beschmutzt. Und während sie rannte, und sich ihre Tränen hell an die junge Haut pressten, durchlebte der Mann eine wundersame Transformation, von einem lebenden, denkenden und fühlenden Organismus hin zu einem Klumpen aus Fleisch und Stofffetzen. Dumpfe Schläge und das gelegentliche Krachen brechender und berstender Knochen waren die Protokollanten des dunklen Richters, dessen inneres sich zum Karren gekehrt hatte und es zu einer grotesken Alptraumwelt wandelte, die ihn später würgen ließ.

Sein Rücken indes, wurde hell erleuchtet vom fahlen Licht des Mondes und es wäre kaum gelogen zu sagen, dass die andere, die nach außen gewandte Seite des Mannes wahrhaft aussah und die Etikette, den Anstand und die Tugend dort ließ, wo sie keinen Schaden nehmen konnte, fernab von Blut und Gewalt.

Am Morgen jedoch, als die ersten Sonnenstrahlen den Karren aus der gespenstischen Einsamkeit der Nacht freiten, hatte der Krieger, in heutiger Zeit Novize der Sonnenlegion, seine Rüstung so penibel gereinigt wie nie zuvor. Und als er den Weg weiter gen Süden, gen Servano marschierte, hatte er sich wieder einen Mantel aus Schweigen und Tugend über die Schultern gelegt, in der Hoffnung, dass die Zeit diese Nacht dem Verblassen und Vergessen übergeben würde.

[Bild: Alice-Madness-Returns-Review-Intro-007.jpg]
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