FSK-18 Yngvar
#21
Die Welt war ein fragiles Konstrukt. Bisweilen verlangte sie unmenschliche Verrenkungen von uns ab, damit die Säulen, auf denen sie erbaut ist, nicht einstürzen. Das Beben seiner Welt war noch immer spürbar und das Parkett, auf dem der Krieger sich bewegte, glich einer glitschigen Masse, die mit jedem weiteren Schritt das Risiko erhöhte, auszurutschen. Yngvar Stein musste sich eingestehen, dss er nachlässig geworden war und sich in einer Sicherheit wähnte, die es in Löwenstein noch nie gegeben hatte. Die Sicherheit, dass in den bessergestellten Vierteln der Stadt keiner es wagen würde, Hand an die Diener des Herrn zu legen. Nicht nach dem Aufschrei, der auf den Tod seiner Seligkeit Greiffenwaldt folgte, nicht nach der Hilfe, die die Legion bei der Zurückschlagung der Vampire gewesen war und nicht, nachdem man dem armen Pack gezeigt hatte, wo der Hammer sprichwörtlich hängt. Die freien Männer waren ebenso für den Moment keine Gefahr mehr .

Es hätte eine Zeit sein können, in der die Kirche einen Moment des Durchatmens hätte durchleben können. Bis man die Schwester des Streiters in den Tempel brachte. Der innere Aufschrei, der sich durch den Leib des Kriegers zog, stieß noch in dem Moment, da er ausgestossen wurde, gegen die inneren Grenzen seines Geistes, wurde zurückgeholt und – wie ein Ertrinkender, der um Luft und Freiheit ringend, gegen eine Strömung ankämpft – von unsichtbaren Händen in den tiefen Moloch gezogen, in dem der Sonnenlegionär all‘ die Empfindungen aufbewahrt, die ihm in seiner täglichen Pflichtausübung als störend vorkamen. Und von dort aus noch viel weiter. Das Kribbeln, dass er empfunden hatte, als er die Zeilen gelesen hatte, die man an seine Schwester geheftet hatte, den Kampf gegen Wut und Tränen, verlor sein Leib in so banal schneller Zeit, dass ein außenstehender kaum wahrgenommen haben dürfte, was in dem Mann soeben passierte. Als hätte man an einem unscheinbaren Buch in der Seelenbibliothek des Kriegers gezogen, schob sich das Regal, in dem so vielsagende Bände wie „Neutralität“, „Verständnis“ und „Milde“ standen, zur Seite und machten einem Gang Platz, den der Mann bis heute weder kannte, noch jemals einen Fuss hineingesetzt hatte. Er hatte sich, unerkannt unter Lehre und Mithrasdienst von selbst gegraben, so wie das Licht den Schatten bedingt.

Der Weg durch diesen lichtlosen Tunnel fühlte sich frisch an und verströmte ein Gefühl der Geborgenheit, gleich einer Decke, die man sich in kalten Winternächten um die Schultern legt, wenn der Kamin nicht ausreicht, um genügend Wärme zu spenden. Und mit jedem Schritt, den Yngvar Stein voranschritt, fühlte sich sein äußeres weit weniger weich an, sondern begann bald, sich wie der Stahl anzufühlen, den er in gerechtem Zorn im Kampf führte. Wenngleich er es stets vermocht hatte, seinem gegenüber mit maximaler Neutralität gegenüber zu treten, spürte er nun das Eintreten in eine tiefere Ebene seines Mienenspiels: Neutralität wich Reserviertheit, die Fassade aus Gleichmut wich eiserner Strenge und der sonst nur aufmerksame und wachsame Blick führte zu einer Generalanklage gegenüber der Welt, die seine Augen sehen konnten. Nun hätte man argumentieren können, dass der Sonnenlegionär einen Übergriff auf seine Schwester vor allem persönlich genommen haben könnte, doch waren all‘ die Empfindungen, die genau eine solche persönliche Fehde begünstigt hätten, in diesem Augenblick bereits weggeschlossen und in dem tiefen Pfuhl ekelhafter Gefühlsduseligkeit versenkt, bevor auch nur ein weiterer Rückgriff auf derart einfache Gefühle hätte stattfinden können.

Vielmehr setzte sich eine beinahe schon mechanisch anmutende Reaktion in Gang, die die vollständige Kontrolle über den Krieger übernahm. Jedes Schott, dass seine Vorbehalte gegenüber dem Wirken der Macht des Herrn begünstigen konnte, öffnete sich. Jedes Verständnis dafür, dass es für Situationen wie diese Standardprozeduren im öffentlichen Leben gab, wurde begraben, während die Übergriffe auf Mitglieder der heiligen Kirche wie aufschreiende Tropfen das unsichtbare Fass, ein Zeitmaß der endlosen Geduld der heiligen Kirche, zum Überlaufen brachten.

„Sieh‘ mich an, oh Herr, denn ich bin eine Million deiner Sterne und erleuchte das Firmament. Ich bin unverrückbar und unzerstörbar, denn die Nacht zerbricht mit stumpfer Klinge an der heiligen Flamme, die ich dir bin.“

Die Dämmerung hatte begonnen. Eine Dämmerung, die sich schon lange angekündigt hatte und deren erste Strahlen bereits seit unendlicher Zeit hinter dem Horizont lauerten, bis sich die Wolken lichten und sich ihr Glanz über die Welt erstrecken konnte. Der erste Schritt, ein erster, kleiner Minischritt, gleich dem eines Kleinkindes, dass den Übergang vom Krabbelalter in den des aufrechten Ganges sich soeben zu bewältigen anschickt, war mit der Schneiderin getan. Die Handlungskette dafür, wie zu verfahren war, lag stählern und gespannt vor ihm und als die muskulösen Oberarme daran zu ziehen begannen, reihte sich jede weitere Handlung bereitwillig vor dem Kämpfer auf. Ein Geschenk.

Das erste Gespräch mit der Schneiderin war eines gewesen, dass er auf eigentümliche Art genossen und als überraschend empfunden hatte. Heute Nacht hingegen, war sie nicht mehr als ein Gefäss, bis auf dessen Grund er sehen musste, dass er vollständig ausgießen würde, wenn es sein musste. Und obschon seine Haltung keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass der Kämpfer der Frau an Ort und Stelle den Kopf abgeschlagen hätte, wäre ihr erster Impuls derjenige der Flucht gewesen, hätte er weder Genugtuung noch Zufriedenheit empfunden – sondern sich einzig an einer neuen Aufreihung von Kettengliedern entlangbewegt. Was man ihm als kleinen Dorn der Mildtätigkeit ausgelegt haben könnte – nämlich die Tatsache, dass er die Schneiderin nicht direkt auf die Streckbank gespannt hatte – war in diesem Fall auch nicht mehr als eisernes Kalkül gewesen: Eine zu offensichtliche Behandlung hätte innerhalb und außerhalb der Kirche zu Uneinigkeit geführt, die die Aufklärung der Sache verhindert hätte. Am Ende der Befragung regte sich, nicht nur um die Situation für die Schneiderin begreiflich zu machen, sich die Mildtätigkeit am Ende dennoch in Form eines Geschenkes: Der Frau wurde die gesamte Situation, der gesamte Schrecken dessen, was Yngvar Stein im Verlauf dieses Abends hatte mitansehen müssen, ausgebreitet, wie eine Landkarte. Diese Karte würde ihr Werkzeug sein, dass er ihr geben würde, um den Weg zum Leuchtfeuer des Glaubens zu finden. Ein Werkzeug, eine Chance. Und nur diese eine. Dahinter, so wusste Yngvar Stein, lag nur der Tod. Einen, den er so gleichgültig empfangen hätte, wie das Verwelken einer Pflanze, die sich gegen ihre eigene Wässerung entschieden hätte und darauf wartete, dass man ihre Seele wie ein modriges Ding pflückte, dekonstruierte und in seinen Einzelteilen an den Herren zurückschickte. Dieser letzte Gedanke war es am Ende auch, der einen Teil der Leere zu füllen wusste, welcher sich der Kämpfer in der Nacht verschlossen hatte, als er am Bett seiner Schwester wachte. Ein geduldiger Hunger – nicht nach spröder Nahrung oder dem abgestandenen Wasser einer Welt, die nicht mehr seine war. Nicht einmal danach, Ungläubige einfach nur zu töten und sie aus dem Leben zu löschen. Nein, der Leib seiner Widersacher würde ab diesem Tag nicht mehr genug sein. Nie mehr.

„Wir sind eine Myriade aus Leuchtfeuern, unbewegt und dazu verdammt am fernen Ende des Himmels Wacht zu halten. Und unbedeutend ist, was die Dämmerung am Ende bringt – wenn die Augenblicke, die uns dorthin leiten, wie feine Brotkrumen aus Licht, doch viel wichtiger sind. Denn aus der ferne mögen die Sterne gleich aussehen, doch ist jeder für sich genommen vollkommen einzigartig und das Licht des Herrn.

Wir brennen bis in alle Zeit und unser Geschenk ist die Läuterung.“


[Bild: bfdfbb580c515692972ae3d591293d0e_slideshow_fg.jpg?v=18]
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#22
Bisweilen war Löwenstein ein Sammelsorium an Merkwürdigkeiten, ein riesiger Tiegel an Gaukelei und falschen Tänzen, die sich trotz eifriger und gegenteiliger Bekundungen stets darum mühten, den Blick auf das zu verklären, was unter den vordergründigen und viel zu leichten Wahrheiten der Stadt liegen mochte. Als der Sonnenlegionär zustimmte, einer Stadtwache nach Candaria zu folgen um sich den dortigen Kultisten entgegenzustellen, hätte er jedoch nicht gedacht, dass auch diese Zusammenkunft sich eigentümlicher entwickeln würde, als zunächst gedacht.

Es hatte eine Lektion werden sollen, eine in Glaubenstreue, Demut und Vertrauen – und vielleicht auch Etikette. Im Flüsterwald hatte die Rekrutin bewiesen, dass sie ihr Herz am rechten Fleck sitzen hatte, wenngleich ihr offenkundig maßgebliches, taktisches Feingefühl fehlte. Die erste Überraschung an diesem Abend war, dass sie dem Lehen der Hierokraten entstammte – eine Tatsache, die den Krieger kurz überdenken ließ, ob es weise war, mit ihr in den alten Stollen hinabzusteigen, wusste man doch diesseits der Grenzen um den verdorbenen Kern dieses Reiches und der potentiellen Gefahr, die von jedem ausging, der sich stolz zum Verräterlehen bekannte.

Der Legionär entschied jedoch, dass der Herr vielmehr dafür gepriesen werden musste, dass die Rekrutin den Weg nach Löwenstein gefunden hatte. Eine Chance, ein winziges Aufglimmen, dass dazu dienen könnte, der Kämpferin die Wahrheit näherzubringen, sie ihrer Heimat zu entfremden und sie wie einen Setzling in das Herz Löwensteins zu pflanzen. Es würde einiges an Hege und Pflege brauchen, doch, so hatte Yngvar Stein gelernt, waren stets die Bäume die prachtvollsten, die man selbst gepflanzt hatte. Die folgenden Kämpfe sollten also zeigen, ob die Kämpferin das Potential besaß, ein Baum zu werden oder sich wie ein welker Bodendecker über das Gehölz der Stadt schlingen würde.

Die ersten Kämpfe im Stollen boten ein übliches Bild. Es war ein fester, verankerter Ritus. Zu Beginn spürte man die Gegenwehr der Wahnsinnigen, die diesen Stollen bewohnten zwar, doch kroch die Einschüchterung mit jedem Gefallenen etwas stärker in die Diener der dunklen Kriegerin. Die Rekrutin kämpfte tapfer, doch wäre es vermessen gewesen zu sagen, dass sie einen maßgeblichen Anteil am Ausgang hatte – bis das ungleiche Duo in die zweite Ebene hinabstieg. Sie beide hatten bis dahin ein zumeist stilles und zweckmäßiges Zwiegespräch im Schein ihrer Waffen geführt. Nur die nötigsten Worte, wie zwei Raubtiere, die sich im Schein der Dunkelheit durch ein Schaf nach dem anderen rissen.

Der Widerstand war tiefer in der Mine jedoch unerwartet höher gewesen und die Rekrutin war die erste, die unter dem stetigen Aufeinanderprallen des Stahls erste Anzeichen von Ermüdung zeigte. In einem schmalen Engpass schließlich, begannen die Wahnsinnigen, die Kultisten, die Diener der schwarzen Mutter, auf sie einzuströmen. Ein schwarzer Fluss, der, gleich geöffneten Fluttoren, nicht zu versiegen schien. Der erste Schlag, der die Rüstung des Kriegers durchschlug markierte das vorzeitige Ende des Raubzuges. Schlag um Schlag durchdrangen die schwarzen Schergen den Panzer des Kriegers, in einer Schnelligkeit die ihm keinen Gedanken daran erlaubten, was passieren könnte, wenn er fiel. Was jedoch sicher sein würde, war, dass es hier passieren würde und er hoffte, ja sich sogar sicher war, dass die Frau aus Silendir das Weite suchen würde. Es war recht – sie würde ihrer Natur folgen und überleben. Der Krieger spürte sich taumeln, ein dumpfer Schlag gegen den Helm folgte und das fanatische Brüllen und Fluchen war plötzlich in weiter Ferne, als der Körper zusammensackte und im Staub in sich zusammenfiel. Der Körper folgte den mechanischen Gegebenheiten zu vieler Verletzungen und aus dem Seitenblick ergoss sich der schwarze Tross weiter, immer wieder, hinaus zu der Tür wo … die Rekrutin noch immer stand? Die dunklen Augen des Kriegers hefteten sich auf die unbarmherzig und unbeugsam kämpfende Kriegerin, die, obwohl es aussichtslos war, versuchte, die Schar an Kultkriegern niederzurringen. “Renn, du tapferer Laie!” war sein einziger Gedanke, unausgesprochen und kraftlos – und natürlich gehorchte die Rekrutin nicht. Schlag um Schlag begann auch ihr Leib nun, in rapider Schnelligkeit unter den Schlägen einzuklappen.

Unverständnis rang mit aufkeimendem Zorn in Geist und Seele des Kriegers. Die berechnende, kühle Art des Mannes, der jeden Schlag zuvor wohlüberlegt gesetzt hatte, begann einem Feuer Platz zu machen, dass förmlich von der unbeugsamen und tapferen Art der Kämpferin gespeist wurde, ja sogar einforderte, dass er sie nicht in dieser Höhle ihrem Schicksal überlassen durfte. Es war Scham genug, dass die Kämpfer ihn überrannt hatten und ihn vermutlich in die Tiefen der Miene verschleppen würden – doch keine ihm anvertraute Seele durfte ein solches Schicksal ereilen. Mithras beschützt. Mithras ordnet. “Bald.” war der einsilbige Kommentar, der seinen Geist wieder in die Bahnen des Hier und Jetzt lenkte. Ein Gewimmel aus schwarzgewandeten Rücken tummelte sich vor der Kämpferin, die in jedem Moment niedergehen würde.

Und wie für jeden Tag eine Nacht anbricht, erhob sich der Legionär im Gleichklang zum in sich zusammenfallenden Leib der Rekrutin. Von hinten mochte es gewirkt haben, als türme sich, Fels für Fels eine brodelnde Wand aus Zorn und Hass auf, die man in ein Konstrukt aus Wappenrock und Rüstung gewoben hatte, um einen heiligen Auftrag zu vollenden, der gerade erst begonnen hatte. Die auftürmende Gestalt von Yngvar Stein erhob seine Klinge wie ein Dirigent, der kurz vor seinem Magnus Opus stand und mit einem Paukenschlag, brüllend und schreiend seine Klinge auf den ersten Kultkrieger niederfahren ließ. Das beidhändig geführte Breitschwert sang sich, vibrierend, hackend, schneidend, in die Schulter des Kämpfers und sackte bis in den Torso hindurch, ehe die Klinge rückwärts und Schräg zum Wundkanal aus dem Leib geführt wurde. Ein Fußtritt in den Rücken beschleunigte die Rückholung der Waffe und ließ den in wenigen Momenten verendenden Leib zu Boden sacken. Dem Rest der zum Teil verletzten, zum anderen Teil vollends überraschten Schar erging es ähnlich und gleich einer schwarzen Wand, die man mit einer Spitzhacke Stück für Stück einreisst, fielen die Kämpfer unter dem unerwartet auferstandenen Krieger zum Opfer, dessen steinerne Fassade gänzlich abgefallen und einer fürchterlichen Wut gewichen war, an dessen Ende ein Haufen toter Leiber stand, über denen der Streiter wie ein Unwetter thronte, schwer atmend, geschunden und mit Blut und Schmutz befleckt.

Die Flut war vergangen – und das einzige Wesen, das noch immer wie ein nach Luft ringender Fisch auf dem Boden zappelte, sich dem Unvermögen des eigenen Körpers nicht beugen wollte, war die Rekrutin. Die Tapfere, diejenige, die nicht akzeptieren wollte, ihren Mitstreiter am Boden liegen zu lassen, die Verräterin, die am Ende doch niemanden verraten hatte. Das Raunen der Kultisten trat in eine weite Ferne, als der Legionär über die Leichen hinweg zu der um Luft ringenden Kriegerin trat. Die dem Wahn verfallenen hatten sich in die dunklen Ecken und Schatten ihres Gewölbes zurückgezogen – für den Moment. Gleich einem Schwarm Insekten, die darauf lauerten, sich auf das Aas zu stürzen, waberten sie durch die Schatten der Umgebung. Spürbar. Hörbar. Aber doch für diesen Moment nicht Teil der Welt.

Die Klinge des Kriegers wurde mit einem Schlag in den Boden gerammt und es schien beinahe so, als beschreibe das Vibrieren des Stahls eine schützende Glocke um beide, undurchdringbar für die Häscher in Schwarz. Die Kriegerin indes, öffnete ihre Augen – Unglaube darüber das der Kämpfer noch am Leben war, Verzweiflung und der Drang, das Gewölbe zu verlassen, schnell, kopflos, umfing die Kämpferin. “Noch nicht.”

Beruhigende, beschwichtigende Worte ereilten die Rekrutin, die sich in ihren Kopf so zähflüssig vorarbeiteten, wie abgestandenes Öl, am Ende jedoch den Gedankenapparrat genug schmierten, um zu begreifen, was passierte. Sie war geschwächt – zu geschwächt. Jeder weitere Kampf konnte das wirkliche Ende bedeuten – dass sie beide noch lebten war nicht weniger als eine Fügung des Herrn. ”Es ist an der Zeit. Tu es jetzt.

Eine Hand legte sich auf die Kettenwehr der Kämpferin, während der gepanzerte Krieger Worte des Gebets und der Einkehr blechern und wiederhallend in die Glocke des kleinen Schlachtfelds sprach. Die Welt schien sich mit jedem Augenblick, den sich Yngvar Stein weiter dem Reich des Herrn als Gefäß andiente, weiter zu entrücken. Die Hand auf den Leib der Kriegerin gelegt, dauerte es nicht lange bis seine Hand etwas Unkörperliches zu greifen bekam, gleich einer fernen, stofflichen, aber unsichtbaren Existenz, die in und über der Welt des Assam lag, an das sich der Krieger klammerte. Die Wunden der Kämpferin traten vor sein Auge, die Erschöpfung, das Rasseln des Atems und die Verzweiflung – beklagenswerte Zustände wie auch Trophäen, die in einem Kampf für nicht weniger als den Lichtbringer erstritten wurden. Wunden die aufgetreten waren, wo sie nicht sein sollten, Erschöpfung, wo sie nicht einhalten sollte, Verzweiflung wo Standhaftigkeit den Leib beherrschen sollte.

Das Bild formte sich mit jedem neuen Wort des Gebets zu einem festen Konstrukt, einem das der Krieger, in diesem Moment völlig der Welt entfernt, in den Leib der Kämpferin manipulierte, die da vor ihm lag. Wenngleich Sagen und Legenden davon künden, die heilende Kraft des Herren könnte selbst Tote wiedererwecken, so war der Zweck hier ein anderer: Die Wundheilung würde schneller einsetzen, aber nicht auf wundersame Art und Weise wieder zusammenfügen, was nicht zusammengehörte. Es würde Linderung eintreten, Kräfte würden schneller zurückkehren – aber ihr Leib würde dennoch nach Erholung schreien, würden sie einmal das Gewölbe verlassen haben.

Und das taten sie – unter den Schreien und dem wahnsinnigen Gackern der Krieger schlugen sich die Rekrutin und der Legionär durch das Gewölbe bis hinauf an die Luft und zurück bis zur Grenzfeste. Bis zu dem Ort, der die erste Bastion und sichere Unterkunft markieren würde. Den Ort, an dem es den Gliedern endlich gestattet war, sich zu erholen.

Die Gliedmaßen des Legionärs hatten indes schon lange aufgegeben und waren alleine durch die Willenskraft des Mannes vorangetrieben worden, hatten sich schreiend in ihrer eigenen Mechanik seinem Willen gebeugt und forderten nun, in der Festung, ihren Tribut für gnadenlose Überbeanspruchung. Obwohl es Betten in der Festung gab, hatte keiner der beiden Kämpfer mehr den Willen auch nur noch eine Stufe zu erklimmen – nein. Ein paar Felle, die beiden langen Bänke und ein Rest Suppe aus dem Schlauch des Kriegers mussten genügen, bis der Schlaf beide einholte. Ein letzter Akt der ewigen Wacht, der sich Yngvar Stein verschrieben hatte, als er mit müden, bleiernen Augenlidern abwartete, bis die Rekrutin, gefällt von den Strapazen, eingeschlafen war – nur um sich dann selbst die Schwäche des Schlafes zu gönnen, nicht ohne wenigstens mit einer Fingerspitze den Knauf seines Schwertes zu berühren, der neben der Bank lag.

Der Schlaf war in dieser Nacht ein tiefes Loch, das so dunkel und dessen Fall so tief und schnell war, dass der Krieger das Gefühl hatte, mehrere Tage durchgeschlafen zu haben, obgleich lediglich das Rumpeln vorbeifahrender Marktkarren an der Grenzwacht den neuen Tag angekündigt hatten. Mit noch immer ermatteten Gliedern erhob sich Yngvar und begann eher reflexartig als wirklich bereits wieder im Reich der Lebenden angekommen, einen Kräutertee aufzusetzen und seinen letzten Proviant zu plündern. Und so wird Kayra Greifengart, als sie wieder erwacht, einen Becher, die dampfende Kanne Tee und einen Apfel auffinden. Daneben findet sich eine kurze Notiz:”Erst in der dunkelsten Stunde offenbaren wir bisweilen unser wahres Wesen, an dem man uns bis zum Ende unserer Tage messen lassen soll. - Y. Stein.”

So Kayra die Festung an diesem Morgen erkunden wird, dürfte sie nach einigem Forschen feststellen, dass Yngvar zwar das Kaminzimmer verlassen hat, stattdessen aber nun in dem schmalen Bett der Kommandatur liegt und so tief und ruhig schläft, dass er nur mit schweren Geschützen zu wecken gewesen wäre. Einige Pergamente, Notizen und Pläne zeigen, dass er in den letzten Stunden nicht nur Tee bereitet, sondern offenbar auch Schriftstücke bearbeitet hat, die auf Arbeiten an der Grenzfestung hindeuten – bis der Körper am Ende doch einen Nachschlag gefordert haben dürfte.

Im Gegensatz zum Zeitpunkt als sie einkehrten, liegt die Wehr nun sauber aufgeschichtet neben dem Bett, der Wappenrock wurde sorgsam gefaltet obenauf gelegt, während der Leib des Kriegers unter diversen Laken und Fellen vergraben ist. Nur das tiefe, Ein- und Ausatmen, der stetige Tausch der kalten Luft, die sich an der Grenze Candarias zu Löwenstein mischt, ist hörbar, So viel wie Mithras zu geben scheint, nimmt er sich offenbar bisweilen auch wieder.

[Bild: uo-age-of-shadows-1.jpg]
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#23
Das Rauschen aus Jubel und Heiterkeit an diesem Sommertag im fernen Nortgard war zu einem Mantel geworden, der sich um jeden Menschen und jede Frau Hammerhalls gelegt hatte, die das Jungrecken-Turnier auf einem der zahlreichen Übungsplätze der wichtigsten Siedlung Nortgards besucht hatten. Wenngleich es selten dazu reichte, die Sitzgelegenheiten um den Platz zu füllen, so waren doch stets zahlreiche Menschen dort, die ihre Schützlinge in Aktion sehen wollten – was an diesem Tag dazu geführt hatte, dass das gesprochene Wort über die Ereignisse dieses eigentlich unbedeutenden Wettkampfes die Runde machte: Ein neuer Streiter hatte sich entboten und strich einen Sieg um den anderen ein – bis er am Ende den eigentlichen Favoriten, Aedryf Hammersmann, den Sohn eines gut betuchten Schmiedes der Stadt und ein Kämpfer so furchtlos, dass man ihm die Seele eines Bären zuschrieb, in den Sand geschickt hatte.

Für die Schwester des Kämpfers kam der Sieg wenig überraschend, hatte sie doch jeden Schritt des Kriegers von klein auf beobachten und sehen können, wie er sich mit jeder Trainingseinheit mehr seinem Ziel näherte, sich Respekt in den Reihen der anderen Recken zu erarbeiten. Und dieser Tag war heute gewesen – unbesiegt, aber erschöpft und von zahlreichen Prellungen übersäht, errang Yngvar Stein seine erste Tulasilber-Münze, in die man den Tag und Anlass seines Turniersieges graviert hatte.

Es war nicht etwa so, dass man hier von einem denkwürdigen Tag sprechen würde – war es doch nur eines von zahlreichen Turnieren, die im Laufe des Jahres stattfanden – es war allenfalls bemerkenswert. Und das zog widerum viele Schaulustige an, die bald schon mit dem aufstrebenden Beamtensohn mitfieberten und ihm am Ende zujubelten, als er seine erste Münze errungen hatte.

Selbst auf dem Heimweg sprach man den jungen Recken an, der den gesamten Weg über mit seiner Schwester heiter feixend die Ereignisse erneut durchlebte – und die, die vielleicht kommen mochten. Ein Ritter würde er irgendwann gar werden, orakelte Marit, die damals noch ihren alten Namen trug. Ein Ritter Nortgards. Yngvar Stein wollte daran glauben, hoffen und träumen.

Das Haus seiner Familie, in dem sein Vater ihn bereits am Kamin erwartete, kontrasierte mit diesen Erlebnissen so stark, dass Yngvars gesamter, kampfgebeutelter Körper sich unmittelbar verkrampfte, als er die Stube betrat. Die Stille in dem Haus wirkte, verglichen mit all dem Getöse auf den Straßen der Hauptstadt Nortgards beinahe schon bedrückend und selbst Marit, sonst sein Schatten, hatte sich elegant und geräuschlos wie üblich die Treppe hinaufgeschlungen, um in ihre Gemächer zurückzukehren, wie ein Vollmond in tiefster Nacht, vor den sich eine Wolkenpartie geräuschlos geschoben hatte. Yngvars Lächeln – das Lächeln eines Siegers, der durch den Siegestaumel überheblich und arrogant zu werden drohte, erstarb langsam als er sich seinem Vater näherte.

„Irgendwann..“ begann die tiefe, sonore Stimme des alternden Mannes, der in einem Sessel saß und den Blick auf das Feuer gerichtet hatte. „Irgendwann wirst du mich stolz machen, mein Sohn.“ Das Lächeln von Yngvar Stein war zwischenzeitlich gänzlich verschwunden. Die Münze landete mit einem in der stille aufbegehrenden Laut auf dem Schoß seines Vaters, während der Jungrecke anklagend einwand:“Und die Tatsache, dass dein Sohn jeden aufstrebenden Krieger dieser Stadt soeben deklassiert hat, ist kein Grund, Vater?“

Der Mann seufzte auf und blickte Yngvar direkt an, der nun mittlerweile neben ihm am Feuer stand. „Welches Land hast du erobert Yngvar? Welche Krone erstritten? Welches Weib hast du aus Not befreit?“ Der junge Recke öffnete seinen Mund, war jedoch unfähig etwas zu erwiedern. „Du bist ein Stück Zucker, dass man in Glas Wasser geworfen hat, wenn du glaubst, dieser Erfolg hätte dich die Welt erobern lassen. König ist nicht der, der sich feiern lässt wie einer, sondern der, der sich verhält wie einer.“ „König ist der, der von Mithras an die Spitze des Reiches gesetzt worden ist.“ gab der Sohn in einem Anflug von arrogantem Trotz zurück – und sein Vater blickte den jungen Krieger daraufhin lange an.

„Der Turniergang hat in unserem Lehen eine so lange Tradition, dass du glaubst, in einem Sieg würde viel Ehre liegen. Und doch frage ich dich: Was hast du gewonnen, wenn du einen Apfel von einem prall gefüllten Apfelbaum pflückst? Die Ernte hast du erst eingebracht, wenn du jeden einzelnen Apfel gepflückt hast und dir die Arme von Körben müde sind, mit denen du deine Ausbeute davongetragen hast.“

Yngvar war mittlerweile gänzlich still geworden. „Du kannst kämpfen, Yngvar.“ wandte sein Vater nun ein. „Aber willst du dieses Talent in den zahllosen Turnieren unseres Landes vergeuden, nur um dich selbst feiern zu lassen? Du hast hart gekämpft, hart gearbeitet, für diesen ersten, diesen einen Sieg.“

„Was schlägst du vor, Vater?“ kam es mit leichtem Widerstand eines Sohnes, der eine Niederlage eingestehen musste.

„Das frage ich dich Yngvar. Und das solltest du dich fragen. Frage dich, was für dich der sinnvollste Weg ist, deine Fähigkeiten einzusetzen – denn du hast nur eine Tür aufgestoßen. Was sich dahinter befindet, das liegt bei dir.“

Eine weitere Lehrstunde Lebensfragen, garniert mit kryptischen Bemerkungen. Bisweilen hasste Yngvar diese Art an seinem Vater – wenngleich oftmals eine tiefe Weisheit darin gelegen hatte, die Yngvar glauben ließ, er hätte es auch zu Adel bringen können, wenn er es nur gewollt hätte.

Als der Krieger in seiner Kammer angekommen war, die Münze hatte er bei seinem Vater belassen, ließ sich Yngvar kraftlos auf das Bett fallen. Durch das Fenster seines Zimmers drang das mittlerweile wieder normale Raunen der Nordstadt und je tiefer sein Körper in seinem Bett einsank, umso tiefer entschwand auch sein Geist in die Welt der Träume – einer Welt, die vor allem Heilung für den gebeutelten Körper versprach. Die Schwärze des Schlafes empfing den Krieger beinahe unmittelbar nachdem er den Blick auf die Decke des Zimmers gerichtet hatte und entfernte ihn aus seiner Heimat und beließ ihn im Taumel der matten Schwärze, die er in Gedanken durchschritt – alleine.

Als Yngvar erneut seine Augen öffnete, glaubte er, dass kaum eine Minute vergangen sein musste. Das Raunen von den Straßen jedoch war verschwunden, das Licht, das durch das Fenster schien war anders. Es fühlte sich an, als wäre es früher Abend. Mit noch leicht schmerzenden Gliedern erhob sich der Krieger und begann auf krampfgeschüttelten Beinen den Flur hinunter in die Küche zu schreiten. Es war ein Weg, der sich länger anfühlte, als er ihn in Erinnerung hatte. Das Wasser, was er aus der Schale in der Küche trank hatte es dumpfes, wenngleich das feuchte Nass seinem Körper etwas mehr Aufmerksamkeit zurückgab – eine Aufmerksamkeit, die binnen weniger Augenblicke schrie, dass irgendetwas nicht richtig war.

Yngvar schritt an den Türrahmen der Küche, hin zum Treppenaufgang und dem Flur, der die anderen Räume verband. „Vater?!“ rief er, doch keine Antwort folgte. Langsam durchschritt Yngvar die anderen Räume des Hauses, langsam, vorsichtig. Leichte, tapsende Geräusche führten ihn durch jeden Winkel des Hauses – und mit jedem leeren Raum verstärkte sich ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend – erneut. Ein Gefühl, dass ihm bereits bevor er Gewissheit hatte, sagte, dass da niemand war. Es war sogar mehr als nur ein einfaches Gefühl. Es war blanke Angst – Angst, dass er alleine sein würde.

Das gesamte Haus wirkte, als hätte es jemand aufgeräumt und sei dann einfach gegangen. Einzig der köchelnde Eintopf im Kessel der Küche durchbrach dieses Bild etwas und kündete davon, dass es vor kurzem vielleicht noch Leben gegeben hatte. Das letzte Zimmer war das von Marit. Yngvar atmete tief durch. Sie musste da sein. Sie musste einfach.

Doch auch hinter dieser Tür befand sich nur die Leere eines perfekt aufgeräumten Zimmers, als hätte es jemand so dekoriert, um daraus ein Familienmuseum der Familie Stein zu machen.

Aus der Angst war mittlerweile aufwallende Panik geworden und der Krieger stürzte nun förmlich zur Haustür. Vielleicht in der Stadt. Vielleicht hatte man Vater zur Arbeit berufen, vielleicht war Marit in der Stadt unterwegs und Mutter .. war vielleicht am Markt. Die Schritte des Kriegers wurden schneller und schneller – so schnell, dass er beinahe die Treppe hinabsürzte, sich jedoch im letzten Moment noch fangen konnte. Mit schwerem, flatterhaftem Atem und leicht torkelnd ergriff er den Knauf der Haustür, stürzte ins Freie … und fiel.

Yngvar konnte nicht einmal sagen was er sah, so unmenschlich real war das Gefühl zu fallen, so überwältigend, dass der Krieger schließlich die Augen öffnete und sich im Hier und Jetzt wiederfand. Die Augen wurden förmlich aufgerissen und er schnappte nach Atem – bis sein Kopf ihm bald schon mitteilte, dass er in Sicherheit, in seiner Kammer in Löwenstein an der Marktgasse war.

Ein letztes, tiefes Ausatmen, ein Blick durch den Raum, der jedoch auf seine eigene Art irgendwie leer wirkte. Yngvar strich über den Stoff des großen Bettes, dass er erst kürzlich hatte anschaffen lassen, über den weichen Stoff und über die freie Stelle neben ihm. Kurz ruckte der Blick zum Fenster, zu dem Ding in der Wand, dass das Raunen der Stadt an sein Ohr trug, wie es auch sein Traumfenster in seinem Traumzimmer in Hammerhall schon getan hatte.

Erschöpft resignierte der Krieger und ließ sich erneut in die weichen Stoffe fallen, um die Welt erneut auszusperren.

[Bild: traumserien.jpg]
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#24
Die tiefen Kellergewölbe unter dem Mithrastempel waren etwas, zu dem nur die wenigsten Menschen jemals Zugang erhielten. Und selbst diejenigen, die unter Begleitung von Kirchendienern in die tiefen Gewölbe hinabgelassen wurden, sahen nicht mehr als die Spitze des schattenhaften Spiegels, der sich wie eine schwarze Urwurzel unter die Reichshauptstadt bohrte und für die dunklen Seiten stand, die mit dem ewigen Glanz und der Helligkeit des Lichtes einhergingen, mit denen die Kirche nahezu vollständig assoziiert wurde. Dort unten gab es nur das Licht der Fackeln, blanken, unverzierten Stein und noch viel tiefer unten den Geruch von feuchtem Erdreich, den Zellentrakt und den Bereich, der das geheimste Wissen der Kirche beinhaltete.

Die Zellen, der eine Ort, der bisweilen von Würdenträgern der Stadt besucht werden durfte, war noch die prominenteste Räumlichkeit im Schattengarten des Lichts, eine trostlose Kammer, in der es keine Hoffnung und keine Freude gab, sondern nur das Gewicht der Schuld derer, die dort interniert wurden. Was die heilige Kirche dort mit ihren Gefangenen zu tun pflegte, wurde von Außenstehenden nur in seltenen Fällen dokumentiert und man konnte davon ausgehen, dass die wirklich relevanten Dinge, die dort stattfanden, überhaupt nie eine Erwähnung in Schriftform gefunden hatten und auch nie finden würden. Für all' jene, die dort ihr Ende finden würden, gab es das Gebot der Angemessenheit oder der Milde nicht – dort gab es nur die Flamme, die sich durch das Fleisch und den Knochen bis auf den Kern des Frevels und des Übels durch den Körper fraß, um jede Form von Häresie freizulegen und sich von den Dienern der Kirche sezieren zu lassen. Yngvar Stein kannte niemanden, der diesen Ort jemals verlassen hatte und nicht von seinem Aufenthalt gezeichnet worden war. Denn Mithras war groß und seine Flamme brannte unsichtbar zwischen den Gitterstäben des Kerkers und formte das Wesen der Frevler stets neu – ob sie es zuließen oder nicht.

Der Sonnenlegionär hatte, als er noch ein Novize gewesen war, einem ausladenden Vortrag von dem verstorbenen Erzpriester Greiffenwaldt zu den Methoden der Folter gelauscht und sich bisweilen gefragt, ob diese Methoden überhaupt eine Wirkung entfalten konnten und ob sie vor allem nicht zu grausam für eine so noble Institution wie die Kirche waren. Viele Monde, ja sogar Jahresläufe später, hatte sich die Ansicht geändert. Nicht was die Geeignetheit der Methoden anging – denn noch immer hielt Yngvar Stein die brutale Folter und die Malträtierung eines Leibes zur Wahrheitsfindung für sehr ungenau. Allerdings hatte er festgestellt, dass die Frage danach, wie weit man gehen durfte, nur auf eine Weise beantwortet werden konnte:”Weiter als die Vorstellung es erlaubt.”

Die heilige Kirche war dem Bewahrer auf seinem Kurs des Ausgleichs und der Friedfertigkeit gefolgt und das Ergebnis, erst wenige Monate nach dem Blutkonklave war, dass der Respekt gegenüber der Institution, die maßgeblich zum Sieg über die Vampire beigetragen hatte, mit dem Erbrochenen der jeweils vergangenen Nacht im Rinnstein Löwensteins verflossen war. Es galt, Exempel zu statuieren, wenngleich klar war, dass man damit nur Symptome bekämpfen konnte. Die Krankheit, das lange Siechtum, mit welchem die Menschen nach dem Blutkonklave infiziert worden waren und welches ihre treuen Seelen ins Wanken brachte, musste an der Wurzel bekämpft werden. Der Ursprung musste gefunden werden, der Kern, der zu verrotten begonnen hatte und die Menschen von Innen zu verderben drohte. Und diesen Klumpen, der sich in die frommen Gläubigen eingenistet hatte, konnte nur auf eine Art entfernt werden: Durch einen Schnitt, so präzise - wie es rohe Gewalt unter Folter niemals sein konnte – und das Ausbrennen der Krankheit, die in den Untiefen des menschlichen Verstandes lag.

Von den Zellen, in denen noch eine Hexe einsaß, die bald den Weg der Flammen beschreiten würde, einer Frau, die sich trotz ihrem Bekenntnis zu Mithras in den Fängen einer Schwärze sah, die den Körper irreversibel korrumpiert hatte, schlugen sich die Gedanken an die Reinigung des Volkes unter Mithras' Wacht ihren stetigen Weg durch das lichtscheue Gewölbe, durch die Feuchtigkeit, durch die Einsamkeit, vorbei an dem einsamen Torwächter Bogart, durch das schwere und unverwüstliche Holz in die hintersten Kammern des Tempels, wo alte Schriften und okkulte Sammlungen schon jahrhundertelang gehortet wurden. Der Duft alter Papiere und abgegriffener Einbände war in dieser Kammer, die selbst nur Vorraum für einen viel tieferen Kern der Kirche war, allgegenwärtig. Und inmitten dieses Raumes fand sich der Sonnenlegionär. Der Krieger hatte auf einem Stuhl Platz genommen, den er schon vor vielen Wochenläufen dort hinabgebracht hatte und auf dem er Stunden um Stunden die Zeit verstreichen ließ und dort in die Dunkelheit starrte, darüber sinnierend, forschend, wie man den Ursprung der stillen Keuche finden konnte, die sich in den Menschen festsetzte. Der zunehmende Verfall hatte den Krieger spiritueller werden lassen, hatte seinen Drang, die Pforte zum Elysium weiter aufzustoßen nur verstärkt und ihn bisweilen sogar so beflügelt, dass er geglaubt hatte, den Blick auf die Welt gänzlich zu verlieren. Ohne zu wissen, welch' großen Dienst sie ihm dabei erwiesen hatte, hatte die Bindung an einen weltlichen Menschen allein, ihn davor bewahrt, sich von der überwältigenden Macht der Überwelt entrücken zu lassen, in der Mithras herrschte. Und am Ende war sie es auch gewesen, die der Grund dafür gewesen war, dass er das Gewölbe bisweilen verließ – die wirkliche Welt, außerhalb des schattenhaften Brunnens, in den er dort unten eintauchte, wahrnehmen wollte, um dieser einen Person willen nicht zu verlieren, was ihn wieder auf den Pfad zurückführte, auf dem auch sie zu wandeln pflegte.

Der Sonnenlegionär hatte gesehen, wie sehr solcherlei Gedanken schon so manchen verändert hatten. Yngvar hatte beinahe schon eine paranoide Sensibilität begleitet, nicht in die Pflichtlosigkeit zu entgleiten. Es war ihm, so befand er, geglückt, wenngleich der Weg der Offenheit in den eigenen Reihen ein Paukenschlag auf dem See der Einigkeit gewesen war und Wellen aufgepeitscht hatte, die man nur durch harte Arbeit wieder glätten können würde. Im Gesamtbild allerdings, waren diese Gedanken nur eine selbstbestätigende Randerscheinung der Sezession, mit welcher der Sonnenlegionär das Übel aus der Welt zu lösen suchte. Es war mittlerweile offensichtlich geworden, dass es nicht mehr ausreichen würde, auf dem Thron der Makellosigkeit zu sitzen und auf die sich im Dreck suhlenden Schweine des Sündenfalls zu blicken, sondern jedes Tier musste einzeln zur Schlachtbank geführt und seiner Lebenssäfte beraubt werden, um im Anschluss genau den Punkt zu finden, an dem die Kreatur von Innen zu verderben begonnen hatte. Sie alle mussten geopfert, geprüft und bis auf ihren Seelengrund betrachtet werden, um herauszufinden, wie man den Rest der Herde retten konnte. Und es war an der Zeit den Schafspelz abzulegen und den Wolf zu offenbaren, der den Makel in den Menschen zu riechen begonnen hatte.

Er hatte nicht erst mit Morana Schinder begonnen, wenngleich sie jedoch eines der Subjekte war, mit denen die Zusammenarbeit am Ertragreichsten gewesen war. Sie war eine Frau von Format, das musste man ihr zugestehen und der Glaube brannte, trotz der furchtbaren Dunkelheit in ihrem Leib, hell in ihr. Die Art und Weise, wie er sie befragt hatte, war eine abstruse Mischung aus Vergnügen und einem sezierenden Eingriff in ihr Leben gewesen, einer gefügigen Offenlegung dessen, was sie so lange verborgen hatte. Wo die einfachen Menschen der Drang nach Geld, Anerkennung und Status trieb, fühlte Yngvar Stein die verbotene, schwarze Frucht in ihrem Körper, eine Frucht, die er pflücken und in Scheibchen schneiden würde, bis er jeden Kern gefunden, jeden Samen geprüft und das Fleisch entfernt hatte, nur um zu verstehen, was die vielen Frauen, die Morana Schinder waren, ausgemacht hatte.

Es war, auf diese Art und Weise, beinahe schon betrüblich, dass eine baldige Verbrennung die Ernte nicht so ertragreich ausfallen ließ, wie es wünschenswert war, doch war ihr bei aller Dunkelheit nicht zu verweigern, die Läuterung in den Flammen länger als erforderlich erwarten zu müssen. Der Wahnsinn hatte bereits Besitz von ihr ergriffen und in der Dunkelheit des Kerkers würde er weitere Nahrung finden, selbst hier. Selbst im Tempel.

Die letzten Gedanken des Sonnenlegionärs, der durch die Nachforschungen hinsichtlich der Übergriffe auf Kirchenmitglieder, der durch die Attacken von Hexern und zuletzt durch die Gefangenschaft von Morana Schinder so tief wie noch nie zuvor in eine Welt eingetaucht war, in der es nur darum ging, noch eine weitere Schicht der Schuldigen und Angeklagten von dieser Welt zu schälen, trieben sich mit der Frage um, ob er für diesen Weg bereits gewappnet war. Ob die Schneiderin, ohne es wirklich zu begreifen, der Schild war, den er zu brauchen glaubte – der Ausgleich, das Fenster in eine Welt, die der Krieger sich ohne die Dunkelheit ersann, in der er zu wandeln begonnen hatte. Was er empfand, war eindeutig und bedurfte keiner tieferen Interpretation und alleine die Tatsache, dass er derlei zulassen konnte, ohne den Blick von seinen Pflichten zu nehmen, war ein Zeichen für den Sonnenlegionär, dass er hier völlig vorbehaltlos sein konnte.

Als der Krieger niederschrieb, was er aus Morana Schinder extrahieren konnte, begleitete ihn das tonlose Gebet, dass die Seele, die er an seine Seite gelassen hatte, durch ihr Wesen den Wahnsinn von ihm abzuleiten wusste, der rechts und links von dem schmalen Grat nach ihm gierte, auf dem er zu wandeln begonnen hatte.

“Je größer wir sind, umso schmaler ist der Weg, auf dem wir wandeln. Und wenn dort in der Ferne nicht mehr als die Dunkelheit auf uns wartet, ist es das Licht, wenn auch nur ein Funke im Widerhall der kalten, ewigen Nacht, das uns vor dem Absturz bewahrt. Nur das eine Licht, dessen Leuchten nachzueilen, wir uns entschieden haben. Ich sehe Dich.”

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#25
Die Nacht hatte ihren Mantel noch längst nicht vom Antlitz der Welt gezogen, als die schweren Schritte des Sonnenlegionärs den Marktplatz durchmaßen. Seine Schritte fanden ihren grollenden Widerhall an den hohen Wänden der umstehenden Gebäude und die Silhouette des menschgewordenen Bronzegolems war nicht mehr als ein kriegstreibender Schatten, der an dem Lichtschein der Nachtwachen und vereinzelt durch die Nacht hastenden Bürger, vorbeizog. Die hastigen, schnell und unterwürfig leise gesprochenen Grußformeln schlichen sich nur als Randerscheinung des Hintergrundrauschens einer verräterischen Stille in den Kopf des Sonnenlegionärs, der auf die trivialen Grußworte der Menschen – einer Herde Schafe unter aus Dunkelheit geformten Wölfen – nur ein tiefstimmiges Brummen von sich gab. Erst vor den Stufen des Tempels, der schon seit Jahrhunderten das Symbol für den Sieg des allgegenwärtigen Herren Mithras war, hielt der Krieger inne und richtete seinen Blick gen Himmel. Sein Blick richtete sich dorthin, wo einzelne Wolken den Mond und die Sterne immer wieder in ihren Schleier zogen und sie dem Blick der Menschen zu verwehren suchten. Man hätte meinen können, dass den Dienern des Lichtbringers die Nacht zuwider gewesen wäre, doch waren es eben diese Augenblicke, in denen sich die unerschöpfliche Lichtlosigkeit über die Welt ergoß, in denen sie doch nie vollkommen sein konnte. Es waren Augenblicke, in denen das Licht und die Herrlichkeit Mithras' sich als die unbeugsamste Kraft aller Welten und Ebenen entpuppte und selbst in absoluter Dunkelheit dem Auge noch ein Lichtlein schenkte – das selbst dann noch da sein würde, wenn der Schleier der Wolken sich verzogen und ins Vergessen entschlafen war.

"Selbst in tiefster Nacht scheint ein Licht, oh Herr, denn die Dunkelheit ist von schwacher Natur. Sie ist eine Flut, die sich nicht selbst zu lenken vermag, ein Wesen der Unordnung, dass zwar groß aber beugsam und dem Licht stets unwissender Untertan ist." waren die abschließenden Worte, die der Krieger mehr zu sich selbst als einer bestimmten Person in den Nachthimmel raunte. Eine Bekräftigung dessen, was er sah, hörte – und tief in seinem Herzen empfand.

Yngvar hatte mit Jakobine über unüberwindbare Mauern gesprochen und bisweilen hatte der Sonnenlegionär den festen Glauben, dass es selbst den Mächten der Dunkelheit so gehen musste und dass auch sie die Verzweiflung kannten, das nicht überwinden zu können, was da unüberwindbar sein musste.

Und wenngleich es der offensichtliche Weg gewesen wäre, so fanden die Schritte des Kriegers ihr Ende nicht am Altar des Herren, sondern folgten nach dem Nachtgebet ihrem Herrn in die Katakomben der Kirche. Der mittlerweile vereinsamte Stuhl, den er sich zu Zeiten, in denen man Hinweise auf die Ermordung des Erzpriesters Greiffenwaldt gefunden hatte, dorthin geholt hatte, wirkte wie ein Thron der mit unheilsbringenden Gedanken lockte und doch die Lösung verhieß, die eine Nacht nicht bringen konnte, wenn man sie mit dem Schlaf der Gerechten auffüllte. Alleine mit sich und dem alten, geheimen Wissen der Kirche, in völliger Stille, schloss der Krieger die Augen und ließ die grabesgleiche Luft des Raumes in seine Lungen strömen. Als der gerüstete Kämpfer sich schließlich auf dem Holz niederließ, dass bereits so viele schwere Gedanken des Kriegers mitgetragen hatte, war die Entscheidung, die Pforte, hinter der nur Schatten und so wenig Licht liegen konnte, bereits in weite Ferne gerückt.

Die vergangenen Jahre hatten gezeigt, dass die Kirche einem stetigen Wandel unterworfen war, in dem ihre Diener sich in den Monden des Friedens zurückzogen um Kraft zu finden und sich für die Aufgaben zu rüsten, die da kommen mögen. Nach dem Blutkonklave und dem Tod des Bewahrers wäre am Ende auch eben dieser Umstand wieder eingetreten, wenn nicht eine kleine Gruppe von Legionären diesen ehernen Zirkel zu durchbrechen gewusst hätte. Der Verschlossenheit und Abkehr der altehrwürdigen Kirchendiener zum Trotz, hatte sich Yngvar Stein als Fackel bewiesen, die sich dem drohend über dem Tempel thronenden Schlaf und der Stille der Kirche zu widersetzen gewusst hatte. Die Novizinnen – und damit schloß er gedanklich bereits die bislang noch als Anwärterin geführte Jakobine Dunkelfeder mit ein – waren dabei zu seinen steten Pfadbereitern geworden. Er hatte, erstmals seit Monden, das Gefühl, dass die Sonnenlegion wieder in geordneten Bahnen arbeitete. Es war Fortschritt erkennbar. Jeder hatte eine Aufgabe und einen Platz, der ihm zugedacht war – selbst der Sonnenlegionär, der, eingedenk der anderen Aufgaben, denen sich seine Brüder widmeten, nun de facto die Spitze der Sonnenlegion verkörpern musste. Wollte er nicht, dass der Tempel wieder der Verwaisung anheim fiel, musste er die jungen Frauen die Mithras ebenso sehr liebten wie er mit der Strenge führen, die einem Ordensmeister würdig war – und den die Legion so sehr nötig hatte. Es war keine Zeit gewesen über Stellungen, Ränge und Aufgabenzuweisungen nachzudenken und was Yngvar anging, würde diese Zeit auch noch lange nicht kommen – spätestens jetzt, wo die Zeit des Friedens vorüber war und das Unaussprechliche seine Rückkehr angekündigt hatte.

Nein – diese Zeit durfte sich nicht wiederholen und die Sonnenlegion durchmaß das Meer dieser Wogen aus fürchterlichen Grausamkeiten derzeit mit ihm am Steuerrad. Die heilige Kirche war eine Handelskogge in schwerer See und sie führte nur eine einzige Ware mit sich: Den Willen, alles was den bleichen Truchsess in diese Welt geholt hatte, zu vernichten und zu beseitigen. Und die Sonnenlegion würde solange in Blut kassieren, bis der letzte Fetzen widernatürlichen Schleims aus der Welt getrieben war.

"Sieh, denn ich bin Dein Unterhändler. Meine Währung ist das Blut der Ungläubigen und ich sammle es gewissenhaft. Es befeuert die Fackel Deiner Herrlichkeit, oh Lichtbringer, und begründet Dein Reich auf den Säulen der Furcht, die Deine Feinde empfinden."

[Bild: 5e34d4710199d1d242571b074d5fc61a.jpg]
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