FSK-18 Yngvar
#11
Anmaßung

Es hatte erneut die Nacht hindurch geregnet als der Novize auf den Exerzierplatz hinaustrat. Er war an diesem Morgen alleine dort, da die Vorbereitungen für das Konklave den regulären Trainingsplan der Gotteskrieger wie überall vollständig verändert hatten. Es war nicht etwa so, dass er durcheinandergebracht worden war, denn die Sonnenlegion als Institution der heiligen Ordnung würde derlei kaum zulassen, vielmehr war die Form der Funktion gefolgt, so dass die eine Hälfte der kräftezehrenden Nachtwache entschlief, während die andere Hälfte vom Säubern des Tempels über Botengänge bis hin zu Sicherungsaufgaben den Tag bereits mit gutem Werk an Mithras, dem Befreier, dem heiligen Licht der Welt, erfüllte.

Yngvar hingegen hatte diesen Morgen die gottgegebene Freiheit, den Tag mit körperlicher Ertüchtigung zu beginnen. Die Bodenfliesen des Platzes, wie auch die Holzaufbauten, waren vom Regen noch feucht und glänzten im heraufziehenden Licht der Sonne, die langsam aber sicher hinter den Dächern der Stadt heraufzog und sich, hellen Federstrichen gleich, auf ihr Antlitz zeichnete und es mit lichten Flächen und Streifen versah und damit die Schatten vertrieb. Ein leichter Dunst begann sich dort zu bilden, wo Wärme auf Kälte, körperlose Trockenheit auf flüssige Feuchte traf.

Und im klanglosen, mühsamen Spiel der Elemente, sah man den Novizen, wie er, den Oberkörper entblößt, einen massiven Stamm auf Hals, Schultern und den zu den Seiten ausgestreckten Armen trug und im Laufschritt den Exerzierplatz umrundete, stets in der Richtung, in der sich auch den Tag über der sonngoldene Ball am Himmel bewegen würde. Das Gesicht des Mannes war konzentriert, das regelmässige Ausstoßen von Atemwolken glich dem Aufschnauben eines Stiers, der bald schon mit den Hufen scharren und sich, den Kopf voran, in sein Ziel werfen würde. Auf dem Männerleib bildeten sich derweil Schweißtropfen, die ungesehen ins Licht verdunsteten. „Schweiß ist Schwäche, die den Körper verlässt.“ hatte sein Lehrmeister in Nortgard stets gesagt, eine Weisheit der er nicht wiedersprechen, sie mittlerweile aber sogar erweitern konnte. Wenngleich es keine Schmerzen bereitete, so zwang der Mensch durch solch schweißtreibende Tortur die im Leib liegende Schwäche, den Makel aus dem Körper an dessen Oberfläche, wo Mithras sie hinfortbrannte, in einem Nebel aus Dunst und Salz.

Noch viele Tage, nachdem die Erinnerung an den Teufelskarren, wie Yngvar ihn für sich selbst benannt hatte, ihm wieder ins Bewusstsein gekrochen war, flammte der Schemen seiner Erinnerung in ihm nach. Und so auch an diesem Morgen. Jeder Mensch, ausnahmslos, war und würde immer fehlerhaft sein. Jeder Mensch hatte mindestens zwei Seiten – das waren zwei Lehren, die ihn dieses Ereignis dereinst gelehrt hatte und vermutlich den Grundstein für die Strebsamkeit und Disziplin des heutigen Novizen Stein gelegt hatte.

Tatsächlich hatten diese Erkenntnisse sich während seiner Zeit in der Legion noch darum ergänzt, dass dieses Ritual der Ertüchtigung am Morgen nicht nur dem Stählen seines Leibes diente, sondern ihn auch reinigte für den Makel den er in sich aufgenommen hatte und noch aufnehmen würde. Kleine Feuer brannten bald schon in ihm, je länger er den vermaledeiten Stamm auf seinem Kreuz transportierte und erst als sein Körper unter der Belastung zu ermüden und seine Beine einzuklappen drohten, ließ er das Gewicht fallen, um sich anschließend aufrecht und trotz des schwitzenden Körpers würdevoll zu erheben. Die Reinigung durch Malträtierung des Leibes hatte darüber hinaus den wundervollen Effekt, dem Geist Klarheit für den Rest des Tages zu schenken – eine Klarheit, die er derzeit täglich brauchte.

Die Zeit der Ruhe seit der Mühlenreinigung war vorbei und es galt erneut, vielen Bedrohungen zu trotzen. Unwillkürlich erinnerte sich der Novize, während er aus seiner Trinkflasche trank und dabei über den erhöhten Bereich des Kirchengeländes schritt, wie einer seiner Brüder ihn gefragt hatte, ob er seine Schwester noch begehren würde, wenn sie plötzlich vor ihm stand und er hatte dies mit einer Festigkeit verneinen können, die ihn selbst überrascht hatte. Die Erklärung hingegen, war einfach: Er begehrte nicht mehr. Zumindest nicht mehr so, wie man es als wankelmütiges Wesen außerhalb des Zugriffes des Herrn tat. Freilich konnte er die Lust des Aktes empfinden und doch – es gab dort diese Barriere, gleich einer festen, führenden aber auch liebenden Hand, die seinen Kopf stets wieder auf den Weg richtete, fernab der Verlockungen am Rande seiner Welt, die das Licht des Herrn war.

Yngvar hatte diesen Punkt irgendwann in seinem alten Leben, in seiner Zeit in der Heimat, in Nortgard, erreicht, an dem er für Vigdis alles getan hätte und er wusste, dass sie genauso empfand. Sie wären füreinander gestorben – und hätten noch weitaus mehr auf sich genommen, nur um des anderen Willen. Es war der Hebel, den ihr Vater erkannt und eingesetzt hatte, um sie letztlich trennen zu können und vermutlich hätte er nicht einmal annähernd gedacht, welche Felder er auf seinem Sohn damit bestellen würde.

Und er erkannte damit, wenn auch später als gedacht, warum die Legionäre wie auch die Priesterschaft enthaltsam leben mussten. Es galt nicht nur, nicht von ihren Pflichten abgelenkt zu werden, sondern auch nicht diejenigenn zu enttäuschen, die dachten dass sie auf gleicher Stufe oder sogar höher als Mithras stehen könnten, soweit es Yngvar betraf. Zuwendung konnte den Pfad für die Hoffnung bereiten, mit einem Gott konkurrieren zu können.

Und während der Krieger sich noch die letzten Reste der Schwäche, die sich auf seinem Leib in Schweißperlen gezeigt hatten, vom Leib tupfte, fragte er sich, wie Mithras diejenigen so unabdingbar lieben konnte, die so anmaßend waren, dass sie glaubten, so einen Kampf gewinnen zu können.

[Bild: onlineImage.jpg]
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#12
Anmaßung war für den Novizen noch vor einiger Zeit ein zentraler Begriff gewesen. Eine Spur sündhaften Tuns auf den Seelen derer, die sich der Größe Mithras' versagt und beschlossen hatten, ihr Glück im Schatten, mit Blick auf die alles verschlingende Dunkelheit, zu suchen, statt sich der Wärme und dem Licht zu zuzuwenden, dass Mithras ist. Für jene wäre es mehr noch eine Probe gewesen, der man sich stellen musste, statt sich einfach von der Barmherzigkeit vereinnahmen zu lassen, wie es der Novize einst getan hatte. Alles wofür Mithras steht und immer stehen wird, da war sich Yngvar Stein sicher, war alternativlos besser.

Erst zu spät hatte er bemerkt, dass sein rascher Aufstieg mitsamt der Disziplin und dem Feuer, welches noch immer in ihm brannte, nicht nur diejenigen ausbrennen konnte, die sich der Herrlichkeit des Einen verschlossen hatten. Oft hatte Mithras dem Novizen Momente dieser Eingebung bereits geschenkt und selten waren sie zum rechten Zeitpunkt in seinen Geist geschickt worden – nein, Mithras bedachte seine Diener stets dann mit solchen Eingebungen, wenn sich eine Zeit der Prüfung ohnehin schon eingestellt hatte und gemahnte seine Kinder dabei zu recht, in Augenblicken der Wachsamkeit einen Blick mehr zu tun. In Yngvars Fall war es einer dieser Abende des fliehenden Winters, die vordergründig wie jeder andere wirkten, die der Novize jedoch bereits früh als einen dieser "Schicksalsabende" erkannt hatte. Man konnte es förmlich riechen, sogar körperlich spüren, dass sich etwas anbahnte. Und obwohl der Abend ereignislos verstrich und Yngvar sich offenbar grundlos körperlich in höchste Alarmbereitschaft versetzt hatte, schoss schließlich, als er sich soeben zur Ruhe betten wollte, ein Satz durch seinen Kopf, der so bekannt wirkte, als hätte er ihn wie ein Mantra beinahe minütlich sein ganzes Leben lang wiederholt – obwohl nichts dergleichen zutraf:

"Wir neigen dazu, in den schwersten Stunden, die wir durchleben, nur das Wesentliche zu vollbringen und vor allem uns zum Gefallen zu sein – vergessen dabei aber oft jene, die uns viel größere Stütze sein könnten, als wir es jemals für uns selbst je sein könnten."

Es dauerte eine Weile, doch die Stimme, die diese Worte in seinem Kopf wie das Pochen an einer schweren Eichentür nachhallen ließen, stellte sich als jene heraus, die sein Eintritt in die Sünde und damit gewissermaßen auch in die Kirche gewesen war. Wenngleich die Stimme seiner Schwester nun etwas erhabeneres, distanzvolles hatte, würde Yngvar sie stets aus dem Gewirr von tausend Mäulern erkennen.

Einfache Fragen, die dennoch keine Antwort produzieren würden, wurden vom Novizen schnell fortgewischt. Fragen danach, was Vigdis nun wohl gerade tun würde und – überhaupt – wie es ihr wohl gehen mochte: Alles sentimaler Schwachsinn. Die zentrale Frage war dafür umso schneller gefunden, nämlich eben die Frage danach, welche Lehre Yngvar aus diesem einfachen Satz ziehen musste und aus welchem Grund.

Hatte er jemanden vergessen? Waren dort Menschen am Wegesrand, an denen er vorbeigeschritten war, ohne ihnen die Hand zu reichen, auf dass Sie in das reinigende Licht des Herrn hinaufkriechen konnten? Hatte er zu viel an sich gedacht und daran, was Mithras in ihm sehen könnte, nach allem was geschehen war und dabei seine Brüder und Schwestern außer Acht gelassen?

Die Kirche, soviel war in jedem Fall sicher, ist ein Konstrukt, dem das Wort "Familie" ein schlechter Vergleich ist und sie doch hinreichend beschreibt, wenn es darum geht, das Miteinander zu erklären. Und tatsächlich hatte er festgestellt, dass die Zahl derer, die tapfer das Wort Mithras' verkündeten, gesunken war. Besonders zwei vielversprechende Anwärterinnen waren immer seltener zu sehen und der Novize fragte sich, ob er Anteil daran hatte.

Fest stand indes, dass diese Frage sich nicht in dieser Nacht klären würde – und so kam es, dass die Frage nach der eigenen Anmaßung und Überheblichkeit die Taten des Novizen in den Hintergrund rücken ließ und er im Zwiespiel der heraufziehenden Monde wie auch im geschäftigen Alltag der Kirche in den Hintergrund der ehernen Steine schmolz, die schon so viele wie ihn kommen und auch gehen sahen.

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#13
Das Lied aus dem Hintergrund
Das Leben als Schleichfigur der Legion war nicht ohne Vorzüge. Aufstehen, waschen, beten, rüsten, ertüchtigen, waschen, beten, wachen, beten, schlafen, beten und am Ende weiterschlafen. Es war ein Tagesablauf, der in einen Vers passte und nicht viel vom Gläubigen verlangte, außer dass er ihn jeden Tag aufs neue aufsagte.

Die Zeit zog dabei am Novizen in unbarmherziger Ereignisneutralität vorüber, wie ein Mühlenrad, dass sich ohne Unterlass immer weiter dreht und nur die gemahlene Essenz dessen übrig lässt, was es die Tage und Wochen davor hatten wachsen lassen. In diesem Mühlrad hatte sich der Novize willentlich als Statist gesehen, als pflichtbewusster Streiter der Legion, der sich vor allem in Demut zu üben suchte, nachdem ihn die Ereignisse an der Mühle in Candaria und was daraus für ihn gefolgt war, nicht aus seinem Griff entließ. Am Ende, so glaubte Yngvar, dass es vielleicht aber sogar dieses Ereignis war, dass Mithras ihm zur Probe und zum Geschenk zugleich gemacht hatte.

Er hatte in Blut, Feuer, Schweiß und Tränen eine Taufe erfahren, die wenige vor ihm durchleben durften und war daraus so gestärkt hervorgegangen, wie er es nicht für möglich hätte. Er hatte sich nicht länger nur als Werkzeug des Herrn angeboten, sondern war zu einem ebensolchen geworden. So wie die schwarze Kreatur von seiner Klinge schmolz, verband er sich mit dem heiligen Zweck, dem die Legion dient. Ganz im Gegensatz zu anderen, wie sich herausstellen sollte.

Evora Askolt: Kein Lebenszeichen. Phoebe Wehmer: Kein Lebenszeichen, vermutlich heimgekehrt. Victoria Gerber: Unerlaubt ferngeblieben und unbekannten Aufenthalts. Micael: Erneut verschollen. Und selbst ihre Seligkeit und auch Hochwürden Eylis zeigten sich dieser Tage nur äußerst selten. Und, was Yngvar besonders schmerzte, selbst von Pavel war kaum etwas zu sehen.

Die Legion und auch der Klerus waren innerhalb weniger Wochen um ihren Nachwuchs beraubt worden , sofern sie nicht ohne sein Wissen einer höheren Mission dienten. Einer jedoch, stand weiterhin vor dem Tempel und hielt wache, seinem Namen die Ehre gebietend, die er verdiente: Yngvar Stein hatte beschlossen, noch immer vor dem Tempel zu wachen, selbst wenn Mithras selbst entschied, das eherne Gebäude einzureißen. Und wenn er der letzte Legionär des ganzen, verdammten Amhrans sein würde – solange er hier wachte, würde kein verfilzter Mondwächter, kein frevelnder Silendirer und vor allem kein Dämonenbuhle diese Hallen betreten.

Nun war es so, dass der Novize sich fragte, ob seine Flucht in den Hintergrund der Legion vielleicht sogar eine Mitschuld am Entschwinden der einst so vielversprechenden Novizen und Anwärter getragen hatte. Es war mithin mehr als erstaunlich, dass der Tempel innerhalb weniger Wochenläufe so verwaist darnieder lag.

Was also, konnte er, der Novize nun tun? Mit einem Brummen blickte der glatzköpfige Krieger über den Marktplatz Löwensteins und erlaubte seinem sonst so pfleglich in Härte und neutraler Mimik geübtem Gesicht einen missmutig bis entnervten Blick. Die Schafe mussten geführt und gehütet werden, die sich in dieser Stadt täglich um Gold und Nahrung schlugen. Und zumindest für letzteres war auch die Legion zuständig. Der Gedanke wurde mit einem leichten Seufzen abgeschlossen und er entschied schliesslich, dass er wohl nicht länger nur seinen Hintern in die Sonne halten konnte. Wenn die Zeiten uns zu den Trümmern einer einst glorreichen Zeit führen, dann ist es unser aller Pflicht, sich der goldenen Monde zu erinnern und den ersten Stein aufzuschichten, an dessen Ende ein prächtigerer Tempel steht, als er zuvor war.

Also galt es, die Aufgabenliste von einst wieder aufleben zu lassen. Die Priesterschaft hatte es zwar bislang nicht vermocht, dem dürstenden Novizen die Weisheit des Glaubens in dem Maße einzuschenken, wie er ihr bedurfte, aber das würde ihn kaum abhalten, nicht erneut um den Krug der Lehre zu bitten. Gleichsam würde Hochwürden Eylis vielleicht etwas Entlastung wohlwollend gegenüberstehen.
Und schlussendlich gab es da noch eine Sache, die ebenfalls unerledigt geblieben war. Yngvar blickte für einen kurzen Moment hinab auf seine Klinge, deren Knauf er fester umgriff. Das Lied war keinen Tag, keine Minute verklungen und er war nun endlich bereit, darin einzustimmen und mit den Vorbereitungen zu beginnen.

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#14
Löwenstein. Glanz der zivilisierten Welt, Herz des Reiches und vor allem: Herz des rechten Glaubens an unseren Herrn Mithras. Welchen Grund könnte es gegeben haben, dem Schoße Mithras‘ zu entfliehen – vor allem zu einer Zeit in der Pavel, Micael und er die letzten drei kampftauglichen Männer im ehernen Orden der Sonnenlegion gewesen waren. Es konnte nur der Ruf einer Sache sein, dessen unerledigter Makel dem Novizen derart auf der Stirn brannte, dass es keine Alternative gab. Also gab es nur den einen Weg – den des Pilgers.

Und so wie ihn das Lied aus der Ferne gerufen hatte, fernab des Tempels das Licht in die Welt zu tragen, hatte es seine Pfade wieder zurückgesteuert. Es war für Yngvar Stein weder eine bewusste, noch eine anderweitig kontrollierte Entscheidung gewesen: Eines Abends hatte er schlicht und ergreifend festgestellt, dass es Zeit war, zurückzukehren und dass die Ferne ihm bishin alles gezeigt hatte, was es da zu lernen gab.

Also trat er an dem Tage durch die Tore der Stadt, an dem das große Fest der Konklave sein sollte – eine gute Gelegenheit, möglichst viele, alte Gesichter begrüßen zu können. Und so begab es sich, dass der Sonnenlegionär unter dem Glockengeläut der Stadt das Gefühl von Heimat zu spüren begann – die Wärme, die man nur spüren konnte, wenn man direkt am Herzen des Herrn lebte – das auch darob viel gleißender brannte als jedes Lagerfeuer in tiefster Nacht.
Es musste wahrlich ein rauschendes Fest sein, wenn sie die Stadt mit Glockengeläut zu den Feierlichkeiten riefen.

Ruhigen Schrittes bahnte er sich seinen Weg am Friedhof vorbei durch das zweite Tor der Stadt, die seltene Stille am sonst so geschäftigen Tor für einen Moment als gutes Zeichen aufnehmend, ehe er nicht länger ignorieren konnte, dass bereits beim Durchschreiten des ersten Tores etwas zur Vorsicht gemahnt. Ein diffuses, schwer greifbares Gefühl, dass seinen Nacken stärker hinaufkroch, umso weiter er in die Stadt vordrang, bis er es nicht länger ignorieren und schon gar nicht abschütteln konnte. Ein seltsamer Geruch stieg ihm in die Nase – der Geruch von Rauch – und nicht dem, der ein wohliges Kaminfeuer verheißen will, sondern schwerer, schwarzer Rauch. Der Griff um seine Klinge wurde fester, der Blick aufmerksamer. Und als die Glocken schliesslich verstummten, mischte sich ein Raunen in den Hintergrund der Stadt, darunter auch ferne Schreie und Rufe, bis der Novize schließlich die Rauchwolken aufsteigen sah, die aus Richtung des Marktplatzes, aus Richtung der königlichen Burg und - viel wichtiger – aus Richtung des Tempels kamen.

Alle Entspannung war aus dem Gesicht des Streiters gewichen, als er seine Klinge zog und geraden Schrittes auf das Zentrum der Stadt zuzuhalten begann. Und je näher er dem Zentrum kam, umso zahlreicher wurden die verzweifelten Löwensteiner, die um ihr Leben rannten, ohne dass Yngvar sehen konnte was außer einem offenkundigen Feuer am königlich-klerikalen Ende einen derartigen Tumult ausgelöst hatte. Die Hoffnung des Streiters war, dass es nicht der Umstand eines Ravinsthaler Einmarsches war, der sich sicherlich auch bereits bei den Stadttoren angekündigt hatte. Und während die Heerscharen an verzweifelten Menschen, einfachen Schustern, Bäckern und Gerbern an ihm vorbeizogen, schwamm er förmlich gegen ihren Strom an, dorthin wo die Menschen das Unheil flohen, dorthin wo das Licht nicht versiegen durfte.

Er passierte soeben die Altstadt als sein Blick auf eines der dort stehenden Häuser fiel: Eine Buchhandlung, die Erinnerungen weckte und gleichwohl Fragen aufwarf. Was würde sie wohl tun, die einstige Bewohnerin dieses Hauses? Und es war dieser eine Moment, in dem Yngvar Stein unaufmerksam genug war, dass ein Mensch von unnatürlich blasser Haut sich auf ihn stürzte. Die Wucht des Einschlags war selbst durch die schwere Platte schmerzhaft und er wankte sichtbar nach hinten, in ebendieser Bewegung die Klinge nach vorne – zwischen sich und den Angreifer bringend. Entgeistert und vollkommen irritiert brüllte er dem Bleichen entgegen:“ Seid ihr von allen guten Geistern verlassen, eure Hand gegen das Rot des Herrn zu erheben?!“ bis Yngvar erkannte – nein erkennen musste – dass dieses Wesen mehr Kreatur denn Mensch war, als sie sich erneut auf ihn stürzte, nur um in diesem unverhohlenen Angriff zwei direkte Schwertstreiche einzustecken, welche die Kreatur aber kaum langsamer werden ließen. Die Zeit reichte eben gerade, um den schweren Schild vom Rücken zu entgurten als die Kreatur sich im nächsten Angriff gegen sich warf, dabei gegen den Schild prallte und mit seinen klauenartigen Fingern knarzende, kratzende Geräusche darauf verursachte, während der Krieger sich mit aller Macht gegen die unnatürliche Stärke dieses Wesens stemmte.

Der Kraftakt zog sich – so fühlte es sich für den Sonnenstreiter an – förmlich unendlich in die Länge und tatsächlich begann der Zweifel im Streiter hinaufzukriechen, ob es weise gewesen war, sich gegen einen derartigen Feind alleine zu stellen. Mit der Rüstung würde er der Kreatur nicht davonsprinten können, ein Ausweg musste her – schnell.

Der Ausweg kam – wie sich herausstellen sollte in Form einer Gruppe von wehrhaften Flüchtenden, die dem Sonnenstreiter zur Hilfe eilten und dem Biest nach einem langen und kräftezehrenden Kampf den Garaus machten, bis die Gruppe schließlich selbst das weite suchte. Der Krieger indes, sah daraufhin die Straßen eines Löwensteins hinab, dass im Chaos versunken war. Und es gab inmitten dieser Wirren, des Todes und des Kampfes nur einen Ort, an dem die Ordnung als letzte Bastion Bestand haben würde: Den heiligen Tempel des Mithras – möge der Herr ihm helfen, wieder auf dessen Stufen zu treten.
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#15
Wie Fische schwimmen wir im Fluss der Zeit, orientierungslos, weich und verletzlich. Wir sind dem Verfall ausgesetzt, wie ein Schwarm kleiner Fische den großen Räubern der Meere zur Nahrung dient und erfüllen damit unsere Aufgabe im großen Kreislauf, der uns – ganz im Gegensatz zum eben erwähnten Fisch – in die Nachwelt des Einen erheben wird. Jeder Glockenschlag bringt uns dem Tag der Abrechnung näher, dem Tag an dem wir uns gegenüber Mithras verantworten müssen und aufgerechnet bekommen, ob wir unsere von Sünde erfüllten Leiber erfolgreich abstreifen und somit frei und Licht in sein Reich einkehren dürfen.

Und auch wenn wir entscheiden, in andere Gewässer zu segeln – oder zu schwimmen, um bei dem Gleichnis des Schuppenschwimmers zu bleiben – folgt uns der Richthammer stoisch, unabänderlich und geduldig. Sein Urteil ist frei von persönlichen Befindlichkeiten, von Freude oder Trauer oder auch von Begehren oder Ablehnung. Wenn er uns dereinst ereilen wird, ist die Summe unserer Taten die einzige Bewertungsgrundlage für das Nachleben.

Die zerrissenen, gefledderten Leiber all' derer, die dem Angriff der Unwesen aus der Nacht nicht entkommen waren, all' jener, die die Straßen wie entstellte Mahnmale einer furchtbaren Wahrheit zierten und von den Fragmenten verzweifelten Aufbruchs und der Flucht umrahmt wurden, verdeutlichten all' das nur umso stärker. Und als der Krieger im Rot der Sonnenlegion auf den Marktplatz trat, müde und erschöpft von dem Kampf, der ihn durch die Gassen Löwensteins getrieben hatte und die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Häuserdächern auf den Tempel trafen – der Zeit zu welcher die Unwesen das Licht flohen, brach ein Stück der sonst statuenhaft gemeißelten Grimasse, mit welcher er noch in der vergangenen Nacht des Herrn Werk getan hatte – gehüllt in das Rüstwerk des gerechten Zorns eines ehrbahren und entflammten Dieners Mithras'.

Kleine Rinnsaale bahnten sich den Weg von seinen Augen, über die kantigen Züge des Kriegers hinunter und zogen eine helle Furche in den Schmutz der Straße, der auf dem Gesicht des Mannes lag – ein Eindruck der am ehesten mit dem Bruch eines wertvollen Gefäßes vergleichbar gewesen wäre. Die Tränen, die Yngvar Stein die Wangen herabliefen, waren jedoch keinesfalls ursächlich dem Greuel zuzuordnen, welches die Stadt befallen hatte, noch beweinte er die Toten, die es in dieser Nacht gegeben hatte – nicht einmal, hätte er denn von dessen Tod gewusst, dem Truchsess hätten sie gegolten.

Die Tränen, die des Kriegers Gesicht mit Furchen schlugen waren Tränen der Freude, denn der heilige Tempel des Mithras hatte Stand gehalten. Die letzte Heimstatt der flammenden Glorie wider aller dunklen, abyssalen Mächte, hatte sich um keinen Stein von seinem angestammten Ort fortbewegt. Dieses schlossartige Konstrukt aus Stein und Glaube war nicht weniger als die weltgewordene Manifestation des heiligen Richthammers, der sein Urteil bereits jetzt gefällt hatte, obwohl die Toten noch lange nicht ausgezählt waren: Solange das Licht Mithras' leuchten würde, gab es keinen Platz für die bleichen Kreaturen in dieser Welt – und niemanden sonst, der es wagte, im Herzen des Herrn mit seinen Gläubigen Schindluder zu treiben.

Mit der ersten Brise sauberer Luft, welche die rauchschwangere Nacht abzulösen begann, kehrte zudem auch Klarheit in den Leib des Mannes zurück, dessen Glieder vor Anstrengung schmerzten und dessen Rüstwerk nach Pflege und Sauberkeit wie ein dürstender in der Wüste ächzte. Die Ereignisse der Nacht fielen wie der Vorhang eines fürchterlichen Alptraums, der einem das Gefühl gegeben hatte, man würde endlos fallen und wäre nicht imstande sich selbst zu wecken, nach dem Aufwachen aber auch mit jeder verstreichenden Minute weniger in der Lage, die Details des Traums zu rekapitulieren.

Als er dem Tempel näherkam, fuhr sich der Streiter mit der ledernen Handfläche seines Plattenhandschuhs durch das Gesicht und verzerrte die Furchen seiner Gottesergebenheit zu einer verwegenen Mischung aus Dreck und Nässe – keine Möglichkeit, Rückschlüsse darauf zu ziehen, dass unter dem schweren Panzer eine so weiche Liebe für den Herrn so inbrünstig brannte, dass dadurch die Züge des Kriegers für einen kurzen Moment entgleist waren. Die Erleichterung jedoch darüber, dass der Tempel dem Unwetter aus widerwärtigen Kreaturen standgehalten hatte, war dem Mann der Sonnenlegion noch lange anzusehen, nachdem er die Tore des Tempels durchschritten, die Stufen des Altars geküsst und Mithras für seine Existenz in dieser Zeit der Dunkelheit gedankt hatte.

Die Räume, so stellte Yngvar fest, hatten sich nicht maßgeblich verändert. Und während das geschäftige Treiben im Tempel offenbar keine Zeit dafür ließ, bekannte Gesichter zu verorten, begann er dem beinahe schon programmierten Reflex nachzugeben, der ihm schon als Anwärter der Legion eingebleut wurde: Er suchte die Waffenkammer der Legion auf und begann sein Rüstzeug langsam zu entgurten, bis der erschöpfte Kriegerleib nur noch durch seinen Unterschurz bedeckt wurde. Es erfolgte die notdürfte Waschung des Leibes, auf dass kein Makel den Diener des Herrn länger bedecke als es seine Aufgabenerfüllung verlangt und jeder Teil des Menschenleibes drobhin auf möglicherweise verschleppte Verletzungen untersucht war. Die alte Kleidung wurde ebenso der Waschung anheim gestellt und zum Trocknen dem Dachboden überantwortet, nur um im Anschluss den gesäuberten Leib mit dem frischen Stoff aus dem Vorrat des Tempels zu bedecken, auf dass er die Hallen des Einen nicht unzüchtig durchstreifen möge.

Im Anschluss gab der Streiter sich der Reinigung seines Rüstzeugs hin, der bronzenen Wehr, deren alter Glanz mit jedem Minutenschlag durch die routinierte Hinwendung wiederhergestellt wurde, bis das Abbild des Kämpfers im Lichte der metallenen Wehr wieder zum Formenspiel aufzog, wann immer der Kämpfer sich damit zu bewegen anschickte.

Lediglich die Klinge galt es nun, noch gereinigt zu werden, nachdem sie des Nächtens ihr Lied gesungen und des Herrn Beifall in Form von Blut und Dreck empfangen hatte. Yngvar, so konnte man sagen, hatte sein Schwert in der langen Zeit seiner Pilgerei beinahe so sehr lieben gelernt, wie ein anderer Mann nur für die eigene Frau empfinden konnte. Sie hatte mit ihm seinen neuen Pfad bei der Legion begangen und ihr altes Leben hinter sich gelassen, genau wie ihr Besitzer es geschworen und gewollt hatte. Sie waren einander im Sog des Glaubens gefolgt und hatten hingebungsvoll die Last der Pflicht ertragen, mit der sie am lichten Heerführer großartiges Werk verrichteten und sie hatte mit Yngvar die geheimsten Momente des Kämpfers geteilt, gleich einem stahlgeschmiedeten Buch, dessen Seiten nur ihrem Verfasser bestimmt sind.

In stillen Nächten ihrer nun in weite Ferne gerückten Reise hatten sie förmlich miteinander um das wärmende Feuer getanzt und sich im stummen Zwiegespräch der Liebe an den Herrn aneinandergekettet. Sie waren Zeuge ihrer eigenen Geschichten geworden, sowohl Beisitzer als auch Akteure einer in Fleisch und Stahl manifestierten Lobpreisung an die flammende Rettung, die da Mithras war. Kurzum: Sie waren die Einheit, die in Treu und Glauben als Wille und Werkzeug des Herrn fungieren sollte, weshalb Yngvar nur in seltenen Momenten den Namen der Klinge rufen sollte, die er vor vielen Monden im Feuer eines furchtbaren Übels Grymyr getauft hatte.

[Bild: fuer-den-garten-eignet-sich-nur-asche-aus-holz.jpg]
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#16
Die Halle des Mithras-Tempels hatte sich bereits gut gefüllt, auch wenn, wie üblich einige Bänke leer blieben. Die schlimmsten Plagen konnten über das Volk hereinbrechen, doch gab es stets diejenigen, die sich selbst im Angesicht drohenden Unheils weiterhin vom einzigen wahren Gott, vom Lichtbringer, dem Herrn Mithras abwanden. Erbärmlich. Der kurze Anflug von Missgunst spiegelte sich auch für einen Augenblick im Gesicht des Kriegers nieder, der die leeren Bänke mit inbrünstiger Abfälligkeit betrachtete, ehe er sich seines allzu offensichtlichen Mienenspiels bewusst wurde und sich um die stets neutrale, enervierend emotionslose Fassade bemühte, deren Aufrechterhaltung ihm mittlerweile nicht nur hilfreich, sondern sogar persönliches Anliegen war. Es passte einfach zu seiner Erscheinung wie er befand – davon abgesehen hatte Mithras seine Diener nicht wegen ihres lebhaften äußeren zu sich berufen, sondern weil er in ihm nützliche Werkzeuge sah. Und für nützlich hielt sich der Novize nach wie vor.

Er hatte sich, wie auch der neue Anwärter und später auch Micael, an der Wand zum Tempelinneren postiert. Die beiden Ehrwürden standen versetzt vor ihnen. Yngvar taxierte die Situation kritisch und spürte wie ein Gefühl, gleich einem kleinen Dorn, seinen Hals hinaufkroch und ihm Unbehagen bereitete. Die andere Flanke des Tempels war unbesetzt, während sich auf dieser Seite die Legionäre die Beine in den Bauch standen. “Ordnung durch Führung.” wiederholte der Krieger tonlos, als er sich zurücknahm und beschloss nicht seinem Impuls zu folgen, um die andere Seite der Halle zu besetzen. Wenn gegen die Formation etwas einzuwenden gewesen wäre, hätte einer der Ehrwürden die Novizen und den Anwärter zurechtgewiesen, so hoffte er. Also beließ er es dabei, auch wenn es bedeutete, gegen Drang anzukämpfen, seine Mitstreiter wie Schachfiguren neu zu ordnen, damit der König geschützt war – um jeden Preis.

Der König, das war an diesem Abend seine Gnaden Viktor Veltenbruch. Und auch wenn Yngvar pflichtbewusst vorwiegend die Menge im Auge behielt, saugte er die Worte dieses Priesters auf, wie ein Verdurstender das Wasser. Seine Gnaden vermochte es, mit wenigen Worten ein Feuer in ihm zu entfachen, dass so stark loderte, wie er es bislang kaum erlebt hatte. An diesem Abend, in dem Moment, da der Priester seine Klinge auf den Altar warf und dem Hochadel aufzeigte, wie schwer die Schuld auf ihnen lastete, da sie die Warnungen der Kirche ausgeschlagen hatten, hätte er von Yngvar verlangen können, auf einen Ein-Mann Kreuzzug auszuziehen, gleich wie die Aussichten auf ein vorzeitiges Ableben waren. Hätte ihm dieser Priester befohlen, jeden einzelnen Vampir im Schloss zu erschlagen, Yngvar wäre losgezogen. Ohne Rückfragen. Ohne Diskussion.

Die schneidenden Worte dieses Mannes waren ein Leuchtfeuer, in dessen Glanz jeder Kampf wie eine kleine, einfach zu überwindende Hürde im Angesicht des großen Ganzen wirkte. Doch der Kampf, das war zu befürchten, würde an diesem Abend ausbleiben und so blieb ihm nicht mehr als das Ende der Messe abzuwarten und im Anschluss seinen Dienst aufzunehmen, zusammen mit alten und neuen Gesichtern.

Yngvar war überrascht, wie lebendig die Legion bei seiner Rückkehr gewesen war. Die neue Novizin, Leokadia, war aufstrebend und hatte einen klaren Verstand, obwohl sie Hohenmarschen entstammte. So seine Ehrwürden ihm diese Freiheiten ließen, würde er versuchen, die Novizin zu einem todbringenden Werkzeug des Herrn zu formen. Die Grundlage dafür hatte sie, sie musste nur auf den richtigen Pfad geführt werden – ein Pfad auf dem auch Yngvar seit so langer Zeit wandelte. Es gab, den Eindruck hatte Yngvar seit jeher vertreten, bisweilen zu viel Verständnis für die Verfehlungen des Volkes innerhalb der Kirche. Er dachte unmittelbar an die Schneiderin Avinia, deren Leid man schon längst durch die Flammen hätte beenden müssen, wenn es nach ihm ging. Selten vermochte man zu berichten, dass der Sündige einen Weg der Veränderung beschritten hatte, wenn die Kirche hatte Gnade walten lassen.

Bedachte man den Sündigen jedoch mit Peitsche, Knüppel und Flamme, so gemahnten ihn die Spuren dieser peinlichen Behandlung stets und schmerzhaft an sein tun. Er selbst wünschte sich bisweilen, seine Eltern hätten mehr Gebrauch von diesen Mitteln gemacht, obgleich das Ergebnis im Dienste des Herrn zumindest annehmbar, wenngleich doch niemals ausreichend war, wie er selbstkritisch feststellte.

Yngvar vermochte nicht zu sagen, wie lange er damit verbracht hatte, so in stiller Kontemplation in der Tempelhalle Zeit zu verbringen, doch war die Messe längst vorbei und seine Gnaden sprach noch die letzten Worte mit einem vermutlich neuen Anwärter des Klerus. Ein Mann mit einem herausragenden Schnäuzer, den er auch während der von Vampirwesen verseuchten Nächte das ein- oder andere mal gesehen hatte. Es war ein seltsames Gegenstück zum Rest des Tages, welcher erstmals seit den letzten Angriffen wieder von Alltagshektik geprägt war.

Den neuen Anwärter der Legion durch die Hallen zu führen, gelang gerade eben noch, bevor die Messe begonnen hatte. Darüber hinaus hatte Ehrwürden Alveranth ein gefühltes Buch an Aufträgen für ihn und seine Mitnovizen, von denen er sich fragte, wieviel Zeit ihnen wohl nur für die Erfüllung auch nur eines Auftrages blieb – die Vampire, die elendig verdammten Vampire, würden nicht ewig still halten. Die Zeit drängte und Yngvar blickte, wie so oft in den vergangenen Monden schon längst nicht mehr auf den aktuellen, sondern den nächsten und übernächsten Tag.

“Mithras' Licht scheint mitunter so hell, dass es uns einen kleinen Ausblick auf das erlaubt, was der Weg noch für uns bereithält. Wir täten gut daran, uns all' das einzuprägen, was in der Ferne liegt. Denn den Steinbrocken, den wir heute aus dem Weg räumen, werden wir uns darob nie mehr ansehen.”

[Bild: sonnenaufgang-weg-nebel-sonnenstrahlen.jpg]
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#17
Die trügerische Ruhe eines Konfliktes, der viel zu lange schon unbeendet war, hatte begonnen, sich in den Alltag der Menschen Amhrans, insbesondere derer, die Löwenstein ihre Heimstatt nannten, einzuschleichen wie der Schatten, der sich geräuschlos zwischen das Licht des Tages schob und dort verharrte, mit den Bewegungen der Menschen und ihrer Umwelt verfloss, nur um dann zur Abenddämmerung in langgezogenen, verzerrten Formen die Nacht willkommen zu heißen.

Die Nacht, in diesem Fall die Kulmination der Konflikte mit den Vampirwesen, wurde indes von der heiligen Kirche des Mithras zugleich herbeigesehnt, wenngleich den meisten wohl klar sein würde, dass eine Überwindung dieser furchtbaren Ereignisse vor allem auch bedeuten musste, dass die Zeit danach sehr chaotisch werden konnte – eine Tatsache, die Yngvar strikt ablehnte. Der Nortgarder hatte die Eigenart, bisweilen auch unumstössliche Tatsachen abzulehnen, ihnen schlicht und ergreifend die Existenz abzusprechen, wenn sie seinem ordnungsliebenden Weltbild nicht entsprachen. Das führte beileibe nicht dazu, dass er deren Auswirkungen einfach ignorierte. Vielmehr tat er alles in seiner Macht stehende, um diesen chaotischen Urzustand, der sich der heiligen Ordnung des Herrn widersetzte, mit allen Mitteln zu beseitigen.

Umso erfrischender war es, dass seine Seligkeit Greiffenwaldt nebst Anwärter Winter die Legion zu einer Eskorte nach Zweitürmen zusammenrief. Die Novizen – das waren Pavel Kaltschlächter, Micael Varona, Leokadia Rauh und Yngvar Stein, drei altgediehnte Novizen, verbunden in Blut, Schweiß, Schmerz und Glauben, sowie eine neue, aufstrebende Streiterin, die sich mit großen Schritten ihren Platz in der Legion erkämpfte, hatten den Auftrag mit Freuden empfangen. So kam es, dass in der endlosen Weite Servanos, welches trotz seiner dichten Wälder durch die weiße Schneedecke schlicht und ergreifend noch weitläufiger wirkte, sechs rote Punkte sich ihren Weg über die leidlich sichtbaren Wege nach Zweitürmen bahnten. Gelegentliche Winterwinde zogen an den Roben des Klerus, während die Streiter, die sich in Vierpunktformation um die beiden Robenträger bewegten, mit jedem Schritt ihren warmen Atem in die Winterkälte des Herabziehenden Tages pressten. Beinahe hätte man den Eindruck gewinnen können, dass die vier stahlbewehrten Krieger nichts anderes waren, als von den beiden Robenträgern konstruierte Maschinen, willig ihrer Befehlsgewalt unterworfen und erbarmungslos ihren Weg fortsetzend.

Kein Wort wurde mehr als nötig gewechselt und das Hintergrundrauschen des Lehens, knarzende Äste und gelegentliches Flattern von im Winter verbliebenen Vögeln auf Nahrungssuche waren die stillen Begleiter des Trosses.

Die vier Novizen – sie harmonierten und Yngvar musste unwillkürlich an vergangene Zeiten denken. Zeiten alter Hochwürden, in denen er ein ähnliches Hochgefühl empfunden hatte, alleine schon wenn er mit seinen Waffenbrüdern (und Schwester) loszog, obschon sie alle vier so verschieden waren, sogar verschiedene Wege beschritten hatten. Es zeigte einmal mehr, dass Mithras zusammenfügt, was ihm seine Hand bereitwillig entgegenreckt und gutes Werk vollbringt.

Da war Pavel Kaltschlächter, der Mann aus Servano, der sein ganzes Leben schon im Schoße des Herrn verbracht hatte. Aufstrebend und pflichtbewusst konnte man seit jeher sicher sein, dass er mit den Lehren des einzig wahren Gottes vertraut war und nicht alleine auf seine Körperkraft setzte. Manches mal hatte sich Yngvar gefragt, warum Pavel nicht den Weg eines Priesters eingeschlagen hatte. Zweifelsohne hätte er auch das gekonnt. Und wie sich zeigte, war die Zeit ihm gnädig gewesen, denn er war zu einem ihm ebenbürtigen Kämpfer herangewachsen und konnte sich beim Kommando im Feld bewiesen. Pavel war eine stabile Größe der Legion, geordnet und sicher, wenngleich so gottergeben, dass man neidisch werden konnte. Mithras führt, Mithras ordnet.

Auf der anderen Seite war da Micael Varona. Jener, dessen Zeit im Noviziat die längste von allen war. Er war der Zurückhaltende im Tross, der vorsichtige, mildtätige und vor allem verständnisvolle Krieger. Es wäre gelogen zu sagen, dass nach Ansicht von Yngvar Stein nichts davon erstrebenswert war, wenngleich er seinen Bruder für die Art wie er war respektierte und ihn trotz anfänglicher Skepsis so sehr schätzte wie jeden anderen auch. Dennoch – Yngvar plagte der Umstand, dass Micael schon längst zu wahrer Größe hätte finden können, sich aber offenbar in der Rolle gefiel, die er in der Legion einnahm. Zweifelsohne musste es die geben, die geführt werden, doch der Nortgarder hätte es gerne gesehen, wenn Micael ein ähnlicher Aufstieg wie zu Eylis ihrer Zeit beschieden gewesen war. Trotz all' der Zurückhaltung und Mildtätigkeit – Yngvar liebte seinen Bruder. Denn auch Mithras vergibt, wo viele seiner Diener keine Milde walten lassen würden.

Die neue im Bund der vier, Leokadia Rauh, war die stille und strebsame Teilhaberin dieser Gruppe. Sie redete selten viel – doch wenn, dann sprach Vernunft und Glaube aus ihr, mit einer inneren Stärke, die man dieser Person aus den Sümpfen Hohenmarschens nicht unbedingt zugetraut hatte. Und sie verfügte über einige der beeindruckensten Fähigkeiten, die man im Dienste unter Mithras nur ausbilden konnte: Sie gab nicht auf, war unnachgiebig und zielstrebig. Drei Dinge, die sie zu einem stabilen Pfeiler dieser Vereinigung machten. Selbst nach mehreren Waffengängen, denen sich die Legion hingab, während seine Seligkeit in seiner Besprechung verweilte, stand sie immer und immer wieder auf, unablässig und unnachgiebig. Denn Mithras lässt uns niemals wanken und niemals zweifeln, denn er ist das Licht.

Und zum Schluss war da noch Yngvar Stein. Nortgarder, zur Kirche in Sünde gekommen und nach langer Pilgerschaft wieder fest in die Legion integriert. Er war ein in Stahl gehülltes Schlachtschiff, dass die Prüfungen des Herrn bislang auch in dunkelsten Gewässern mit dem Kompass seiner Herrlichkeit empfangen und bestanden hatte. Selbst nach langer Zeit erinnerten sich viele altgediente Löwensteiner an ihn – auch außerhalb der Legion. Seine Fertigkeiten hatten sich mit den heraufziehenden Monden stets erweitert, auch abseits des Schlachtfeldes, wo er insbesondere von ihrer einstigen Hochwürden Eylis erst lernte, wie wichtig die Diplomatie in gewissen Zeiten sein konnte – und wo Zurückhaltung sich zu einem Vorteil auswachsen konnte, wenn man dafür später und mit vollkommener Unbarmherzigkeit nach einem langen Weg des Ausholens zuschlug.

Das Viergestirn des Noviziats – sie waren an diesem Abend stärker zusammengewachsen als man es bei Beginn der Expedition hätte vermuten können. Und es war ein guter Tag, der von wenig anderem bestimmt war, wenngleich das positive Zusammentreffen mit der Vogtin den Erfolg dieses Tages unter Mithras' Sonne noch unterstrich.

Sein Ende schließlich, galt dann denen, die er ob der Wirren des Kampfes mit den Vampirwesen nur selten sah – Ehrwürden Schwarzstahl, den begnadeten Streiter in Mithras' Licht, Ehrwürden Alveranth, der lange mit seinen Verletzungen zu kämpfen hatte, Gnaden Veltenbruch, dessen Worte so scharf und todbringend sein konnten wie eine Klinge aus Stahl, Seligkeit Winkel, die bei ihrem ersten Zusammentreffen während der Kämpfe alleine aus Gründen des Benimms nicht von ihm umarmt wurde, obwohl seine Freude über das Wiedersehen dies gerechtfertigt hätte. Und schlussendlich war da noch die Novizin Askolt, eine Frau mit klarem Verstand, den sie zweifelsohne als Waffe einsetzen konnte, wenngleich ihre Begegnungen immer schon zu flüchtig gewesen waren, um tiefer in ihr Wesen sehen zu können.

Mit diesen Gedanken endete ein weiteres, der mittlerweile vielen Notizbücher des Novizen, in denen er stets und ohne einen Tag auszulassen, die Lehren des Tages aufgeschrieben hatte. Und als er über das abgegriffene Leder des Büchleins strich, links und rechts die neben ihm schlafenden Novizen betrachtete und schlussendlich zur Decke sah, umfing den Streiter das Gefühl, die unumstössliche Sicherheit, dass er genau dort war, wo Mithras ihn haben wollte – im Kreise seiner, mittlerweile sehr großen, Familie.

Mithras obsiegt.

[Bild: stapel-von-alten-notizbchern-des-student...288592.jpg]
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#18
Resignation und Fassungslosigkeit hatte die Novizen erfasst, die in dieser schicksalshaften Nacht wieder in den Tempel einkehrten. Stille war das Instrument auf dem sie spielten und sie alle beherrschten es in dieser Nacht meisterlich. Erschöpft, abgekämpft und beinahe schon gebrochen hatte Yngvar seine Brüder und Schwestern in ihre Betten sinken sehen und er musste unwillkürlich an das Bild von versickerndem Wasser denken, dass man versehentlich verschüttet hatte. Dieser Abend hatte einen empfindlichen Makel auf ihrer Existenz hinterlassen und nur mit viel Geduld würde sich dieser dunkle Punkt der Resignation wieder heilen lassen – wenn es denn die Zeit zugelassen hätte.

Und während die Erschöpfung sich ihre Scheibe vom Laib der Zeit abschnitt und von den anderen Novizen und Anwärtern nicht mehr als das übliche Räuspern, Rascheln und Knarzen hörbar war, dass sich eben einstellte, wenn viele Gleichgestellte an einem Ort schliefen – oder zumindest so taten, blickte Yngvar Stein hinauf zur Decke des Schlafsaals. Es war ein leerer, ein verstörter Blick – und vor allem nicht die eiserne Fassade, die er so perfekt zu imitieren gelernt hatte. Nein, dieser Blick war ehrlich. Und er jagte ihm selbst am meisten Angst ein. Eine Angst, die er noch nie so bewusst gefühlt und die ihn in seinen Grundfesten erschüttert und dazu veranlasst hatte, die vielen Risse, die sich abzeichneten, panisch festzuhalten. Er durfte, würde – konnte – nicht brechen. Der Novize schloss die Augen, hoffend, dass sein Schädel, der sich immer wieder um die Ereignisse dieser Nacht drehte, irgendwann zur Ruhe kommen würde. Doch stattdessen verbarg sich hinter seinen Augenlidern nur ein endlos tiefes, schwarzes Loch in das er hineinfiel. Der freie Fall nahm ihm jedes Gefühl der geborgenen, festen Bettkonstruktion, in der er tatsächlich lag. Sie entwand sich seinem erschöpften Gehirn genauso leicht wie die gesamte Restrealität, die dem Streiter noch geblieben war.

Der Raum, seine Mitstreiter, das Bett und schließlich auch das Licht zerflossen in die Unendlichkeit, in die der Novize fiel und in der er nicht mehr als hilflos taumeln konnte. In diesem tiefen, lichtlosen Dunkel intensivierte sich dieses Gefühl blanker Furcht noch weiter und Yngvar konnte spüren, wie er Stück für Stück den Bezug zur realen Welt verlor und sich mehr und mehr die Frage in den Vordergrund drängte, wie es zu dieser Situation hatte kommen können.

Warum, fragte er sich, war kein Mitglied der Kirche mit ihrer Seligkeit gegangen – vielleicht hätte das Leben eines Legionärs die Leben aller anderen aufgewogen, wenn er ihnen den Spalt zur Flucht geöffnet hätte. Nur ein Spalt, eine minimale Bresche… die Gedanken schwommen vor seinem geistigen Auge davon. Er streckte seine Hand aus, versuchte den rettenden Gedanken, der die Geschehnisse hätte neu ordnen können, zu greifen – doch vergeblich. Das Gedankenkarussel drehte sich weiter, bis es sich in einem Regen von Münzen, laut und klimpernd, auflöste. Er sah sich neben tausenden Gulden fallen, zog an ihnen vorbei, immer schneller, immer tiefer, bis er eine der Münzen zu fassen bekam und sie von eigentümlicher Neugier beseelt, in der Hand zu drehen begann. Die Kriegerhand kannte das Gesicht auf der Münze, fuhr die Konturen dieser Person nach, die strenge und weiche Züge so perfekt wie kaum eine andere Person in sich vereinte. Die Silhouette von Lisbeth Winkel war offenbar wie dafür gemacht, eines Tages auf eine Münze geprägt zu werden – in ferner Zukunft, wenn sie gerettet sein würde. Wenn … Das Profil der Erzpriesterin begann sich auf der Münze zu drehen und ihn direkt anzublicken: “Aber das hast du nicht.” Sprach die Prägung zu ihm. “Du standest vor dem Eingang, du hättest mich retten können. Uns alle. Aber ihr habt uns verlassen, seid an die Oberfläche zurückgekehrt, in die warmen Betten.” Vor Schreck ließ der Krieger die Münze aus seiner Hand gleiten und der konsternierte Blick folgte der noch immer zeternden Münze, während ihr Echo in der sich wieder einstellenden Schwärze nachzuhallen begann: ”Wir werden hier unten alle sterben! Und du bist schuld daran!” Feuerte die Münzen-Lisbeth noch nach, bevor auch der letzte Taler von der Dunkelheit aufgesogen wurde und Yngvar erneut im freien Fall alleine und einsam vor sich hertrieb.

Die Einsamkeit jedoch, mochte vielleicht gerade einmal einen Herzschlag angedauert haben, als er aus der Schwärze eine Person mit rotem Haar heraustreten sah. Das graue Kleid mit den roten Applikationen und der ebenso roten Schärpe ließ die Frau adrett und edel wirken, wenngleich ihr Blick verängstigt und furchtsam war. Langsam trat die Frau auf ihn zu. Die Hände vor ihrer Körpermitte ineinandergelegt konnte er sehen, dass eines ihrer Augen offenbar leicht verfärbt war und den Heilungsprozess beinahe noch nicht ganz abgeschlossen hatte. “Eirene ..” kam es etwas erstickt. Die Kehle des Novizen war trocken und er hatte das Erlebnis mit Münzen-Lisbeth sichtbar noch nicht verarbeitet.

“Du hast versprochen, dass mir nichts passieren würde, Yngvar… und nun sieh mich an!” brach es aus der Frau hervor, die plötzlich ihre Haltung verlor und auf den nicht vorhandenen Boden zusammensackte. “Sie foltern uns .. ich sterbe .. hilf mir.. “ presste das Trugbild der Vogtin schluchzend hervor. Erneut versuchte der Novize nach dem Phänomen in seinem Kopf zu greifen, ihr einen Teil der Realität zu geben, indem er sie berührte, vielleicht sogar mit sich ziehen konnte. Als die Hand des Kriegers sich zur Vogtin ausstreckte, schien sie aufzublicken, Hoffnung zu schöpfen. Die zarte Hand hob sich, war nahezu spürbar, als der Krieger unvermittelt schwer aufschlug, sein gesamter Atem mit einem Satz aus seinem Körper gepresst wurde und die Dunkelheit wie ein Hammer auf seinen Schädel einkrachte.

Als steckten tausende Splitter in seinem Kopf, hob der Krieger sichtlich benommen das Haupt, stützte sich auf seine Arme, die spürbar zittrig nach Halt suchten und begann sich mit halb offenen Augen umzublicken. Der Streiter sog schmerzvoll und leidend die Luft ein, als er eine ganze Reihe an Personen um ihn versammelt sah – allesamt andere Formen des Drachentöters, Yngvar Stein. Es mochten zwei Dutzend Manifestationen seiner selbst sein, die um ihn herumstanden und ihn zunächst still betrachteten. Eine ganze Weile taten sie das, während der Krieger sich mühte, auf die Beine zu kommen, obgleich es partout nicht gelingen wollte. “Unwürdig!” schallte es grollend aus der zweiten Reihe seiner selbst und ein Berg von Mann, der alle anderen Trugbilder überragte, drängte sich hervor. “Steh auf, du Wurm! Mithras befiehlt es!” Ein Keuchen war jedoch alles, was der Krieger hervorbrachte, bevor er wieder zusammenbrach und ein unschätzbar schweres Gewicht sich in sein Kreuz drückte, als er gerade dachte, er hätte sich aufrichten können. “Vigdis bei den Hierokraten, du ein Versager vor Mithras' Antlitz – eine Schande für die Familie und das Reich. Du solltest an ihrer Statt sterben, Yngvar.” drang eine weitere Stimme an sein Ohr, weit weniger unbeherrscht, analytischer – und vor allem jünger. Das jüngere Ich des Streiters hatte gesprochen – das Ich, das dereinst Hammerhall verlassen und sich auf den Weg nach Löwenstein gemacht hatte.

Yngvar schloss die Augen. Es war genug, er musste ausbrechen – irgendwie. Zumindest hatte der Krieger beschlossen, dass es Zeit war sich seiner Stärken zu besinnen – und die Kontrolle zu übernehmen war stets eine der seinen gewesen. Noch bevor der Streiter die Augen öffnete, hörte er sein eigenes, kindliches ich um ihn herumtanzen, singend – das einzige Objekt, dass noch in der Dunkelheit um ihn herum existierte.

“Yngvar muss sterben, Yngvar muss sterben .. !” ratterte die kindliche Stimme immer wieder halb singend, halb neckend hervor, ehe der Novize sich schließlich unter fürchterlicher Anstrenung aufzurichten begann und einen Schrei in die Dunkelheit entließ, der sich anfühlte, als hätte er soeben eine eigentümliche Form von Ketten gesprengt.

“GENUG!” herrschte er in die Dunkelheit und wenngleich die Stimme seinen Kontrollanspruch untermauerte, sprach sein Gesicht Verzweiflung.

Doch für den Moment hatte es gewirkt – Stille. Und so wanderte der Streiter, unfähig seiner eigenen Traumwelt zu entkommen, gefühlte Ewigkeiten durch die Lichtlosigkeit, bis er ein Flüstern vernahm, gerade genug, um an sein Ohr zu dringen. “Du musst sie retten.” kam die Stimme und hallte nach: “Alle retten.” Sein Kopf ruckte in Richtung der Stimme, nur um festzustellen dass dort genauso wenig existierte, wie im Rest seiner Traumebene. “Aber sie sind entbehrlich, alle entbehrlich!” raunte eine andere Stimme aus der entgegensetzten Richtung, die vom Streiter sichtbar skeptischer bewertet wurde, als sein Kopf in dessen Richtung ruckte, ehe eine dritte Stimme zu ihm sprach. Ein kaltes, eisernes Gefühl legte sich auf seine Stirn und er reckte ihr seinen Kopf entgegen. “Du musst sie alle töten. So will es der Herr, so ist es recht.” Eine nächste Stimme, nahezu identisch mit der vorigen mischte sich unter die eiserne Sprecherin:”Sie sind Schlachtvieh für den Herrn, bring' ihm seine Lämmer.”

Die Stimmen überschlugen sich zusehends und immer mehr Einflüsterungen stellten sich ein, bis aus dem gesamten Chor nur noch zwei Worte klar vernehmbar waren, die sich in den Schädel des Kriegers fest einbrannten:

“Alle. Umbringen.”

Das Stimmengewirr hub immer weiter an, breitete sich in jeden Winkel seines Schädels aus, wurde zu einem quälenden, fordernden Brummen, dass immer stärker und damit unerträglich wurde. Yngvar spüre, wie sein Kopf sich Wand, unfähig diesem Traumgefängnis zu entfliehen. Der Streiter begann langsam Atemnot zu leiden – die Stimmen schnürten alles ab – das Denken, die Luft, die Kraft. Es wurde unerträglich – er würde am Ende doch sterben. Yngvar Stein – einer von Mithras' treusten, starb im Schlaf, ermordet von seinen eigenen Träumen, würde es heißen, bis der Krieger eine warme Berührung spürte. gleich einer feingliedrigen, sanften Hand, die sich auf den Leib des Streiters legte.

Die Frage danach, ob sie real war, stellte sich dem Streiter darob gar nicht erst, denn das Stimmengewirr ließ ob dieser Bewegung nach, die nun begann ihn spürbar zu schütteln. Die Atemnot ließ nach, als das Stimmengewirr von einer einzigen Stimme verdrängt wurde, die zunächst noch sanft, dann bestimmend den Namen des Kriegers sprach. “Yngvar .. wach auf!” kommandierte die Stimme, bis das Gefühl der Körperlichkeit endlich alle Schatten der lichtlosen Traumebene hinter sich gelassen und sich wieder an seinen Leib geklammert hatte. Erschöpft – erschöpfter sogar als zuvor, öffnete der Krieger die Augen, nur um in das Gesicht von Novizin Askolt zu blicken, die über ihm kniete und sichtbar besorgt aussah. “Ihr habt geträumt, Novize Stein.” stellte sie in ihrer üblichen, distanzierten aber nicht unfreundlichen Art fest.

Es brauchte einige Augenblicke, bis Yngvar sich seines Umfelds wieder gewahr wurde. Er lag neben dem Bett, das Laken halb über ihm. Neben der Novizin stand eine Schale mit Essen – eine dieser Schalen, die sie in den letzten Tagen stets jedem ans Bett gestellt hatte, damit sie gestärkt wieder an ihr Tagewerk gehen konnten. Das Gefühl kalten Stahls in seiner Armbeuge stellte sich rasch als seine eigene Klinge heraus, die er offenbar im Schlaf seinem Gurt entwandt hatte.

Dankbar dafür, dass ihn jemand seinen Traumfesseln entrissen hatte, richtete der Krieger sich auf und erhob sich, wenn auch sichtbar taumelnd und benommen. Die Nacht zumindest, das hatte Yngvar beschlossen, war vorbei und er folgte der Novizin in den Speisebereich, wo sie sich bereitwillig die Sorgen und Klagen des sonst so verschlossenen Streiters anhörte. Und wenngleich es seine Seele leichter zu machen schien, das tiefe Dunkel seiner Träume zu vergessen, saß Yngvar noch lange, nachdem die Novizin selbst zu Bett gegangen war, auf einem der Stühle im Speiseraum, einen Becher Kräutertee zwischen den Händen, den nächsten Tag erwartend. Und mit ihm, die Hoffnung und Stärke, die vielen Schicksale seiner Traumwelt um jeden Preis vermeiden zu können.

[Bild: nightmare.jpg]
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#19
Obschon so viel Zeit das Tief der Ewigkeit hinabgeflossen ist, konnte ich nicht umhin, mich dieser Tage an die Geschichten aus meiner Heimat zu erinnern. Jede – nunja, die meisten zumindest – hatten eine Moral, eine tiefere Wahrheit, die es zu entdecken und zu ergründen galt und jedesmal wenn mein Vater sich mit mir an den Kamin in unserem Haus in Hammerhall setzte, lauschte ich gebannt seinen Erzählungen und Geschichten, die er seinerseits von seinen Eltern übereignet bekommen hatte. Und jedes mal fühlte ich mich wie ein Schatzsucher im Dickicht der Buchstaben, ein Forscher im Unbekannten hinter dem Spiegel einer wundervollen Erzählung. Die Bücher und ich – wir waren trotz meiner Vorliebe zum Waffengang stets unzertrennlich. Sie waren die feste Größe im Tagesablauf bevor ich zu Bett ging und es verging kein Tag, an dem ich mich nicht in die Tiefsee aus Lettern stürzte, um die wundersamen Figuren und Formen darunter entdecken zu können – wenngleich der Platz am Kamin mit wachsendem Alter am Ende nur noch mir zu eigen war, da Vater sein Dienst für die Stadt mehr und mehr in Beschlag nahm und er mich zugegebenermaßen auch für zu erwachsen hielt, um seinem Talent als Erzähler zu lauschen. Ich frage mich bis heute, ob man jemals zu alt dafür werden kann, seinem Vater und seinen Geschichten am Kamin zu lauschen.

Dass ich die Aufzeichnungen zu einem neuen Anwärter der Legion, Gard Ganter, in einem ehemaligen Ganterhaus fertigstellte, entbehrte nicht einer gewissen Ironie, wenngleich es mich zudem auch in geringem Maße zufrieden stellte. Der neue Anwärter hatte gegenüber ihrer Seligkeit eine bornierte Art an den Tag gelegt, die mich hoffen ließen, dass es Gelegenheit geben würde, den Familienvater im Sinne einer mithrasgefälligen Erziehung das ein oder andere mal prügeln zu können – mich zumindest, das kann ich heute sagen, hat die harte Hand meiner Ausbilder sehr weit gebracht.

In jedem Fall aber klang der Abend früher aus, als ich es erwartet hatte und so saß ich alleine im Kerzenschein am Tisch meines neuen Heims, dass ich mit meinem Bruder Pavel teilte und prüfte mein gedankliches Pflichtenheft ab – mit der Feststellung, dass es für heute leer war. Ein seltener Umstand, insbesondere wenn man bedachte, dass die vergangenen Tage reichlich Arbeit mit sich gebracht hatten und noch mit sich bringen würden. Die Geschichten meines Vaters rückten wieder in das Zentrum meiner stillen Zeitreise, die mich vom Tisch im Wohnraum des kleinen Hauses wieder in die wohlige Wärme meiner Heimat in Nortgard katapultierte – direkt vor den Kamin.

Ich erinnerte mich der Geschichte des Bergkönigs, eben jener Fabel die einem jeden Kind in Nortgard zeigte, wie vergänglich die Eintracht doch sein kann, wenn einmal der Kopf der Herrschaft abgetrennt worden war. Es war eine der ersten Geschichten, die mir mein Vater anvertraute, vorgelesen aus einem dicken Ledereinband, der so abgegriffen war, dass er vermutlich über Generationen in meiner Familie weitergereicht wurde.

„In einer fernen Zeit, so sagt man, herrschte ein einsamer König über ein Reich, dass sich so weit erstreckte, wie man von der Spitze des Berges in dessen Zentrum nur sehen konnte...“ begann die warme Stimme des damals schon lebensalten Mannes zu erzählen. Seine Worte waren der Schlüssel in eine ferne, eine andere Welt, verlockend und fremd, wenngleich durchsetzt mit den frischen Trieben, aus denen das hier und jetzt irgendwann erwachsen sollte. „Wenngleich einsam, ohne Weib und Kinder, so war er doch ein guter König. Er regierte sein Reich nicht nur mit strenger, sondern auch gerechter Hand und er schaffte es, dass es niemandem in seinem Reich an etwas mangelte. Dies, mein Junge, war etwas dass seit dieser Zeit niemand geschafft hat: Denn es gab in dem Reich bis zu seinem Niedergang keinen Neid, keine Missgunst und keinen Hass, denn jeder hatte genug zum Leben.“ Es war die Stelle, an der ich mir so ein Reich ausmalte. Es klang ein wenig wie eine Auslegung dessen, was einen im Elysium erwartete, ein Zustand der absoluten Eintracht, ohne Furcht um die Existenz für Familie und Land. Es war eine schöne Fantasie, die mich stets wie eine warme Decke an einem Winterabend umschloss und dafür sorgte, dass schlechten Gedanken oder Traurigkeit der Zugang fortan verwehrt wurde, wenngleich ich wusste, dass ein solches Reich wohl nach heutigen Maßstäben stets eine Fantasie bleiben würde. Dennoch: Insbesondere als Kind hegt und pflegt man solche Fantasien und hält sich daran fest, versucht vielleicht, durch die jedem Spross eigene Naivität seinen eigenen Teil dazu beizutragen, dass so ein Idealzustand vielleicht eines Tages Wirklichkeit werden könnte.

Darüber hinaus muss ich sagen, dass die Geschichte von diesem Punkt an ohnehin eine Wendung nahm, die mich stets wünschen ließ, wir hätten an dieser Stelle die Erzählung abgebrochen und uns dem Gedanken hingegeben, dass es zumindest in der Vergangenheit Menschen gegeben haben muss, die weder Leid noch Not kannten. Doch wie mein Vater stets zu sagen pflegte: „Es ist den Männern aus Nortgard nicht gegeben, Luftschlössern aus Frieden und Eintracht nachzuschwelgen, Yngvar, insbesondere wenn wir wissen wie es ausgegangen ist. Nein, wir, die Stolzesten und Stärksten unter Amhrans Himmeln, wir stellen uns dem Leid, wir erdulden es und wir verteidigen jedes Stück Frieden, dass unseren Familien gegeben ist. Niemals aber geben wir im Angesicht einer großen Fürchterlichkeit auf.“ Ich blickte zu diesem Mann auf, der zwar nie das Leben eines Kriegers geführt hatte, sich dennoch stets so nobel gebahrte wie ich es mir dereinst von den edlen Rittern unseres Lehens ausmalte. Er vereinte Stolz, Demut, Weisheit, Kraft und Mut in einer so perfekten Weise wie es nur Kinder empfinden können, die ihren Vater als den Held ihrer kleinen Welt erwählt haben. Und auch wenn ich stets darum bat, so gab es keinen einzigen Tag, an dem er die Geschichte nicht zu ende erzählte.

„Doch kein König regiert ewig, mein Sohn.“ führte mein Vater dereinst fort, während seine Finger Zeile für Zeile über die Seiten des Buches glitten – eine Geste die er sich angewöhnt hatte, seit man ihm das Lesen dereinst beibrachte und die keinem Nutzen mehr diente – außer dass seinem Spross das streichende Geräusch gefiel, wenn die erwachsenen Finger über das Papier wanderten. „Der gute König wusste, dass sein Ende gekommen war. Und obschon er weder Weib noch Kinder für eine Nachkommenschaft besaß, hatte er ein gutes Volk geschaffen. Sie waren seine Kinder und sein Meisterstück. So sollten sie also auch sein Erbe antreten und sich fortan selbst verwalten. Der König war sich sicher, dass sie im Laufe der Jahre seiner Herrschaft gelernt hatten, was Recht und Unrecht war und dass sie wohl unterscheiden mögen.

Also verstarb der König eines Tages – alleine, nur mit seinem Hofstaat um sich herum – wie es sein Wunsch war, auf dem höchsten Turm des Schlosses, um ein letztes mal im Schein der herabdämmernden Sonne sein Reich betrachten zu können. Das Volk indes, trauerte und weinte bitterlich. Viele Tage dauerte die Trauer, bis die Last anstehender Entscheidungen die treuen Diener des Königs jedoch einholte. Und fürwahr hatten sie Richtig und Falsch vom König zu unterscheiden gelernt, nicht aber die Weisheit, wie viele entscheiden konnten, was zuvor nur einem oblag.

Der Zustand, dass es nun allen obliegen sollte, über Für- und Wider des Volkes zu befinden war seinen einstigen Zöglingen so fürchterlich fremd, dass sie schnell einhellig befanden, dass der König, alt und greise geworden, in seinem letzten Ansinnen falsch befunden hatte und es einen neuen Regenten geben musste. Wer aber, sollte das sein?“

Mein Vater stellte diese Frage stets so, als hätte ich noch ein Mitspracherecht, wenngleich ich stets mit den gleichen großen Augen, auf dem Spannungsbogen, den er damit aufzog, durch das Auf und Ab der Geschichte ritt, wohl wissend, welches Ende das Bergvolk ereilen würde.

„Es entbrannte also erstmals in der langen Geschichte des Volkes ein Streit darüber, wer nun des Königs Regentschaft beerben sollte. Mit jedem Tag der verstrich, so schien es, entfernten sich die treuen Frauen und Männer des Königs in Ereiferung und Uneinigkeit der Eintracht, die der König so mühevoll einst gesäht hatte. Am Ende des Reiches stand ein Schwertstreich, ein Brudermord unter Gleichgesinnten. Blut zog Blut nach sich, während einer nach dem anderen von des Königs Sprösslingen zur Burg hinaufzog um seinen vormaligen Herren zu beerben.

Am Ende machte sich das ganze Volk einhellig auf – jeder einzelne sah sich selbst als der kommende Thronfolger. Nicht nur Männer, sondern auch Frauen, Kinder und – der Sage nach – sollen sogar die Pferde ihren Meistern entsagt haben, um sich auf den Weg zum Schloss auf den Berg zu machen. Denn wer auch immer die Krone tragen würde, sollte regieren, wie auch der König einst regiert hatte.

Der Kampf indes, der darob auf den Pfaden des Berges entbrannte, war so fürchterlich, dass Blut wie Lava die Pfade entlanggeflossen sein soll.“ Es mochte wohl sein, dass der ein oder andere das Ende der Geschichte als sehr grausam empfand, doch stand mein Mund nie vor Schrecken ob der fürchterlich brutalen Kämpfe auf und meine Augen waren auch nie vor Schrecken ob der Massaker, die auf dem Königsberg stattfanden, geweitet. Nein, vielmehr empfand ich fürchterliches Mitleid mit den Menschen, die bereitwillig ihr gutes Leben für einen Platz opferten, den Mithras ihnen niemals zugestanden hatte.

„Am Ende soll lediglich ein Mann gestanden haben, besprenkelt mit dem Blut seiner Landsmänner und somit der letzte seine Volkes, verdammt dazu, bis an sein Lebensende alleine über ein Reich aus Toten zu herrschen.“ Dies waren stets die letzten Worte meines Vaters, bevor er das Buch zuklappte und meine Reise fürs erste beendet war.

Ich blies die Kerze des Esstisches aus. Das einzige, was an diesem Abend an meinen Ausflug in meine Kindheit erinnern sollte, war der fahle Rauchfaden der Kerze, welcher mit jedem verstreichenden Augenblick mit der Nacht verschmolz, die mehr und mehr von dem kleinen Raum Besitz ergriff.

[Bild: kerze_erloschen_motivation_c_123rf.jpg]
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#20
Manches mal fragte Yngvar Stein sich, warum es uns bisweilen gegeben war, dass wir in tiefster Nacht doch mehr Ruhe und Einkehr fanden, als es bei Tag, unter den wachenden Strahlen der Sonne und somit unter Mithras' steter Wacht. Außerhalb seines Zimmers existierte nur die Nacht und mit ihr die tiefe Dunkelheit, die täglich wie eine Sturmflut über die Welt hinwegstrich und am nächsten Morgen das Strandgut in Form von Trunkenbolden im Rinnstein, zerbrochenen Karaffen und Erbrochenem zurückließ. Die eine Kerze, die der Krieger in seiner Kammer entzündet hatte, beleuchtete den Raum nur spärlich. Das Bett lag im halbdunkel und zeichnete ledigich dessen Konturen in den schmalen Übergang von erkennbaren Umrissen und verschwommener Dunkelheit. Für den Novizen der Legion lag die einladende Wärme somit in weiter Ferne, in einer Welt, die man erst wieder bereisen durfte, wenn alles nötige getan war.

“Alles nötige” - das war in dieser Nacht die Aufarbeitung dessen, was er in Zweitürmen, bei Gnaden Teran gehört hatte. Er hatte zwar schon häufiger gesehen, dass es der Priesterschaft möglich war, Kerzen, Fackeln und sogar trockenes Holz nur durch ein Gebet an Mithras zu entfachen, jedoch hatte er nie die Unverfrorenheit besessen zu glauben, er würde einstmals selbst in die Lage versetzt werden, ein solches Wunder zu vollbringen. Es hatte ihn, von allem was ihre Gnaden vermittelt hatte, am wenigsten losgelassen. Das Feuer hatte stets eine zentrale Bedeutung für ihn gehabt – nicht nur weil es ein Symbol seines Glaubens war, sondern weil es schlicht und ergreifend für Vollkommenheit stand. Die Flammen versprachen Läuterung, spendeten Wärme in tiefster Kälte und waren stets das Licht, dass der Dunkelheit entgegenzutreten vermochte, egal wie stark sie war. Und nicht nur das: Im Feuer hatte er stets einen Spiegel seiner selbst gesehen, einen hungrigen Verheerer, der, entzündet und angestiftet durch seine Brüder und Schwestern nach Glauben und Ketzerei gleichermaßen leckte – einerseits um des Seelenheils aller willen, andererseits um diejenigen aus der Existenz zu schlagen, die das eben vorgenannte zu stören und zu beseitigen suchten.

Dabei kannten die Flammen keine Moral, keine Zuneigung, keine Missgunst, keinen Neid und keine Liebe. Sie waren eine neutrale Gewalt, die schlicht und ergreifend tat, wozu sie existierte.

Der Krieger indes, hatte sich in der Mitte des Raumes abgekniet und um sich herum einen Kreis aus Kerzen verschiedenster Sorten geformt – allesamt nicht enzündet und somit stumme und ausgebrannte Zeugen der Gedanken, die wie eine Fülle klarer Sturzbäche durch seinen Kopf flossen. Mit geschlossenen Augen kniete der Kriegerleib in der Mitte des Kreises aus deformierten, in wachs gekleideten Beistehern, ohne Bewegung und ohne ein Wort, während die schwere See, die seiner Gedankenwelt entsprach, in seinem Kopf aufzuwogen begann. Etwas fehlte. Er konnte noch nicht beginnen. Erneut öffneten sich die Augen, suchten mit wachem, klarem Blick den Raum ab. “Du hast etwas vergessen. Ich habe etwas vergessen.” hallte es immer wieder in seinem Kopf nach. Es folgten Weisungen, denen der Krieger sich selbst im Zwiegespräch seines Geistes unterstellte. “Streng' dich an!” “Erinnere dich!”

Der Blick blieb schlussendlich an der Klinge hängen, die entscheidet auf dem roten Umhang der Legion lag. Der blanke, gereinigte Stahl schimmerte verheißungsvoll und auf eine dinglich-betörende Art im wenigen Mondlicht, das sich mit der am Rande der Dunkelheit entzündeten Kerze auf dem Nachttisch mischte und in sanften Schattenfalten über das Mordwerkzeug strich. Die wenigen Schritte bis zum Ablageort der Klinge durchbrachen die Stille durch die nackten, auf den Holzbohlen auftretenden Füße, bis der Krieger die Klinge aufnahm und sie, als sei sie eine zerbrechliche Pflanze oder ein großes Heiligtum, vorsichtig in die Hand nahm. Seine Fingerspitzen glitten über die flache Seite des Breitschwertes und es kam dem Krieger für einen Augenblick so vor, als würden seine Finger nicht Stahl berühren, sondern den straffen Oberschenkel einer wunderschönen Frau, deren Wärme und Nähe den Männerleib nur nach mehr verlangen ließ.

Yngvar betrachtete seinen silhouettenhaften Schatten im Spiel der fernen Lichtquelle auf dem Metall. Die braunen Augen betrachteten die Waffe so, wie man eine Liebende betrachten würde, nach der man sich über Jahre hinweg verzehrt hat. “Hilfst du mir?” durchbrach die Stimme des Kriegers die Stille, die den Raum kurzfristig zurückerobert hatte. Es war jedoch nicht die kraftvolle, tiefe Männerstimme, die bei Tag den Willen des einzig wahren Gottes verkündete, sondern eine sanfte, eine seltene Stimmlage, derer sich der Kämpfer bediente. Es war die Offenbarung einer Schwäche, eine vollständige Entrüstung der mannhaften Wächterstatue, als die Yngvar Stein sonst stets auftrat. Wenngleich die Klinge ihm natürlich nicht antworten konnte, traten friedvolle, liebevolle Züge auf dem Gesicht des Mannes auf, der die Klinge langsam seinem Kopf zuneigte und seine Lippen zärtlich auf die flache Seite der Klinge drückte. Es war eine kurze, flüchtige Berührung von Stahl auf Haut, ehe der Kämpfer die Waffe wieder absenkte.

“Ich danke dir.”

Anschließend begab sich der Krieger mit der gleichen Schrittfolge, die ihn zum Ablageort des Schwertes geführt hatte, wieder in die Mitte des Raumes. Diesmal stellte der Kämpfer nur ein Knie auf, während das andere unter dem Körper angewinkelt wurde. Die Klinge führte Yngvar mit der Spitze zum Boden und legte beide Hände auf dem Knauf ab. Das Haupt gesenkt, begann der im Zentrum des Kerzenkreises knieende Kämpfer das Rauschen gedankenvoller Sturzbäche in seinem Kopf in das einstimmige, tiefe Raunen seiner Stimme zu übertragen, mit dem er sein folgendes Gebet anstimmen würde.

“Herr der Flammen, Herr des Feuers ...” begann der Novize seine Worte. “Du hast mich geformt, wo nur Sünde und Orientierungslosigkeit in mir waren. Du nahmst mich, voll deiner Liebe und formtest mich zu deinem willigen Werkzeug, zu deinem Arm auf dieser Welt. Und doch kann ich in dieser Nacht nicht mehr sein als ein Bittsteller, ein Flehling unter deiner glorreichen Herrschaft.” Der Krieger atmete erneut aus, spürte seinen eigenen Atem über den leichten Stoff rollen, der als einziges seinen Körper verhüllte.

“Die Einkehr, die du uns durch deine Diener zuteil werden lässt, stählt uns und stärkt uns – und so rufe ich Dich an, oh Herr, auf dass Du Licht in die Dunkelheit fahren lässt, die auf diese Kammer hereinzubrechen droht. Nimm mich hin, oh Befreier, und lass' mich dein Gefäß sein, auf dass die Nacht vertrieben wird, wo nur Licht sein sollte.”

Das Raunen des Kriegers ebbte darob ab und lediglich uralte Wörter von seit Jahrhunderten innerhalb der Kirche weitergegebenen Liturgien fanden den Weg in das sing-sanghafte Raunen des Kämpfers, ehe er seine Augen zu öffnen und das Haupt zu heben begann. In diesem Augenblick schien es dem Krieger als erlebe er diesen Augenblick gleich zwei mal, als stehe sein Verstand, der sich den Kerzenkreis hell und wohlig erleuchtet vorstellte, der Realität für einen entrückten Augenblick vor, ehe seine Augen wieder in die tatsächliche Welt erwachten und erkennen durften, dass Wunsch und Realität in diesem Moment eins geworden waren.

So verharrte der Krieger im erleuchteten Kerzenkreis, sitzend, die Klinge auf dem Schoß, mit geschlossenen Augen. Die Gebete, die er in der Folge raunte, waren jedoch keine Bitten mehr – sondern tief ergriffene Danksagungen an seinen Gott und Herrscher, Mithras.

Erst als die ersten Sonnenstrahlen wieder müde durch die Fenster der Kammer spähten und der Tag sich ankündigte, löschte der Krieger die Kerzen, setzte ein Schreiben auf, eine Pflicht, die er noch am Vorabend zugesagt hatte und begab sich dann erst ins Bett. Der flüchtige Gedanke an den Inhalt der Zeilen, ein Bericht über einen Räuber und Dieb, den er im Namen des Herrn auf offener Straße gerichtet hatte, kam ihm wie eine Fußnote seiner Gedankenwelt vor – eine Randnotiz, die im Gewirr des großen ganzen irgendwann verblassen und von den Flammen verschlungen werden würde, die in Yngvar Stein loderten – unverlöschbar und unerstickbar.

[Bild: kerze_flamme_haende_hoffnung_Fotolia.jpg]
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