Ein Drachen für ein Kinderlachen...
#1
Rainbow 
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Am Fenster segelte ein goldbraunes Blatt vorbei. Es war nicht mehr zu leugnen, Taranis hatte den Herbst eingeläutet. Ihr Blick folgte eine Weile dem edel anmutenden Tanz des Laubes, ehe es der Wind wieder anhob und es ihrem Blick entschwand. Sie senkt jenen wieder auf die vor sich ausgebreiteten Stoffreste und wischte sich mit der rechten Hand sachte über die Wange und blinzelte.

Ja, natürlich…der Wangentest. Sie fischte aus dem textilen Häufchen ein farbiges Stück Jute hervor und rieb es über die linke Wange. Da verzogen sich auch schon die Mundwinkel gen Erdboden. Auf gar keinen Fall! Die Jute war viel zu grob für ein Kinderstofftier. Wenn es sich für sie schon so gänzlich unangenehm war, wie wäre es dann für die noch zartere Kinderhaut? Kopfschüttelnd warf sie den Fetzen auf den Tisch zurück. Möglicherweise war es für die Rückenstacheln und die Zunge mehr als brauchbar… aber doch nicht für den großflächigen Körper des Stofftieres, dass immerhin eine Elle groß sein sollte. Den nächsten Stoffrest den sie ergatterte, war aus Wolle. Wieder rieb sie es erst sachte, dann noch einmal kräftiger über die Haut. Das war doch viel besser. Sie zog und zupfte an dem Stoff und hielt ihn prüfend, mit einem fest zusammen gekniffenen rechten Augenlid, gegen das Licht. Tja, leider dennoch unbrauchbar. Zu fusselig und nicht strapazierfähig genug. Er würde es am Schwanz oder wo auch immer halten und mit sich über den Boden schleifen. Er würde an ihm ziehen, ihn drücken und wenn er wütend war, dass Stofftier gegen was-auch-immer schleudern. Vor ihrem geistigen Augen sah sie einen kleinen, zerzausten und wilden Jungen, der genau jene Situationen gehorsam nachspielt. Ein Lächeln kräuselte ihre Lippen. Außerdem wird die Mutter das Stofftier beständig waschen wollen oder müssen, da würde sich die Wolle über kurz oder lang auflösen und der junge sollte ja lange etwas davon haben. Blieb also nur Leinen oder? Aus dem Stapel wurde ein ebensolches Stück herausgezogen und dem erneuten „Kuscheltest“ unterzogen. Nicht so weich wie die Wolle, aber eindeutig weich genug und ohne Fusseln die in Kinderaugen oder an Kinderlippen kleben bleiben konnte und widerstandsfähig genug, um so einige mütterliche Wäschen zu überstehen. Wenn sie es mit Wolle füllen würde, wie sie es ja vorhatte, würde es optimal sein.

So schob sie die Stoffreste beiseite, außer dem kleinen Leinenstück und setzte sich an ihren Sekretär. Von dem bereitliegenden Stapel nahm sie ein sauberes Stück Hadern und angelte mit den Fingerspitzen aus einer der Schubladen einen Kohlestift. Noch war Galates nicht auf seinem Flug und sie konnte sich das kostbare Kerzenwachs sparen. Mit feinen Strichen begann sie zuerst nur eine Skizze zu zeichnen. Ein Drache, wie sie sich ihn als Kind immer vorstellte, als ihre Mutter aus den Büchern vorlas. Mit gefährlichen, blitzenden Augen, einem großen Maul, welches über und über von nadelspitzen Zähnen übersät war, Sein langer Körper war schlank, mit schimmernden Schuppen umhüllt, die ihn schützten wie eine Wehr aus Mondstahl. Sein spitz zulaufender Schwanz, war lang und so kräftig, dass er mit einem Hieb, einem ausgewachsenen Mann mühelos den Kopf von den Schultern trennen konnte. Und seine Pranken waren schon klauenähnlich, mit denen er Furchen in die Erde schlagen konnte, dass selbst Anu vor Schmerzen schreien musste. Als das mehr oder weniger gelungene Kunstwerk fertig war, betrachtete sie es skeptisch und pinnte mit einer einfachen Nähnadel, das Stoffstück an das Papier.

So sehr sie sich auch bemühen würde, so naturgetreu wie dieses Bild, würde das Stofftier gewiss nicht werden. Die nächste Zeichnung wurde eindeutig sauberer, wenn sie auch konfuser auf einen geeigneten Betrachter wirken würden. Großflächig, aber sorgfältig ausgemessen, füllten die seltsam anmutenden Formen das Papier in engen Abständen, um kein Hadern unnötig zu verschwenden. Langsam breitete Galates seine Schwingen aus und die dunklen Schatten in dem Raum wurden länger. Bald würde nicht mehr genug Tageslicht vorhanden sein und so beschriftete sie die einzelnen Zeichnungen, ordnete sie somit ordentlich ihrer Funktion zu und beließ es für den Abend dabei. Es würde noch genug Arbeit auf sie warten.




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#2
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Es mag vielleicht die achte Morgenstunde gewesen sein, als sich die Fenster in der Schneiderei öffneten um die letzten warmen Strahlen Sulis‘ in diesem Jahr herein zu lassen. Sie hatte bereits gefrühstückt, das Kätzchen versorgt und den Haushalt auf Vordermann gebracht. Ja, es war kein Gerücht. Des Schneiders Nächte waren wirklich kurz. So vorbereitet, griff sie beherzt nach der großen Schere. Dieser Auftrag machte ihr wirklich Spaß. Er fiel aus dem Rahmen des täglichen Trotts, förderte das eigene Kind zu Tage und regte endlich einmal wieder zu einer Unmenge an Ideen und Fantastereien an. Sorgfältig und peinlich genau, fuhr die Schere an den Rändern des Schnittmusters entlang, um die auf Papier gebannten Formen zu befreien. Sie schnitt eine großzügige Bahn von der dicken Leinenrolle ab und eine kleinere von der groben Jute. Sorgfältig gefaltet, legte sie sich jene über den Arm, schnappt sich den roten Farbtiegel und den Tüncheimer um sogleich aus der Ladentür um die Ecke zum Waschplatz zu huschen.

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Das war das größte Qualitätsmerkmal an dem neuen Haus in Ravinsthal. Der angrenzende Waschplatz. Nie wieder schwere Lederlagen durch das halbe Viertel schleppen und noch weniger schwere Wassereimer. Den einzigen Schaden dabei hatte ihr Nachbar Aki, der sicher hin und wieder unter der Geruchsbelastung litt, aber sich seltsamerweise noch nie darüber beschwert hatte. Dabei beschwerte er sich doch gut und gerne, der alte Griesgram.

Am Waschplatz angekommen, füllte sie den Eimer mit frischem Wasser, zerbröselte die rote Farbe hinein und rührte ihn mit den altbekannten, inzwischen in sämtlichen Farben schillernden, Stecken um, bis sich das Farbpulver gänzlich aufgelöst hatte. Dann tunkt sie nacheinander die Stoffe ein, walkte sie ordentlich durch, bis sie die Farbe gänzlich aufgesogen hatten. Danach wurden sie mit festem Griff ausgewrungen und zum trocknen auf die Leine gehangen. Diesmal würden sie wohl nicht mehr so schnell trocknen, wie im Sommer in Löwenstein, aber spätestens zum frühen Abend hin wären sie dennoch endlich in dem rechten Zustand, um sie weiter verarbeiten zu können, dafür würden die launischen Herbstwinde im Tal schon sorgen.


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#3
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Gesagt getan. Mit dem geflochtenen Wäschekorb bewaffnet, betrat sie am späten Nachmittag wieder. Das Wetter hatte sich zum Glück gehalten, zumindest soweit, dass es den Regen ausgelassen hatte. Ein Ende des Leinenstoffes hatte sich aus seinem hölzernen Wäscheklammergefängnis losgerissen und flatterte munter, aber zumindest rot, im böigen Wind. Sie löste die Bahnen von der Leine, legte sie erneut sorgsam zusammen um keine überflüssigen Falten in den Stoff zu bringen, die sie später wieder ausbügeln müsste und trug den Korb zurück in die Schneiderwerkstatt. Dort breitete sie die Stofflagen auf dem saubergewischten Boden aus und verteilte die Papierstücke des Schnittmusters darauf. Auf allen Vieren robbte sie dann in höchster Konzentration, nur hin und wieder abgelenkt vom Kätzchen, dessen Neugierde es immer wieder dazu antrieb, mit den Papier spielen zu wollen und es mit dem kleinen Pfötchen versuchte vom Stoff zu schieben. Leise, aber nicht besonders nachdrücklich schimpfend, zog sie diese wieder in ihre alte Position zurück und versuchte so schnell wie möglich die Umrisse mit dem Kohlestift auf den Stoff zu bannen, bevor die gewitzte Lazi erneut einen Angriff starten konnte.

Wie jeder gute Schneider verschränkte sie die Beine gemütlich unter sich zum Schneidersitz, schnitt wieder mit größtmöglicher Sorgfalt die pass genauen Stoffteile aus und klemmte sie sicherheitshalber unter ihrem Fuß fest um Lazi wenigstens diesen Spaß zu verderben. Diese aber, machte diesen Kampf mit ihren winzigen, kleinen Krallen wieder wett, die sie so effizient darin verhaken konnte, dass sie diese darunter hervorziehen konnte und dabei auch noch zwei dünne, aber schmerzhafte Kratzer auf dem Fußrücken der Schneiderin hinterließ. Diese seufzte lediglich und beschloss sich zumindest zum Nähen aus dem bodennahen Revier der Hauskatze zu entfernen und sich an das noch immer geöffnete Fenster zu setzen. Sie nähte dem Drachen seine gefährlichen Jute-Stacheln an die obere, rechte Seite des Rumpfes und setzte die andere Lage des Körpers mit feinen, kleinen und regelmäßigen Schlaufenstichen obenauf. Danach stopfte mit Zeige- und Mittelfinger die weiche Zackelschafwolle hinein, knetete diese solange, bis sie sich gleichmäßig verteilte und verschloss den Rumpf mit dem Stoffzuschnitt der Bauchdecke. Weit vornüber gebeugt,mit einer unglaublich ruhigen Hand und feinster Präzision, stach sie mit der dünnen, spitzen Nähnadel die Nähte so fein, dass sie auf dem roten Stoff kaum sichtbar erschienen. Eine Weile ruhte sie die Augen aus, beschäftigte sich spielend mit dem Kätzchen, dass unaufhörlich und ohne auch nur die geringsten Anzeichen von Müdigkeit einem dicken Knopf nachjagte, der an einer Wollkordel befestigt war. Zum Schluss überließ sie ihr diese und machte sich stattdessen wieder ans Werk.

Die Vorder- und Hinterläufe vernähte sie einzeln und füllte auch jene wieder mit der guten candarischen Schafswolle. Diese würden später mit einem kleinen Holzknopf am Rumpf befestigt werden, damit jene beweglich blieben. Da ein kopfloser Drache, nicht wirklich bedrohlich wirkte, sollte man diesen Umstand unbedingt ändern. Der Schädel war schon imposant mit seinem offenen, klaffenden Maul und seinen gebogenen Hörnern. Erst recht, als auch er weich ausgestopft wurde und sie ihn mit seinem hübschen Körper verband. Um den unweigerlich eintretenden Kopfschmerzen vorzubeugen, die solch' filigrane Arbeit mit sich bringen würde, verstaute sie das beinahe vollendete Schmuckstück sicher vor Lazis Tatzen, auch wenn sich nun doch endlich müde gespielt und sich zum Schlafen auf dem Bett zusammen gerollt hatte. Morgen war auch ein Tag und dem Kleinen wäre nicht geholfen, wenn sie nun unkonzentriert schludern würde.


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#4
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Diesmal war es erst zur Mittagsstund‘ in der sie sich an die Fertigstellung des Stofftieres setzte. Die meiste Zeit des Nachmittags verbrachte sie damit, mit einem goldgelb getünchten Faden die Schuppen auf seinen Leiben zu sticken. Erst danach nutzte sie einen dunkelgrauen Faden und gab ihm seine finster dreinblickende Augen. Auch die lange, dünne Zunge aus dem Jutestoff fand endlich ihren Weg in sein hungriges Maul. Was allerdings einem richtigen Drachen noch fehlte, waren selbstverständlich seine Flügel. Diese hatte sie ebenfalls aus der Jute zugeschnitten verstärkt mit der zarten, aber festen Biegsamkeit einer sauberen und stumpf gefeilten Fischgräte. Diese fanden wie die vorderen Läufe Platz an dem gleichen Holzknopf, denn flugunfähiger Drache war im besten Fall höchstens eine einfache Eidechse. Sie setzte auf jene noch die letzten, zierenden Stickereien und betrachtete dann ihr Werk.

Ihre Mundwinkel sanken gen Boden.

"Ach, verdammt...wie gerne wäre ich jetzt ein Kind und würde ihn ausprobieren wollen..."


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