FSK-18 Der Vorbote der Verdammnis
#1
Wie so oft in den letzten Tagen und Wochen, wenn er nicht gerade die Umgebung erkundete, hatte Kyrthon sich in den Schutz der neu geschaffenen Zuflucht zurückgezogen. Wie so oft, saß er allein im flackernden Kerzenschein am Tisch und betrachtete unverwandt die kleine Ansammlung von Pergamentstücken vor sich. Sie waren ganz unterscheidlich: Manche von ihnen waren so fragil, dass sie schon bei der kleinsten Berührung zu zerfallen schienen, andere wiederum noch robuster - doch allesamt waren sie zumindest hundert Jahre alt, oder gar älter. Sowohl die Beschaffenheit, als auch die Schrift waren bei jedem Fragment ganz unterschiedlich. Teils wurde mit Kohle, teils mit Tinte geschrieben, teils in ihm unbekannten Sprachen. Überwiegend waren es nur Bruchstücke von Texten - manchmal gerade eine halbe Seite - oftmals waren die Spuren mutwilliger Zerstörung durch Feuer oder Klinge deutlich erkennbar. Nichtsdestotrotz waren sie alle - wenn er sie schließlich entschlüsseln würde und vielleicht noch weitere Fragmente fand - unglaublich wertvoll. Das ein oder andere der in unbekannten Sprachen verfassten Texte mochte vielleicht anderen Werken zugehörig sein, doch den Großteil konnte Kyrthon zuordnen: Dem Condamnat - der heiligen Schrift des Lords Yaq'Charybs.

Mit einem Seufzen lehnte er sich zurück um sich über die übermüdeten Augen zu wischen. Seit Axt ihn als Strafe mit diesem lästigen Fluch belegt hatte, fühlte er sich wie ein alter Mann. Missbilligend verzog er bei der Erinnerung das Gesicht. Er war wahrlich nicht mit der Politik des Südens vertraut, die offenbar allgegenwärtig war und zu ebendieser Strafe geführt hatte... - Wollte er nicht scheitern, musste er sich aber rasch damit zurechtzufinden lernen. Er hatte zwar einige Anhänger um sich geschart, doch die Macht, die ihm der bleiche Lord in Laskandor gewährt und nach seinem Versagen genommen hatte, musste er sich nun Schritt für Schritt zurückerobern. Es machte ihn stutzig, weshalb Axt jenes unverschämte Gör derart gewähren und sich so offenkundig auf der Nase herumtanzen ließ - schließlich gab es wichtigeres. Doch es musste wohl einen triftigen Grund dafür geben - Kyrthon musste ihn nur herausfinden.

Nachdenklich wandte er den Blick zur begonnenen Konstruktion der Brunneneinfassung. Auch dies war eine komplizierte Angelegenheit... Einerseits benötigte er die Macht, Archonten zu binden, andererseits benötigte er Archonten, um diese Macht zu erlangen. Obwohl einige seiner früheren Anhänger unverhofft zurückgekehrt waren, war der Großteil von ihnen wohl tot, ihre Leiber unerreichbar und dementsprechend wertlos für seine Mission. Es ließ sich wohl nicht vermeiden, das ein oder andere Risiko einzugehen, denn die Errichtung des Blutbrunnens - oder sogar mehrerer - war unumgänglich, wollte er die Welt vor der nahenden Dämmerung bewahren.

Viele Aufgaben, und wenig Zeit...
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#2
Leise kratzte die Schreibfeder über das Pergament des kleinen Lederbüchleins, in das er die unbekannten Schriftzeichen eines der älteren Fragmente übertrug. Es war nicht leicht und erforderte große Konzentration, einen Text zu übertragen, der in einer Sprache verfasst war von der man nicht einmal wusste, was die einzelnen Symbole bedeuteten und ob vielleicht bereits ein falscher Winkel die Bedeutung verändern würde. Inmitten seiner Konzentration unterbrach ihn plötzlich eine Erinnerung… Vor einigen Tagen waren sie in die Katakomben unter dem Flüsterwald hinabgestiegen. Anscheinend ein Konstrukt früher Siedler aus Indharim, die vertrieben wurde. Interessanterweise hatte er am Eingang eine Statue eines gewaltigen, geflügelten Wesens entdeckt, welche halb geduckt auf ihrem Sockel saß, den gehörnten Schädel angriffslustig vorgereckt, die Klaue zum Schlag erhoben. Davor befand sich ein ausgebranntes Kohlebecken, wie eine Opferschale… Nach allem, was er wusste, konnte es sich durchaus um ein Bildnis und einen Schrein Astaroths des Vernichters handeln. Er hatte in einem der Fragmente von ihm gelesen: Er war einer der Generäle des blutroten Höllenbanners, der abyssalen Armee des bleichen Lords. Ob dies auch der Wahrheit entsprach, oder ob es ein anderer Dämon war, es war eine gewaltige Entdeckung, der er nachgehen musste. Vielleicht konnte er mit mehr Zeit Inschriften in den Gräbern finden, welche ihm Aufschluss über die Hintergründe und Natur der Katakomben geben würden. Jener Nekromant schien sich schändlich wenig dafür zu interessieren… Oder er verschwieg sein Wissen. Mit einem Kopfschütteln verscheuchte er schließlich die Erinnerung und widmete sich wieder seiner Schreibarbeit.
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#3
Seit sie in die Katakomben hinabgestiegen waren hatte Kyrthon wenig geschlafen und dementsprechend war er gezeichnet. Tiefe Augenringe und die noch bleichere Haut als sonst gaben ihm beinahe das gespenstische Aussehen eines wiedergekehrten Toten. Auf dem Tisch vor ihm, im Schein der Kerze, lag der Grund für seine Schlaflosigkeit: Ein alter Ritualdolch, verrostet von seiner Zeit die er in jener eigenartigen Flüssigkeit gelegen hatte, doch nach wie vor prächtig - auf seine eigene Art und Weise. Er war mit acht Edelsteinen besetzt die nun, nachdem Kyrthon den Dolch gereinigt hatte sacht im Licht schimmerten. Er musste jemanden finden, der den Dolch reparieren konnte - sofern das überhaupt noch möglich war. Mit einem Schaudern dachte Kyrthon an die Grabeskälte zurück, die seinen Arm hinaufgekrochen war und beinahe sein Herz umschlossen hätte, als er den Dolch geborgen hatte. Es war beinahe wie damals gewesen, als Kordians Klinge sich in seinen Körper gebohrt hatte und nur der Bleiche Lord ihn vor dem Tod bewahrt hatte. Weniger schmerzhaft zwar, doch viel bedrohlicher... Einiges war eigenartig gewesen an diesem Abend: Zunächst die Waldtiere, die sich ihnen aggressiv entgegengeworfen hatten, von der Maus bis zum Vogel. Dann jene absonderliche Spinne, die ihn zuerst bei der Statue und dann - war es dieselbe? - in der Grabkammer so offenkundig beobachtet hatte. Er fragte sich, ob die Besetzerin der Katakomben, jene gewaltige Spinne, dahintersteckte oder ob es etwas anderes war. Vielleicht gar die Götter, wie Kyron gemutmaßt hatte?

Tastend wanderte sein Blick weiter zu der Steintafel, deren Schriftzeichen kaum mehr zu entziffern waren. Er musste herausfinden, was dort geschrieben stand. Vielleicht gab es Aufschluss über die Katakomben, über all jene Statuen, die irgendetwas abzuwehren schienen - oder zumindest über die Grabkammer, die sie noch unberührt gefunden hatten. Vorsichtig legte er einen Bogen Papier auf den Stein und begann es mit dem Kohlegriffel zu schattieren, um die Unebenheiten und Vertiefungen - die Schrift vor allem - auf das Papier zu übertragen. Den Rest der Nacht würde er damit zubringen, zu versuchen die Zeichen zu entschlüsseln und den Text mit der Feder in sein Lederbüchlein zu übertragen. Unlesbare Passagen markierte er mit entsprechenden Platzhaltern und Notizen.
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#4
Nach und nach wurden auf dem Bogen Papier folgende Schriftzeichen sichtbar

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#5
Kaum, dass er die Inschrift mit dem Kohlegriffel auf das Papier übertragen hatte dauerte es nicht lange, bis er sie auch entschlüsseln konnte. Glücklicherweise war sie nicht in Indharim oder einer anderen, alten Sprache verfasst. Nachdenklich lehnte er sich zurück, um den Text zu betrachten. - Weshalb war diese Tafel gerade in jener Grabkammer zu finden gewesen? An allen Sarkophagen außerhalb der Grabkammer schienen Inschriften gewesen zu sein, die zerstört wurden. An jenem prunkvollen Sarkophag, bei dem es sich - wenn seine Annahme richtig war - um einen Hohepriester oder derlei gehandelt haben musste, befanden sich zwar zahlreiche Ornamente, aber kein Hinweis auf den Toten. Zudem schien der Sarkophag übermäßig groß für eine einzelne Person... Gaben vielleicht die Schriftrolle und die Statue des Skorpions - als einzige nicht mit erhobener Linker - Aufschluss?

Er wollte die Ruhe der Toten nicht stören, doch womöglich würde kein Weg daran vorbeiführen. Und womöglich handelte es sich ja garnicht um ein Grab, sondern um ein Behältnis zur Aufbewahrung von Schriftstücken? Einstweilen brauchte er mehr und stärkere Krieger, um die tieferen Ebenen zu erforschen. Wieder überflog sein Blick die Zeilen. Es war eine Warnung, doch die unleserlichen Teile machten es unmöglich zu sagen, wer oder was sich dort unten verbarg. - Zweifellos war die Riesenspinne mit ihrer Brut nicht die einzige Gefahr in den Katakomben, soviel stand fest...
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#6
Diesmal hatte ihn sein Weg nicht in die Zuflucht verschlagen. Stattdessen hatte er sich für die Nacht ein Zimmer in der Kreuzwegtaverne genommen. Dort saß er nun, vor sich eine kleine Phiole, darin etwas Blut, vielleicht kaum eine Unze. Der Schein einer einsamen Kerze erhellte das Tischchen in dem spärlich eingerichteten Raum.

Obwohl nicht viel geschehen war, waren die letzen beiden Wochen doch in gewissem Maße ereignisreich gewesen. Die Synode war versammelt. - Es bedurfte nunmehr lediglich des neuen Blutbrunnens, um die neuen Akolythen zu binden. Als Kyrthon in den Süden kam hätte er kaum erwartet, dass es so leicht sein würde, Fuß zu fassen, aber es hatte nichteinmal ein halbes Jahr gedauert neue Diener für den Bleichen Lord zu finden.
Mit einer leichten Drehung der Phiole beobachtete er, wie das Blut darin rötliche Schlieren auf dem Bleiglas zog. Er war gespannt, was die Spinne als nächstes tun würde, wie sie auf die sich abzeichnende Bedrohung reagieren würde. Bislang dachte sie, sie hätte alle Fäden in der Hand und wäre in ihrem Netz unantastbar - doch was würde sie nun tun, da er ihr vor Augen geführt hatte, dass es durchaus Wege gab, ihren Schutz zu durchdringen? Obwohl sie durchaus geschickt schien, unterliefen ihr immer wieder, meist aus Überstürzung und Hast gebore, Fehler, dass er an ihren Fähigkeiten zweifelte... Würde sie nun einen Angriff wagen, oder würde sie ihre Verteidigung verstärken? Das Fläschchen auf dem Tisch abstellend lehnte sich Kyrthon seufzend zurück und blickte zum Fenster hinaus. Bald war die dunkelste Stunde heran, es wurde Zeit für das Opfer...
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#7
Die Fertigstellung des Beckens für den Blutbrunnen näherte sich der finalen Phase. Die Teile musste nur zusammengefügt werden, ehe der schwierige Part beginnen konnte: Das Ritual.
In den letzten Tagen - wieviele waren es eigentlich? - wurde er von Träumen heimgesucht, die ihn nunmehr auch tagsüber verfolgten, sodass er sich meist nicht sicher war, ob er wachte oder schlief. Immer wieder sah er sie... Die Erscheinung war so real, fast konnte er ihr weiches, braunes Lockenhaar fühlen und riechen. Manchmal glaubte er sogar ihre milde Stimme oder ihr helles, fröhliches Lachen zu hören. Wann immer er in ihre großen, sanftmütigen bernsteinfarbenen Augen sah, drohte er sich selbst gänzlich darin zu verlieren, wie er es früher so oft getan hatte... Oft stand sie einfach nur da und beobachtete ihn mit keckem Blick, manchmal lief sie an ihm vorüber, manchmal hörte er nur ihre Stimme. Das Gefühl, das die Visionen begleitete ließ ihn beinahe zu Grunde gehen.

Die letzten Jahre, trotz aller Umwege die er gegangen war, trotz aller anderen Ziele die er verfolgt hatte, hatten nur einem Zweck gedient: Sie endlich wieder zu finden. Und nunmehr war die Zeit reif. Der Bleiche Lord selbst hieß ihn, sie aufzuspüren. Bald würden sie endlich wieder vereint sein, und nichts mehr würde sie trennen. Vor Aufregung sogar leicht zitternd verließ Kyrthon die Zuflucht und machte sich auf den Weg Richtung Norden.
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#8
Die Visionen waren schlimmer geworden, nun da er sich fast ausschließlich der Kräfte des Abyss bediente, um seinem Körper die Kraft zu spenden, die er eigentlich durch Schlaf erhalten sollte. Vor nichteinmal einer Woche wäre er aufgebrochen, es war alles vorbereitet gewesen... Doch als er Kyron und der Elster seinen Entschluss mitteilte wagten sie es, ihn anzugreifen um ihn davon abzuhalten! Nun, im Grunde war nur er selbst dafür verantwortlich zu machen. Er hätte wissen müssen, dass die langen Jahre seit der Zerschlagung der Drachen durch die Infanterie nicht spurlos vorübergegangen sein konnten. Er hätte wissen müssen, dass kein Weg daran vorbeiführte, die Ausbildung zu wiederholen und etwaige blasphemische Einflüsse dieser Jahre zu tilgen. Wie eine Klinge oder ein Garten, die nicht regelmäßig gepflegt wurden und sich Rost oder Unkraut breit machte, mussten auch die Diener des Bleichen Lords rein gehalten werden... Waren sie auch nach wie vor dem Träger der Schädelkrone verpflichtet, so bedurfte es doch seiner Fürsorge als Präzentor, bis sie selbst in der Lage waren diesen Pfad wieder zu beschreiten, um ihrerseits neue Akolythen auszubilden.

Als seine Hände zu zittern begannen, beschwor er die Macht des Abyss und seines Blutes, um zumindest vorübergehend Linderung zu erhalten. - An richtigen Schlaf war erst zu denken, wenn die Ausbildung Kyrons abgeschlossen war. Es war hier in der Zuflucht schwer abzuschätzen, wieviel Zeit vergangen sein mochte doch es mussten einige Tage gewesen sein. Bis auf Sam, die sich einmal kurz gezeigt hatte, dürfte die Nachricht der Elster alle erreicht haben... Bei dem, was er tat, benötigten sie Ruhe. Störungen von Außen konnten alles zunichte machen. - Nicht zuletzt aus diesem Grund vermied er es - wann immer es möglich war - zu schlafen. Aus mit tiefen Schatten unterlegten Augen betrachtete er die braunhaarige Frau, die ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tisches stand, an dem er sich niedergelassen hatte. Irgendwo liefen quiekend zwei blutverschmierte Ratten herum, die er ebenso wenig beachtete wie das zornige Toben im Nebenraum. Er könnte sich ewig darin verlieren sie zu betrachten, wunderschön wie sie war... Doch er musste sie finden. Der Bleiche Lord war ungeduldig, wie das blutende Mal in seiner Linken bezeugte. Es hatte sich geöffnet, nachdem er den Entschluss gefasst hatte zu bleiben und der geringe, aber stetige Blutverlust schwächte ihn weiter. Gelang es ihm nicht bald, die Ausbildung zu beenden und sich seiner eigenen Mission zu widmen, so würde er zu Grunde gehen. - Es sei denn, er konnte ein würdiges Opfer finden, um den Bleichen Lord milde zu stimmen und Zeit zu gewinnen... Nachdenklich betrachtete er die lächelnde Frau vor sich, während er die Linke langsam öffnete und schloss, den Schmerz in sich aufnehmend.
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#9
Vorbei.

Er wusste nicht, ob er weinen, lachen, oder die Welt in Brand stecken sollte. Er fühlte sich auf eigenartige Weise befreit und leer gleichermaßen. - Die Visionen hatten ebenso unvermittelt geendet, wie sie gekommen waren. Vielleicht war es am Ende gar nicht der Auftrag gewesen, Myranna zu finden? Vielleicht war es eine Prüfung des Bleichen Lords gewesen, eine Prüfung seiner Standfestigkeit, seines Willens... Wenn dem so war, dann hatte er sie bestanden. Das Mal hatte sich wieder geschlossen und er fühlte sich stärker denn je. Freilich konnte er nicht wissen, ob nicht die aktuellen Ereignisse etwas damit zu tun hatten - aber würde eine Entität wie der Herr Yaq'Charybs sich wirklich von den Taten zweier dummer Sterblicher von seinen Plänen abbringen lassen? Unwahrscheinlich. Alles geschah so, wie es geschehen musste. Axts Gören hatten den Preis für ihre naiven Unverfrorenheiten bezahlt. Hätten sie nicht einen Hornissenschwarm aufgescheucht, so wäre es fast amüsant gewesen, wie sie ihre gerechte Strafe ereilt hatte... Und Axt wollte sie zu Meistern machen. - Wieder einmal, wenn ihm dieser Gedanke kam, schüttelte er mit einem Schnauben den Kopf. Es gab wichtigeres.

Etwa ein Wochenlauf war vergangen, seit sein Diener gefangen genommen wurde. Drei Tage, seit die Verbindung abgerissen war. Angeblich war er zwar noch am Leben, doch welchen Wert hatte schon das Wort eines Lügenpriesters? Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass die Kirche jemanden der Hexerei verdächtigen und dann still und heimlich töten würde, anstatt ein großes Spektakel zu zelebrieren, aber es war nicht auszuschließen... Wenn dem aber so war, dann wäre die Elster nicht aufzuhalten. Er hatte sie zwar einstweilen freigelassen - er hatte in Anbetracht der Umstände nicht die Zeit, sich voll und ganz ihrer Ausbildung zu widmen, wie er es mit Kyron getan hatte - aber sie war noch nicht wirklich bereit. Langfristig musste er sie von der Furcht und den Zweifeln befreien, die sie lähmten. Ihre Ketten abstreifen, auf dass sie ihr volles Potenzial entfalten konnte. Bis dahin würde sie Gefangene ihres Wahns und ihrer Unsicherheit sein. Was die Akolythen betraf... Im schlimmsten Fall würde er selbst sich ihrer annehmen müssen, auch wenn immer noch Hoffnung bestand, dass der Archont wiederkehrte. Sie waren alle noch ungeschliffen und eigensinnig. - Mehr denn je mussten sie ausgebildet werden in diesen Zeiten. Mehr denn je musste ihnen beigebracht werden, wie sie die Lügen der Kirche durchschauten und sich vor deren bohrenden Blicken und Fragen schützen konnten. Und schließlich was die Kirche selbst betraf... Sie würde bluten. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Allen voran ihre Seligkeit.
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#10
Aus den Schatten beobachtete er, wie der Gerüstete panisch das Haus verließ. So war die Zeit also gekommen... Schon in den letzten Wochen hatte er sich die Zeit damit vertrieben Vermutungen über Tag und Ort der Niederkunft anzustellen, doch hatte sich wiederum erwiesen, dass Prophezeihungen nicht seine Stärke waren. Ein Umstand, der sich manchmal gleichermaßen als lästig wie als positiv erwies. - Zuweilen waren die wispernden, lockenden Stimmen der Gegenwart auch ohne die Stimmen der Zukunft schon Last genug. In den letzten Wochen hatte er sich gänzlich zurückgezogen. Er fand nicht die Ruhe und Konzentration um sich den täglichen Aufgaben zu stellen. Nicht, während er vom stetigen, fast perfide vorfreudigen Raunen, welche die Ankunft dieses Kindes bei den Stimmen auslöste, durchdrungen wurde. Cahira war ein Diamant, ohne es zu wissen. Kyron hingegen war durch und durch verdorben - und stets wenn Reinheit und Makel sich vermischten bestand großes Potenzial. Bereits Lionel war ein wunderbares Beispiel dafür, was würde wohl ihr zweites Kind hervorbringen? So lag er die letzten Wochen auf der Lauer, verborgen in unnatürlichen Schatten, gehüllt in Masken und Verkleidungen, beobachtete aus der Nähe und doch fern. Einmal war er sich sicher gewesen, sie hätten etwas bemerkt, als ihn eine der Stimmen plötzlich lautstark zu verhöhnen begann, dass er gescheitert wäre. - Doch stellte es sich als bloße Prüfung des Bleichen Lords heraus, die er bravourös gemeistert hatte. Innerlich freute er sich an der Gewissheit, dass jene vorlaute Seele nun irgendwo die Gesellschaft eines Foltermeisters des Blutroten Höllenbanners genoss. Versagen wurde bestraft, Erfolg belohnt.

Kyron hatte sich wieder gänzlich in die Rolle des Ehemanns eingefügt, so schien es. Mit der Eleganz eines Holzspielzeugs, aber doch. Zuweilen überraschte es ihn immer wieder, wie anpassungsfähig dieser anscheinend so starre und harte Mann sein konnte. - Aber er war nicht hier, um sein Zeitfenster mit Überlegungen zu verschwenden. Rasch blickte er sich um, vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war, ehe er zur Tür huschte und hastig mit jener Handschaufel, die er mitgebracht hatte, vor der Schwelle zu graben begann. In der geschaffenen Vertiefung versenkte er rasch den mitgebrachten kleinen Beutel, der einen eigenwilligen Kräutergeruch verströmte. Nach einem raschen Blick über die Schulter zog er den geflammten Ritualdolch und benetzte den Beutel nach einem geübten Schnitt mit seinem Blut, unentwegt leise Gebete murmelnd. Nachdem das Loch wieder mit Erde bedeckt war, zog er schließlich mit seinem Blut konzentriert das Symbol der ewigen Dämmerung auf den Balken der Schwelle, ehe er sich aufrichtete und rasch wieder in den Schatten um das Haus verschwand. Bald würde der Gerüstete wiederkehren und das Schauspiel seinen Lauf nehmen... Er wartete.
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