Die Saat des Irrtums
#31
Gib mir den Goldpokal
und laß mich trinken, trinken
in flammendheißer Lust
verglühn, vergehn, versinken!

Sündhaft sind deine Lippen,
die also süß gesprochen,
verflucht die blassen Hände,
die meinen Stolz zerbrochen.

O diese Nacht, die eine,
die wars, nun hilft kein Beten,
Mörder! Du hast meine fromme,
heilige Liebe zertreten!

~Leon Vandersee († 1907)

Das Buch war alt, abgenutzt und leicht vergilbt. Passend zu dem staubigen Tisch, auf dem es lag als hätte man es gerade erst abgelegt. Ob der Einband rot, braun oder grün war, konnte Kyron in der Finsternis nicht erkennen. Eine Kerze anzuzünden war ein Sakrileg, das er für etwas Ordinäres wie Neugier ob einer Einbandfarbe nicht begehen würde.
Es war ein Rätsel, dieses Buch. Kyron betrat des Meisters Schreibstube zwar täglich, aber die Furcht davor dessen alte Habe anzufassen hatte ihn immer noch fest im Griff. Und am Vortag war das Buch nicht dort gelegen. Es hatte allerdings auch nicht im Regal gestanden, denn zumindest die Buchrücken dort kannte Kyron in- und auswendig, und dieser Einband, mit seinen sternförmigen Punzierungen, hatte dort nie geruht.
Dor'kalon. Kyron schauderte unter dem irrwitzigen Gedanken, biss die Zähne zusammen und packte das Buch. Dor'kalon war nicht hier gewesen, nicht in den letzten Monaten. Nicht seit dem Pakt. Dieser Gedanke war nicht mehr als der verzweifelte Versuch seines Kopfes, für einen kurzen Moment die Kontrolle zurück zu erlangen.
Ha.
Das alte, harte Leder knirschte milde in seinen verkrampften Fingern, der Einband einst fein und teuer und von der Zeit nun abgewetzt wie eine alte Schabracke. Kein Titel, keine Schrift, keine Markierungen abseits der Sterne am Buchrücken. Er hob das Werk an, schnupperte kurz daran und runzelte die Stirn. Dureth's Bücher rochen allesamt nach Stein, sei es feuchter Granit, trockener Sandstein, oder frisch polierter Basalt. Dieses Buch roch nach... Papier. Lagerfeuer. Tabakrauch. 

Gelächter, das Gluckern einer schwingenden Metflasche, die Schatten von Männern und Frauen um ein einzelnes Lagerfeuer. Malvir erhob sich, die Augen von Alkohol und Tabak glasig, grinste in die Runde und sah dann zu Kordian. "Wir sehen uns dann im Zelt," sprach er und wackelte die Augenbrauen. Schallendes Lachen folgte ihm in die Dunkelheit, durchbrochen von Pfiffen und einem anzüglichen "ooooh im Zelt!", wie es nur Sansa sagen konnte.

Kyron senkte das Buch ab bis es an seiner Seite baumelte, an einem Arm hängend, der sich seinem Schicksal wie ein vergessener Hofköter hingab. Im Südosten streckte die Sonne die ersten Finger um die Atolle vor der Küste. Der dunkelblaue Horizont begann sich pink zu färben. Der Großteil seines Verstands befand den Anblick für abscheulich und widerwärtig, erklärte dem kleinen, kauernden Teil von Menschlichkeit seine Präferenz für das Rot von Blut und das Weiß blankgelegter Knochen. Der kleine Teil von Menschlichkeit frohlockte bei der Aussicht auf strahlenden Sonnenschein. Der Aussicht auf einige Stunden Ruhe, Frieden und Schlaf.
Wenn da nur nicht das Buch wäre. Das verdammte Buch.
Seit der Insel war alles anders. Verrat hatte seinen Preis, und Schulden wurden stets dann eingetrieben, wenn man am wenigsten damit rechnete. Dor'kalon hatte mit einem Blick durchschaut, was Kyron selbst nicht wahrhaben hatte wollen, und was er Isabelle und Belshira verbissen verschwiegen hatte. Man stellte sich nicht gegen die Launen eines Erzdämons ohne dafür mit Zins und Zinseszins zu bezahlen. Und sicher, eine Weile hatte Kyron sich gewehrt, aber es hatte nichts gebracht. Die Augen, die von der feinen Zierkette an seinem Schulterpanzer baumelten wie ein Amulett an einer makabren Halskette, waren eine mahnende Erinnerung daran. Eine Erinnerung an verlorene Kämpfe und dennoch gewonnene Schlachten.
Seitdem Kyron den Kampf gegen die Stimmen aufgegeben hatte, waren seine Sinne explodiert. Sein Geist offen für Eingebungen. Einflüsterungen mochte manch einer spotten, aber so oder so, Kyron lernte. Erfuhr. Beherrschte. Und mit jedem weiteren Tag verlor der Preis etwas mehr an Schrecken, so skurril er auch war. Was waren schon Lücken im Geist, wenn diese Lücken sich mit dunklen Anrufungen und Gewissheiten füllen ließen? 
Dennoch, Momente wie dieser waren zu erschreckender Gewohnheit angewachsen. Aufwachen an fremden Orten. Dinge, die plötzlich an anderen Plätzen standen. Blut an den Fingern, der Geschmack von Erde und Verrottetem in seinem Mund. Morgenröten in dichten, dunklen Wäldern, an die er sich nicht erinnern konnte. Mord, Totschlag, Schlafwandeln, Tagträume, nichts davon war ihm noch fremd. Aber Bücher zu entführen, das war neu. Und Neues durfte nicht ignoriert werden. Neues konnte tödlich sein.
Stirnrunzelnd sah Kyron auf das Buch in seiner Hand hinab. Seiner blutigen Hand, der blutbesprenkelten Bandage, die Isabelle darum gewickelt hatte. Es erschien bedenkenswert, dass das Buch am selben Tag erschien, an dem auch Dor'kalon aus seinem Rattenloch gekrochen war. Selbst wenn der Leichenfürst nichts von dem Buch wusste, so hieß das nicht, dass Neq'roth nicht etwas damit beabsichtigt hatte, dass das Buch nun in Kyrons Hand lag. Gerade jetzt. Gerade an diesem Abend. Morgen. Sonnenaufgang.

"Zuerst schwöre dass du mir keine Knochen brichst wenn ich dir sage, was geschehen ist. Nur heute, nur heute." Schon in dem Moment als die Worte seinen Mund verließen, wusste er dass es ein Fehler war. Dor'kalon's Augen lachten ihr kaltes, leeres Lächeln, das so gar nicht zu dem milden Schmunzeln auf seinen Lippen passen wollte. "So sei es denn. Nur heute nicht." Eines Tages würde Kyron lernen, seinen Mund zu halten wenn er schon am Schaufeln seines eigenen Grabes war. Dieser Tag war nicht der heutige.

Es musste einen Zusammenhang geben. Und Kyron musste ihn erfahren, bevor er wieder auf Dor'kalon traf. Ihm erneut mit heruntergelassenen Hosen in die Arme zu laufen würde mit bittereren Dingen als einem stumpfen Schlüssel durch die nackte Hand enden, und über das Alter der Überraschungen war Kyron schon lange hinaus. Und dennoch zitterten seine Finger, als er das Buch langsam aufklappte. Auf die erstbeste Seite - irgendwo in der Mitte des Buchs - starrte. Auf die glatte, charakterlose Abfolge von Buchstaben in seiner eigenen Handschrift, die mit jedem neuen Absatz zunehmend entgleiste, bis die letzten Worte mehr in das Papier geritzt als darauf geschrieben waren. Auf die alten, vergilbten Seiten, die er seit Jahren nicht mehr berührt hatte. Auf die Namen, die aus seinen Erinnerungen sprudelten, während seine Augen die Zeilen entlang flüchteten. Weigori. Rahel. Dor'kalon. Dureth. Arzel. Tauron. Cahira. Cahira. Cahira.


Alles ist zurückgekehrt. Jeder Tag, jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde, jeder noch so winzige Augenschlag der Qual und Pein, des Leids und Schmerzes die ich für euch, dich, Cahira, die Welt durchgestanden habe. In Gedanken zähle ich erneut jeden Schlag, und in meiner Erinnerung, die nun wieder so klar ist wie mein Blick, sind sie rhythmisch, präzise wie das Ticken einer Wanduhr, genauso unausweichlich, genauso ewig, genauso endlos. Du hast mich Vertrauen gelehrt, und du hast mich Anstand gelehrt, und Ehre. Du hast mich gelehrt zu erdulden und zu ertragen, und dennoch stark und beständig wie Fels zu sein. Du hast mir beigebracht, mein Leben nicht über das der Unschuldigen zu stellen. Du hast mir gesagt, dass ein Leben nichts gegen das dutzender Unschuldiger ist. Du sagtest das sei wahrhaftes Heldentum. Du sagtest du würdest mich niemals im Stich lassen.

Für dich stürzte ich mich offenen Auges in die Klauen der Dämonen. Für dich ließ ich mich in Ketten schlagen und fesseln, ließ mir Knochen brechen, die Haut zerfetzen, die Innereien zertrümmern. An dich dachte ich, als ich am Boden lag und die Tritte und Schläge, Peitschenhiebe und Messerstiche weiter auf mich niederprasselten. Dein mahnendes Gesicht hatte ich vor Augen als ich Blut und Galle erbrach, mich in Schlangenbissen wand, mich dennoch schützend vor Cahira stellte, nur um noch mehr zu leiden. Deine Worte hatte ich in den Ohren als meine letzte Waffe mein Wille war, und ich diesen verheerender einsetzte als es jede Klinge vermocht hätte. Dein Mut war in meinem Herzen, als ich die Liebe meines Lebens aus den Fängen der Kultisten befreite, und mich selbst in ihren Schlund katapultierte um sie zu retten.

Deine Hoffnung trug mein Herz über die quälenden, totenstillen Stunden, in denen ich zitternd in meinem eigenen Blut lag, kaum noch fähig zu atmen, kaum noch fähig zu leben. Mit einem Lächeln sprach ich deinen Namen wenn sie ein weiteres Mal aus der Zelle verschwanden, erfolglos in ihren Bekehrungsversuchen. Dein Triumphlachen war das meine, wenn ich den Zorn ihres Versagens in ihren Gesichtern branden sah, und wusste, ich hatte eine weitere Stunde gewonnen, eine weitere Stunde für meine Seele, meine Freiheit. Meine Tränen sollten die Deinen sein, die du um mich geweint hättest, wenn ich gestorben wäre, meine Schmerzensschreie sollten die Deinen sein, wenn du an meinem Grabe gestanden hättest, mein Beben sollte das deine Sein, wenn du dich erneut aufgerichtet hättest um weiterzumachen, mich zu rächen.

Waren es Tage? Wochen? Jahre? Ich weiß es nicht mehr. Der Schmerz ließ alles zu einem dicht gewebten Teppich des niemals endenden Alptraums werden, in dem jeder, jeder der sich mir näherte, nur meinen Schmerz genießen und mich schreien, flehen, betteln, winseln, gehorchen hören wollte. Weißt du wie es ist, ihnen hilflos ausgeliefert zu sein, mit nichts mehr als seinem Willen und seinem Wissen? Oh nein, das weißt du nicht. Du kennst den Horror, die Todesangst, die schreckliche Einsamkeit, die Verlorenheit nicht, du kennst die Unsicherheit nicht, die Seelenpein darüber, vergessen worden zu sein. Du musstest deine eigenen Angelegenheiten regeln. Du musstest egoistisch sein. Du musstest deine private Rache ausleben, einen Mann töten um deine Liebe zu rächen, eine Liebe die trotzdem tot bleibt, und dafür ließest du Unschuldige, Schutzbedürftige, Freunde, ja fast Familie zurück, überließest uns unserem Schicksal.

Was dachtest du? Dass die Götter mit MIR sein würden? Mit mir, dem Sünder, dem Verbrecher, dem wertlosen Stück Nichts das du in deinem Schatten mitschlepptest aus Verantwortungsgefühl? Mit einem Köter, der die Stiefel der Dämonen leckte für ein kleines Kopftätscheln? Mit mir, dem Mörder, dem Herzlosen, dem Wahnsinnigen? Dachtest du sie schützen mich, so wie es deine Anwesenheit tat? Dachtest du ich sei wie du, wäre stark wie du, hätte Glück wie du, sei gesegnet wie du? Dachtest du mein Leben sei es wert riskiert zu werden damit du deine Rache haben kannst? Ist es das? War ich dir so wenig wert? Konntest du mir so lange Zeit, so viele berührende Momente ins Gesicht lügen, in Sicherheit wiegen, wie ein niedliches Haustier? Wo ist es nun, dein Ehrgefühl? Dein Versprechen, die Unschuldigen, Schutzlosen zu bewahren, wenn nötig auf Kosten des eigenen Lebens? War ich etwa nur Fußvolk, nur ein Diener für dich, ein Instrument das, einmal stumpf, weggeworfen wird?

Du... Heuchler! Du Lügner! Du Stück Dreck! All die schönen Worte, all die Hoffnung, all der Glaube den du mir gabst, nichts als heiße Luft! Im ersten Moment der sich dir bot hast du dich einfach abgewendet, mich abgeworfen wie eine Last, wie ein unliebsames Stück Gepäck das beim Spaziergang nicht stört, beim Wandern jedoch, bei der wahren Reise unbrauchbar wird! Schütze die Hilflosen, Schütze die Unschuldigen, PAH! Wenn das deine Meinung über mich ist, wenn das alles ist was du zu bieten hast an Seelenheil, wenn das alles ist was du mir an Erleuchtung geben kannst, dann sollst du in der Hölle schmoren! Dafür wirst du bluten, dafür werden die Menschen bluten, dafür soll ein jeder einzelne von euch bluten! Für Rahel de Luna wart ihr bereit euer Leben zu opfern, doch für die Unschuldigen, Hilflosen, für den Pöbel hattet ihr nicht einmal genug Zeit, ihr Verschwinden zu bemerken! Heuchlerische, lügnerische, verblendete, vergiftete, infizierende, ekelhafte Kriecher! ICH HASSE EUCH!
Weigori, ich hasse dich, ich hasse dich so abgrundtief wie ich niemanden zuvor jemals gehasst habe. So tief dass es schier mein Herz zerreißt, und ich werde mir die Seele aus dem Leib reißen und sie Neq’roth mit einem Lachen darbieten, aufdrängen, schenken, hinwerfen, nur wenn ich dafür einmal... nur einmal Hand an dich legen darf, dich nur einmal schreien, winseln, betteln, flehen hören darf wie ich es tat! Dich nur einmal bluten und beten sehen darf, wie ich es tat, verblendet und naiv wie ich war!

Du ahnst gar nicht das Ausmaß meiner Vergeltung...


Die Sonne verließ den Horizont, blendend, hell und heiß, als Kyron endlich von den Worten aufsah. Die See schäumte träge, glitzernd unter dem gebrochenen, gelbweißen Licht, als würde sie in Flammen stehen. Und Kyron lachte, schüttelte den Kopf und schloss die Augen. "Es ist ein Rätsel, wie ich das vergessen konnte", murmelte er in die kalte Morgenbrise. Die Worte verflossen wie es der Dampf seines Atems tat, ungehört und unbeachtet.

Das Buch fand seinen Weg in eine Gürtelschlaufe, verzurrt und sicher aufbewahrt an jenem Ort, den es nie verlassen hätte sollen. Die alten Worte gebrannt in einen Verstand, den sie nie flüchten hätten dürfen. Mit einem letzten Schnaufen wandte er sich von der Burgmauer ab, schüttelte den Kopf erneut und stieß die Zunge tastend zwischen die Zähne, über den Schnitt leckend, den Isa an seiner Lippe hinterlassen hatte.

Ihr ahnt gar nicht das Ausmaß meiner Vergeltung.
[Bild: spxyfrht.png]

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#32
Ob du in Samt und Seide gewiegt
Oder in härenem Tuch,
In deiner Wiege von Anfang an liegt
Ein Segen und ein Fluch.

Der Fluch ist, daß du leben mußt
Geworfen in diese Welt.
Der Segen, daß du sterben kannst,
Wann dirs gefällt.

~ "Menschheit" - A. de Nora (1864 - 1936), 
Pseudonym für Anton Alfred Noder, deutscher Arzt und Dichter


Regen prasselte auf die alten Steinmauern und das ausgetretene Pflaster. Die vereinzelten, rußschwarzen Pechlampen knisterten und flackerten, wann immer eine Windböe einige Tropfen in die Flammen trugen. Irgendwo im fernen Wald rief ein Uhu sein verwirrtes Lied aus den raschelnden, triebbesetzten Ästen der Bäume.
Der Duft von Blut hing dick in der feuchten Luft.
Kyron warf den wippenden Baumkronen einen abgelenkten Blick zu, eine Braue knickend. Die Äste tanzten vor dem vollen Mond auf und ab, auf und ab, als würden sie ihm zuwinken. Oder Kyron fortscheuchen wollen, bevor er zuviel Schaden anrichten konnte. Die Natur war ein so fürchterlich starrsinniges Ding, und wahrlich nicht seine Domäne. Die Dinge, die unter der Welt vergraben lagen hingegen... Er bleckte die Zähne zu einer Grimasse, die irgendwann einmal ein Lächeln gewesen war, und wischte sich Regenwasser aus dem Gesicht. Mit einem Rückwärtsschritt trat er zurück unter das baufällige Dach seiner Unterkunft und schüttelte sich; nicht dass es etwas brachte, durchweicht war durchweicht.
Der Raum auf dem Dach der Ruine maß fünf mal fünf Schritt und bestand zum Großteil aus Wänden, Dachresten und Büchern, den einzigen Gegenständen, denen in diesem Territorium so etwas wie Rücksicht geboten wurde. Die meisten Bücher waren in Wachstuch eingeschlagen um sie vor der Witterung zu schützen, zwei davon lagen allerdings geöffnet auf dem kalten Steinboden und wurden von den Pechlampen flackernd beleuchtet. Zwischen ihnen ruhte eine recht schlichte Holzschüssel, geschnitzt aus dem Stamm einer Erle, und ein verzierter Damast-Ritualdolch, der in seinem Leben sicherlich schon bessere Tage gesehen hatte. Vor der "Türe" - die eher eine fehlende Seitenwand war - heulte der nasse Frühlingsregen, weiter unten schäumte die See in einem Spiel von schwarz und weiß. Es wäre ein so schöner Ort gewesen, wäre da nicht Kyrons Brut, die sich schamlos eingenistet hatte.
Wäre da nicht die Korruption, die mit jedem Tag weiter aufflackerte.
Gewisse Dinge hatte Kyron lange vor sich her geschoben, während er andere Dinge mit Gusto an sich gerissen hatte. Es war der niedere, allzu menschliche Instinkt, der ihn oftmals fehlleitete und von seinen Plänen fortlockte, aber gleich des Bluthundes, mit dem er sich einen Ruf teilte, fand auch er früher oder später immer wieder zu seinem Pfad zurück. Zurück zu seinen kleinen, eigennützigen Plänen, die es in einem ruhigen Moment abzuschließen galt. Ein Abend wie dieser bot sich da nur zu willig an, denn wer lief schon gerne zum Löchergraben durch strömenden Regen? Nein, eine solche Nacht war für Rituale wesentlich besser geeignet.
Alles war bereit. Kyron ließ sich in die Hocke und dann auf ein Knie sinken und warf weit vorgelehnt einen Blick in die aufgeschlagenen Bücher und die Zeichnungen. Sie waren nicht nötig, Kyron hatte die Passagen so gut wie auswendig gelernt, aber wenn man so wenig Talent zur Hexerei hatte wie er, ging man lieber auf Nummer sicher. Nicht dass seine Arten der Magie sonderlich viel Anspruch an magisches Talent stellten, nein. Die Schwierigkeit war in diesem Fall eher, den Drang des kreischenden Flüchtens zu unterdrücken und sich vom eigenen Ekel nicht abschrecken zu lassen. Ekel war etwas, das der Meister sehr früh aus Kyron heraus geprügelt hatte. 
Eine perfekte Situation. Der perfekte Augenblick.
"Diese Augen sind die Meinen." Mit einem gemäßigten Atemzug schloss Kyron die Augen und tastete nach den feinen Ketten, die seine Schulterteile wie Girlanden dekorierten, um die getrockneten, schrumpeligen Augäpfel von Nora dem Kindermädchen heraus zu pflücken. Sie fielen mit leisem, trockenen Pochen in die Holzschüssel und rollten etwas hin und her, raschelnd wie trockenes Geäst.
Blind fand er den Griff des Ritualdolches und hob ihn bedächtig gen' der offenen anderen Handfläche. "Diese Augen sind die Meinen," murmelte er als das schartige Metall in seine Hand biss und die ersten Blutstropfen in die Schüssel hinab flossen. 
Besitz war eine kuriose Angelegenheit. Manche Dinge wechselten den Besitzer innerhalb von einem Augenschlag - Geldmünzen zum Beispiel -, während andere Dinge loyaler als jeder Hund waren. Häuser, Erbstücke, Körperteile, sie alle beugten sich nur sehr widerwillig, wenn überhaupt. Solcherlei übernatürlichen Widerwillen zu beugen benötigte Fingerspitzengefühl, Geduld und Starrsinn; ein Moment des Zögerns oder Zauderns, und schon waren Äonen der Arbeit dahin und manchmal gar der ganze Plan ruiniert. Es hatte Wochen, nein, Monate gedauert, bis dieses spezifische Paar von gestohlenen Augen endlich nachgab und sich seinem Willen fügte. Die Mühe war das Ergebnis beinahe nicht wert gewesen. Beinahe.
Kyron beugte und streckte die Finger der blutenden Hand einige Male, bis genug Blut die Augäpfel tränkte, und hielt dann die geschnittene Hand offen über die Schüssel. Der Abyss in ihm kreischte und scharrte, begierig darauf, freigelassen zu werden, aber er ließ die Kontrolle nur langsam fahren, stückweise, vorsichtig. Die Kontrolle nun zu verlieren wäre fatal und würde zu unumkehrbaren Schäden führen, seinen Plan mit Sicherheit ruinieren. Ebenso langsam und zögerlich färbte sich auch der Schnitt an seiner Hand schwarz und tropfte pechfarbene Korruption in die Schüssel. Die Augen sogen sich voll, sowohl mit Blut als auch mit dem schwarzen Odem des Abgrunds, bis sie rund und satt wie Trauben in der Schüssel ruhten.
Die Augen öffnend runzelte Kyron die Stirn. Der Anblick von Erfolg hatte etwas höchst Beunruhigendes an sich, das er nicht so recht in Worte fassen konnte, ab davon dass er so etwas viel zu selten erlebte. Und nun wo er dem Ziel so nahe war, wollte ein kleiner Teil in ihm sich verkriechen und die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen.
Als ob.
Mit einem Knurren griff er die Schüssel und hob sie an.
"Diese Augen sind die Meinen. Was sie gesehen haben, muss auch ich gesehen haben."
Der Abyss knisterte und flackerte als er die Schüssel vor das Gesicht hob. Die Augen zitterten, wanden sich als hätten sie ein Eigenleben entwickelt, und zuckten dann herum. Noras leere Pupillen fanden die seinen und blickten ihm entgegen. Kyron bleckte die Zähne und knurrte leise auf.
"Zeigt mir was ich nicht finden sollte."
Die Augen gehorchten.
[Bild: spxyfrht.png]

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#33
Der Moment

Versprühn in Freudefunken muß
Ein langes Gramgeschick,
Zu Grunde gehn im Vollgenuß
Von einem Augenblick.

Es prägt kein Leben seine Spur
Der Welt auf ewig ein,
Wir können auf Momente nur
Vollkommen glücklich sein.

Wie leuchtend auch in höchster Pracht
Des Menschen Geist erglüht,
Er zeigt doch nur die tiefe Nacht,
In die er bald versprüht.

~ Hermann Lingg (1820 - 1905)


Jemand hat sich recht große Mühe gegeben, das, was auch immer diese Augen gesehen haben mögen, zu verschleiern. Man könnte sich vorstellen, dass diese Schutzmaßnahmen, deren Ursprung eindeutig dem Abyss zuzuordenen sind, auch über das Sehvermögen des Kindermädchens hinaus gereicht hatten und die pummelige, lebensfrohe Haushaltshilfe vermutlich ohne es zu wissen über Jahre hinweg den Makel der Hexerei mit sich getragen hatte.

Die Bilder und Eindrücke, welche sich auf den toten Pupillen verfestigt hatten, waberten zunächst wie eine milchige Flüssigkeit in einer Glasflasche nur unstet umher und waren schwer zu fassen. Der Bann wirkte wie ein Korken, der jedwede aufkommende, sich klärende Impression eifersüchtig in der Flasche hielt. Doch war jener Pfropfen dank Kyrons Hartnäckigkeit gelöst, fluteten die Eindrücke nur so auf ihn ein. Beinahe schien es, als wollten die Augen - nein, Nora selbst - ihn wissen lassen, dass sie für das, was er erkennen würde, rein gar nichts konnte.

Die auf Kyron einströmenden Bilder aus dem gesamten Leben des unglücklich verblichenen Hausmädchens waren durcheinander und kaum zu fassen. Es war wie ein reißender Strom, der in seinem Strudel alles mit sich zog und verschlang. Alles war im Fluß. Wie schillernde kleine Fische zeigten sich ab und an deutlichere Eindrücke, aber auch diese waren so rasch davon geschwommen wie sie gekommen waren.

Eine Vielzahl an Gesichtern zeigte sich an der Oberfläche des Strudels. Vermutlich Noras Familie, die in ihrem Ausmaß einer galatischen Sippe in nichts nachstand. Ab und an waren die Mienen besorgt und der Blick schien von Tränen verschleiert. Aus einem Wirbel jener stetigen Enttäuschung schälte sich Stück für Stück der Eichenhof hervor. Noch vor dem Umbau, ohne Zäune und Gesindehaus. Kyron konnte Brynja sehen, wie sie von einem krabbelnden, windeltragenden Kleinkind zu einer kecken Range mit den Locken ihrer Mutter im Augenblick einer Welle heranwuchs. Lionel schoß von einem Dreikäsehoch beinahe zu einem jungen Mann empor. Mit der nächsten Flut waren beide wieder klein und alltägliche Begebenheiten, wie ein Spaziergang, Kuchen backen, der wöchentliche Waschtag, Hühnerfedern sammeln, rauschten in einem wirren Kaleidoskop aus Farben vorbei.

Immer wieder tauchte Cahira auf und wirbelte davon. Die braungelockte Frau auf dem Feld, mit den Pferden, mal in Amtsrobe auf dem Sprung, dann wieder nach einer erfolgreichen Jagd in Lederkluft auf der Veranda, auf der Suche nach einem ausgebüxten Schwein und still und in sich gekehrt an einem schlichten Grab … Nein, noch wollten die Augäpfel die Szene, welche Kyron wohl herbei gesehnt hatte und fassen wollte, nicht preisgeben. Wie ein Aal entschlüpfte ihm dieser Eindruck und stattdessen tauchten aus den gedanklichen Wassermassen zwei Gesichter auf.

War es merkwürdig, sich selber in diesem Strudel der Erinnerung zu sehen und vor allem als friedfertiger Familienmensch? Er galoppierte mit seiner kreischenden Tochter auf den Schultern über den Hof und sass Zigarette paffend mit seinem Sohn auf der obersten Sprosse des Zaunes der Pferdekoppel, um den neugierigen Tieren ab und an einen Leckerbissen zu zustecken. Die obersten Schaumkronen dieser Impressionen waren er, gemeinsam mit Cahira, welche leuchtete, strahlte, nur aufgrund und während seiner Anwesenheit.

Aidan.

Kyron mochte den Mann nie getroffen haben, aber die Gestalt, welche sich nun aus dem Malstrom erhob und lächelte, war eindeutig Cahiras Verlobter auf Svesur. Charmant würde den Hexer gut beschreiben, aber der Eindruck, dass, wenn man an seiner goldigen Oberfläche kratzte, darunter nur Pech und Schwefel zu finden waren, war nicht von der Hand zu weisen. Ohne Zweifel die Art Mann, für die Cahira eine Schwäche hatte und über dessen Fehler sie leicht hinweg sehen konnte. Die unverheiratete, von ihrer Familie malträtierte Haushälterin schien ein leichtes Opfer für diesen Galan, der aus ihren innigsten Phantasien entsprungen schien. Die Orte ihrer Treffpunkte variierten. Nie öffentlich, immer verschwiegen: vor Rabenstein, im alten Baronsanwesen, auf einer Wiese im Thalwald.

Mit einem Mal lichtete sich der Strudel und der Blick auf den Eichenhof war klar. Es war früher Abend, Stille lag über dem Land. Niemand war zu sehen, eine Rauchfahne stieg aus dem Schlot des Wohnhauses der Mendozas auf. Schnelle Schritte brachten Nora zur Haustür. In der Wohnküche fiel das Augenmerk auf eine Kanne, welche über dem Ofenfeuer hing, und auf ein halbausgestrunkenes Glas. Nora musste daran gerochen haben, denn der Blick zuckte rasch zur Leiter hinauf, dann kam hektische Bewegung ins Spiel. Im Obergeschoss wand sich Cahira mit schmerzverzerrten Gesicht in bereits blutdurchtränken Laken. Ein kleiner Hoffnungsschimmer zeigte sich auf der Miene der Geplagten, als jene wohl das Kindermädchen erblickte. Kurzer Wortwechsel, dann die bei einer Geburt übliche Betriebsamkeit. Es schien ein harter, zäher Kampf gewesen zu sein, doch letztendlich wurde ein Junge geboren, der rot angelaufen war und schrie und eindeutig gesund und munter in Noras Armen lag. Cahira selber war in Bewusstlosigkeit versackt. Sie hatte viel Blut verloren und sah so blass aus wie die gestärkten Laken, welche die Haushälterin geschickt frisch aufzog.

Das Kind wurde gewaschen, gewickelt, umsorgt - es gab kein Anzeichen dafür, dass irgendetwas mit dem Knaben nicht stimmte. Er hatte einen runden, mit dunklem Flaum bedeckten Kopf, zwei Augen, vier Gliedmaßen und jeweils zehn Finger und Zehen. Er war ganz und gar perfekt. Irgendwann gegen Morgengrauen, als sich die Aufregung der anstrengenden und plötzlichen Niederkunft etwas gelegt und wohl auch Nora geruht hatte, wurde das Neugeborene vorsichtig in einen Korb gelegt. Ein verschlungener Pfad führte das Hausmädchen zu der Lichtung im Thalwald mit dem umgestürzten Baum. Aidan erschien, der Korb wurde zögerlich ausgestauscht, ein Knoten ins Taschentuch gedreht.

Der Blick auf Aidan hatte sich verändert. Aus dem aufregenden Liebhaber war ein besserer Landstreicher in verblichener Kleidung, einer entstellten Gesichtshälfte und blau vernarbten Oberarmen geworben. Nach dem Austausch auf der Lichtung erschien Aidan im Strudel allerdings nicht wieder. Aber auf den ersten Knoten im Taschentuch folgten viele weitere. Das tote Kind aus dem zweiten Korb wurde der erschütterten Cahira in den Arm gelegt, schließlich begraben und betrauert auf dem alten Mondwächterfriedhof.


Der Rest der Eindrücke war wieder konfus und ohne alle Regel oder Reihenfolge. Kyrons verzerrtes Gesicht und wie er die Kinder aus dem Haus schickt, war nicht das letzte Bild, welches sich aus dem versiegenden Strom empor kämpfte.

Es war ein sonniger Tag. Eine karierte Decke und ein paar Köstlichkeiten deuteten auf ein Picknick hin. Brynja und Lionel trollten sich in der Sonne, umwedelt vom Wolfshund Madadh, während Cahira und Kyron lachend die Kinder betrachteten. Cahira drehte sich herum, lächelte, öffnete den Mund um etwas zu sagen … und ein ganzes Leben war zerronnen in diesem einen Augenblick.
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
Herzlichen Dank an Morrigan!
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