Die Saat des Irrtums
#21
Aus Träumen in Ängsten bin ich erwacht;
Was singt doch die Lerche so tief in der Nacht!

Der Tag ist gegangen, der Morgen ist fern,
Aufs Kissen hernieder scheinen die Stern'.

Und immer hör ich den Lerchengesang;
O Stimme des Tages, mein Herz ist bang.

~ Theodor Storm (1817 - 1888)

"Du weißt, ich könnte dich zwingen."

Kyron blinzelte angestrengt gegen die Trockenheit in seinen Augen. Der Geschmack des Wermuths klammerte sich selbst nach dem Erbrechen und dem Spülen mit Schnaps noch an seine Zunge, an die Kehle, hing im Rachen und der Nase und kratzte an seinem Gaumen. Honigbrand schien das Einzige, das den teuflischen Schleim noch irgendwie zu bändigen vermochte, aber das Stechen des Alkohols gegen seine gereizte Kehle hatte ihn gelehrt, etwas abzuwarten bevor er den Gallegeschmack fortzuspülen versuchte. Dennoch, der Wermuth hatte geholfen. Zugegeben, die für die ermunternde Wirkung notwendigen konsumierten Mengen zwangen ihn regelmäßig dazu, den grünlichbraunen Schleim wieder zu erbrechen und Magenkrämpfe auszureiten, aber solange er dabei wach blieb und ihm nicht die Zähne ausfielen, war das ein Preis den er bereitwillig zahlte.
Sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf. Zumindest hatte seine letzte träge Kopfrechnung das ergeben. Wann war er so alt und gebrechlich geworden, dass er nach anderthalb Tagen bereits schwächelte? Trügte ihn etwa die Erinnerung an frühere Jahre, in denen er bis zu drei Tage Widerstand geleistet hatte, bevor er unter dem Druck des Meisters zusammengebrochen war?
Nein. Aber damals war er Pegelsäufer gewesen und hatte einen vertrauenswürdigen Giftmischer zur Seite gehabt. Schnaps und Sandast, die ihn vergessen ließen, wie Erschöpfung sich wirklich anfühlte. Die Kombination hatte ihn zwar mehrmals beinahe getötet, aber sie hatte ihn auch härter sein lassen, robuster, widerstandsfähiger. So nüchtern, aufgeräumt, wohlgenährt und bequem wie sein Leben geworden war, war es kein Wunder dass nicht nur Cahira etwas von ihrer Soldatenhärte verloren hatte. Wer rastete, der rostete eben, und Kyron hatte zwei Jahre der Rast verstreichen und sich gehen lassen.
Im Nachhinein war man eben immer klüger. 

"Du sollst sehen, was die Zukunft bringt, was ich sehe. Was unvermeidlich geschehen wird."

Am Horizont ging die Sonne auf, streckte ihre rosa und rot gefärbten Klauen über die weißgekrönten Wellen und zog ihre unerbittlichen Scharten durch die Herbstnebelbänke an der Küste. Mit den Lichtstrahlen kam ein mäßiger, matter Schub von Energie, kaum mehr als die instinktive Reaktion eines tagaktiven Tiers auf den Anbruch des Morgens. In wenigen Stunden würde auch diese Reserve aufgebraucht sein, und dann würde die Müdigkeit ihn wieder packen. Wie die Klauenfinger des Meisters, die seinen Schädel gepackt hatten, ihm den einzigen Ausweg aus dem was folgen würde genommen hatten. Die Augen des Meisters, die violetten, zuckenden Schatten darin, hatten die Müdigkeit zum Feind gemacht. Seine Lippen hatten prophezeit, was passieren würde wenn Kyron den Kampf verlor und die Träume zuließ. Und Kyron selbst wusste was passieren würde, wenn er verlor. Mehr noch, er wusste dass er nicht gewinnen konnte. Wie gewann man schließlich gegen ein Grundbedürftnis, das für das Überleben essenziell war? Niemand konnte ohne Schlaf überleben, nicht mehr als ein paar Tage, und umso mehr er es hinaus zögerte, umso länger würde er träumen, umso länger würde er gefangen sein in dieser Vision einer Zukunft, die er mit Zähnen und Klauen zu verhindern versuchte. Der Gedanke allein krampfte sein Herz furchtsam zusammen.
Kyron schloss die Augen, atmete tief ein und versuchte seinen Kopf zu leeren. Den Sonnenaufgang zu genießen. Die Wärme der ersten Strahlen auf seinem Gesicht zu fühlen, statt sich auf die Finsternis in seiner Brust zu konzentrieren. Für einen Moment, nur einen kleinen, sank er in die milde, frische Stille, die trügerische Wärme des ersten Lichts, den schmeichelnden Wind der jeden Küstenmorgen begleitete...

Der Kessel blubbert fröhlich, der Geruch nach Kürbis, gerösteten Zwiebeln, Braten, mischt sich mit dem Geruch nach Blutwurst, frittierter Leber. Ein Festtagsessen für den Julmond.
Cahiras Schürze ist blutig, befleckt mit den typischen Küchenspuren, ein paar getrocknete Kräuter haben sich an ihrer Wange verfangen und bröseln herab als sie ihm entgegen lächelt.
Ihre Augen sind glasig, zu hell, in die Ferne fixiert, das Lächeln zu breit, zu befreit. Der Anblick lässt etwas in seiner Brust enger werden, sein Herz beginnt zu rasen-

Selbst die Rüstung konnte Kyron nicht ewig aufrecht halten. Das Einknicken seines rechten Knies riss ihn gerade rechtzeitig aus dem Sekundenschlaf, um sich krachend mit beiden Händen an der Böschung hinter sich abzufangen bevor er ungelenk zur Seite kippen konnte. Der diffuse Entsetzenslaut hallte die Erdhänge entlang und wurde vom Nebel gefressen, ebenso wie der harte Galopp seines Herzschlags gegen die Rippen. Das Geträumte verflog wie der Morgentau, langsam und stückweise aber unwiederbringlich, die Müdigkeit schien jedoch fürs erste gebannt.
Was zum Abyss war das gewesen? Wichtiger noch, was hatte ihn daran so verängstigt? Und wollte er wirklich noch einmal Schlaf riskieren um es heraus zu finden?
Mit einem Ruck drückte Kyron sich von der Böschung ab und setzte seinen Marsch fort, zurück gen' Rabenstein. Der Traum würde zurückkehren, sich fortsetzen, früher oder später, unweigerlich wie Ebbe und Flut. Das einzige was er dagegen tun konnte war dafür zu sorgen, dass die Stücke klein blieben, kurz blieben, und er zu betäubt und weggetreten war um sich ihnen wirklich stellen zu müssen. Sandast wäre besser gewesen, aber Honigbrand und Wermuth taten es auch. Soviel zur hart verteidigten Nüchternheit.

"DU WIRST SEHEN."
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#22
Das war mir eine schwere Nacht,
Das war ein Traum von langer Dauer;
welch weiten Weg hab ich gemacht
Durch alle Schrecken, alle Schauer!

Der Traum, er führt' mich an der Hand,
Wie den Aeneas die Sibylle,
Durch ein avernisch dunkles Land,
Durch aller Schreckgestalten Fülle.

Was hilft es, daß die Glocke rief
Und mich geweckt zum goldnen Tage,
Wenn ich im Innern heimlich tief
Solch eine Hölle in mir trage.

~ Ludwig Uhland (1787 - 1862)


Es ist Morgen, Julmorgen. Schnee liegt auf den Bäumen, den Gräsern, dem Dach, verschluckt die unbeweidete Wiese vor dem Fenster und scheint hell im bewölkten Halbdunkel. Genauso gut könnte es Nacht sein, der Winter frisst das Licht wie der Sommer die Feuchtigkeit. Der große, kupferne Kessel in der Küche blubbert fröhlich, ein bauchig-wohltönendes Geräusch wie das Schlagen eines alten, feinpolierten Gongs. Die Luft ist erfüllt mit dem Geruch nach Kürbis, gerösteten Zwiebeln und Gebratenem, aber er weiß dass das Fleisch nach dem Anrösten in den Kessel wanderte. Eintopf, vollmundig und kräftig, um die Winterkälte aus den Knochen zu treiben und den Geist auf das Ahnengedenken und das Insichgehen vorzubereiten. Hunger würde die Gedanken nur ablenken davon, und dieser Eintopf wird für Stunden füllen. Nicht dass dies das einzige Festmahl für den Julmond-Abend wäre. Der eisenhaltige Duft von Blutwurst und in caramellisierten Zwiebeln gerösteter Leber mischt sich unter die Dämpfe, legt sich wie eine appetitanregende Schicht auf den Duft nach frischem, heißem, knusprigem Brot und übertüncht fast den deutlich milderen, zarteren Geruch nach Grießpudding und Apfelkompott. 
Er weiß schon beim Eintreten, dass dies nicht sein Heim ist. Es sieht aus wie sein Heim, die Möbel sind die selben, er weiß auch dass er an den richtigen Ort ging, aber dies ist nicht der Ort an dem er zuhause ist. Cahira rührt summend im Kessel, wiegt die Hüften zu ihrer selbstgeschaffenen Melodie und tunkt den Finger in die Sauce, die in einer Pfanne neben ihr auf der Küchenanrichte auskühlt. Das Summen stoppt kurz, als sie ihren Finger ableckt und einen Genusslaut ausstößt, dann setzt es wieder ein. Emsig und wie in einem Tanz den nur Mütter kennen bewegt sie sich zwischen Topf, Tisch und Küchenanrichte herum, schichtet hier um, schneidet dort klein, zieht wo anders Teller aus dem Regal, und wendet sich erst zum Eingang, als er näher tritt.
Ihre Schürze ist blutig, befleckt mit den typischen Küchenspuren, ein paar getrocknete Kräuter haben sich an ihrer Wange verfangen und bröseln herab als sie ihm entgegen lächelt. "Da bist du ja!" ruft sie glücklich aus und wippt den Kopf zur Seite, die schiere Perfektion ihrer Schönheit unterbrechend um die darunter liegende Perfektion ihres Wesens heraus zu lassen. "Ich dachte schon du würdest zu spät kommen, was hat dich so lange aufgehalten?"
Irgendwo im Hintergrund weint Brynja auf, ein kurzes, unglückliches, etwas heiseres Aufbäumen, das rasch wieder der hörbaren Erschöpfung unterliegt und erlischt.
Die Haut an seinem Rücken ist das Erste, das auf die aufwallende Angst reagiert und sich zusammenzieht, Gänsehaut über seine Schultern und den Nacken schickend. "Ich war im Dienst," spricht er lahm. Eigentlich würde er gerne etwas anderes sagen, aber andere Worte fühlen sich unpassend an, als sei das hier vorgesehen und könne keinem anderen Pfad folgen. Der Geruch des Festmahls klebt sich wie Teer an seinen Gaumen.
"Ich wäre dich holen gekommen, wärst du nicht bald erschienen," spricht Cahira mit scherzendem Tadel in der Stimme. Ihre Augen glänzen zu hell, ihr Lächeln ist zu breit, zu ausdauernd. "Am Julmond sollte die Familie zusammen sein. Umso enger, umso besser. Nun setz dich, setz dich!" Sie wedelt mit einer Hand gen' Tisch und wendet sich gleichzeitig wieder ihren Vorbereitungen zu.
Brynja wimmert erneut, leise und heiser, irgendwo oben.
Stirnrunzelnd wendet er sich vom Tisch ab, ignoriert den Befehl sich zu setzen und erklimmt die Leiter, um das Kind aus dem Gitterbett zu holen. So klein sie ist, sie stinkt zum Himmel, die Windeln durchweicht, das Gesicht verquollen und gerötet von den Mühen des vergangenen Weinens, und kaum dass er sie hochhebt, da beginnt sie ihrem Leid einmal mehr Ausdruck zu verleihen. Erst eine gründliche Reinigung, neue Windeln und die Ruhe in des Vaters Arm können ihrem Elend Einhalt gebieten, also nimmt er sie mit hinab, wiegt sie und wirft Cahira einen schiefen Blick zu.
"Hast du sie nicht gehört?" fragt er die Beschürzte mit leichtem Tadel, der im Gegensatz zu dem ihrigen zuvor nicht im Scherz gemeint ist.
Cahira sieht kurz über die Schulter, betrachtet das schnupfende Bündel in seinem Arm und zuckt die Schulter. Ihre Augen huschen zu seinem Gesicht hoch und sie zuckt die Schultern erneut, während ihr Lächeln milder wird. "Wen denn?"
Ein Knoten bildet sich in seinem Bauch, aber auch in diesem Moment scheint er nicht sprechen zu können was ihm auf der Zunge liegt. Er setzt sich, wiegt das Kind bis es dem Erschöpfungsschlaf anheim fällt, und beobachtet Cahira dabei, wie sie in ernsthafter Prozession einen Topf nach dem anderen zum Tisch trägt, summend, mit leerem Blick, mit standhaftem, reglosem Lächeln.
Erst in diesem Moment fällt es ihm auf.
"Cahira, wo ist Lionel?"

Der Traum reißt ab.
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#23
FSK-18 Warnung: Horror.
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Die Natur ist unbestreitbar sehr lobenswert und sehr ehrwürdig,
aber sie hat schandbare Kinder.


~ Voltaire (1694 - 1778)


Der Sessel wärmt sich unter seinem Hinterteil, umlullt ihn ebenso wie der warme Küchengeruch und das Knistern des Feuers. Er wiegt Brynja in den Armen, das kleine, zarte, weiche Gewicht so bekannt wie sein eigener Leib. Das Mädchen fällt dem Erschöpfungsschlaf anheim, erschöpft von wer weiß wievielen Stunden des Schreiens. Das ist nicht Cahiras Art. Sie ist eine gute Mutter, die beste Mutter, viel fürsorglicher als er selbst es jemals sein könnte. Sein Magen sinkt, aber er beobachtet Cahira dabei, wie sie in ernsthafter Prozession einen Topf nach dem anderen zum Tisch trägt, summend, mit leerem Blick, mit standhaftem, reglosem Lächeln. Eine gute Mutter. Die beste Mutter. Es ist nur ein Ausrutscher, nicht wahr?
Erst in diesem Moment fällt es ihm auf.
"Cahira, wo ist Lionel?"
"Stell die Becher heraus, der Met ist warm," erwidert sie mit einer harschen Kante in ihrer fröhlichen Stimme, klirrend wie die Schellen am Gewand des gehängten Hofnarren. Mit flinken Griffen richtet sie die gebratene Leber an, schichtet zarte caramellisierte Zwiebelchen darum herum und bringt die Teller zum Tisch, nur um kurz darauf mit der Pfanne zurück zu kehren und sorgsam Sauce über das fein geröstete Fleisch zu schöpfen. "Lass es dir schmecken!" zwitschert sie auflächelnd, die fehlenden Metbecher ebenso ignorierend wie seine Fragen. Sie setzt sich auch, allerdings starrt sie ihn so lange an, bis er die Gabel nimmt und zu essen beginnt.
Die Leber ist zart genug, dass sie unter der Gabel zerfällt, Sauce und Caramellgemüse runden es ausgezeichnet ab. Eigentlich müsste es ihm schmecken, aber nach dem ersten Bissen weigert sich sein Magen, weiter zu speisen.
"Cahira. Wo ist Lionel?" fragt er erneut, als wäre die Frage ein Juckreiz, der nur durch das Aussprechen zu stillen ist.
"Nicht hier, das siehst du doch." Cahiras Stimme klingt bockig, und für einen Moment verfinstert sich ihre Miene auf eine Art wie Kyron sie noch nie gesehen hat, ganz so als ob ein anderes Wesen für einen Moment in sie kriechen würde um mit ihrem Gesicht pantomimische Spiele zu vollziehen. Dann kehrt das Lächeln zurück und sie erhebt sich, ihre eigenen Speisen unangetastet stehen lassend.
"Vielleicht doch lieber Gewürzwein statt dem Met? Met passt nicht zur Vorspeise."
Alles geht zu schnell, alles wechselt zu abrupt, zuviele Fragen hängen unbeantwortet im Raum. Er zieht unstet Luft durch die Zähne, drückt die Tochter enger an sich und verliert sich im Chaos seiner eigenen Gedanken, während er versucht sich zu ordnen, zu verstehen was passiert. Cahira bleibt gnadenlos, summt während sie Eintopf in zwei Schüsseln schöpft, einen Topf auf den Herd stellt und Wein hinein gießt. Der schwere Geruch des Getränks flutet den Raum und verstärkt den Schwindel in seinem Kopf noch, lässt ihn etwas zurück zucken als die Eintopfschüssel vor ihm landet.
"Nicht hier, nicht hier, das sehe ich selbst! Wo ist Lionel?" harkt er garstig nach. Brynja quängelt leise in seinem festen Griff und erntet einen sträflichen Blick von der Gattin.
Cahira knetet den Löffel in ihrer Hand mit einem harten Zug um die Wangenmuskeln, verengt die Augen und wirft das Essbesteck zornig in seine Schüssel, wo es nur halb versinkt. Der Eintopf ist zu deftig, zu vollmundig um den Löffel zu verschlingen.
"Es ist Julfest, wir sollten alle zusammen sein. Er wollte lieber mit der Schleuder spielen, und das ist nicht richtig. Nicht richtig, sage ich! Aber ich habe ihn gefunden, und ich habe ihm gesagt, wenn er nicht freiwillig heim kommt, dann zwinge ich ihn. Und nun ist alles gut."
Seine Kehle fühlt sich schlagartig eng genug an, um den Happen der Vorspeise seinen Schlund wieder hoch zu drücken. Das diffuse Gefühl von Panik lässt sein Herz stolpern und seinen Atem schwanken. "Was hast du getan?"
"Ich hole den Gewürzwein."
Der Appetit ist ihm schon lange vergangen, aber die fehlenden Antworten stacheln ihn zusätzlich an. Mit einem Ruck schiebt er die Schüssel etwas von sich fort, harsch genug um den Inhalt zum Schwappen zu bringen. Der Löffel fällt klappernd aus der Schüssel und auf den Tisch, zieht ein paar rötlichbraune Brüheflecken auf den Tisch.
Die Wellen im Eintopf treiben ein einzelnes, aufgeplatztes, gargekochtes Auge an die Oberfläche, wo es zwischen Fetttropfen treibt und gen' Decke starrt.
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#24
O du, vor dem die Stürme schweigen,
Vor dem das Meer versinkt in Ruh,
Dies wilde Herz nimm hin zu eigen
Und führ' es deinem Frieden zu;
Dies Herz, das ewig umgetrieben
Entlodert, allzurasch entfacht,
Und, ach, mit seinem irren Lieben
Sich selbst und andre elend macht.

Entreiß es, Herr, dem Sturn der Sinne,
Der Wünsche treulos schwankem Spiel;
Dem dunkeln Drange seiner Minne,
Gieb ihm ein unvergänglich Ziel;
Auf daß es, los vom Augenblicke,
Von Zweifel, Angst und Reue frei,
Sich einmal ganz und voll erquicke,
Und endlich, endlich stille sei.

~ Emanuel Geibel (1815 - 1884)

Kyron schrak hoch, verspannte sich und warf sich zur Seite, erbrechend noch während er aus der Heilerliege stürzte. Die flink vorgezogenen Ellebogen hielten ihn davon ab, in die Pfütze aus Tee und Weidenrindenextrakt zu fallen, aber der Gestank klammerte sich trotzdem an seine Nase und seinen Rachen und brachte seinen Magen dazu, wiederholt hart zu krampfen. Die Schmerzen der unzähligen Schakalbisse blühten nur träge wieder auf, ein Hintergrundrauschen das von der elenden Angst mühelos übertönt wurde.
Japsend stieß er sich ab, rollte erneut zur Seite und kam mit einem mühevollen Ächzen auf dem Rücken zum Liegen, das Zittern in seinen Gliedern seine eigenen Wege gehen lassend während er sein Bestes gab, die Augen nicht erneut zu schließen. Eine Angst wie diese, knochentief und stark genug um seinen ganzen Leib mitzureißen, hatte er seit Jahren nicht mehr empfunden; umso heftiger brannte die Abscheu gegen sich selbst durch seinen Leib. Es war nur ein Traum, nichts als ein Traum, und doch war es, als könne er diese spezifische Vision nicht mehr aus seiner Erinnerung tilgen. Zwischen all den Nachtmahren und Albträumen war dieser der Schlimmste seit langem, und der Erste der sich in dieser Form an seine Familie herangewagt hatte. Träume über Foltern, vergangen und zukünftig, über die Zerstörung der Welt, die Vernichtung seiner Freunde oder gar den Tod seiner Familie waren nicht ungewöhnlich, aber sie hatten schon lange ihren Biss verloren. Dienten zu nichts anderem als dem Ansporn, seinen Meister weit von seiner Familie fern zu halten, zu trennen, niemals die Konzentration zu verlieren, niemals die Wachsamkeit fahren zu lassen, sich anzustrengen, immer in Alarmbereitschaft zu sein...
Es hatte so gut funktioniert, und nun war nichts mehr sicher und all die Selbstbeherrschung zerstört.

"Du sollst sehen, was die Zukunft bringt, was ich sehe. Was unvermeidlich geschehen wird."

Die Schmerzen kamen endlich, fraßen endlich an Angst und Schrecken und erinnerten ihn an das heiße, entzundene Fleisch und die Pein die all das Rollen seinem Leib auferlegten. Hundebisse. Schakalbisse, oder wie auch immer man es nennen wollte. Kein Weg führte an den Entzündungen vorbei, auch wenn sie mit sorgsamer Reinigung und Aufmerksamer Behandlung, Tee gegen das Fieber und Bettruhe gut behandelt werden konnten. Niemand - am allerwenigsten Kyron selbst - hatte angenommen, dass er am Tag nach der Schlacht quietschfidel aus dem Bett springen würde, aber in der aktuellen Lage waren im nur zwei Optionen zur Auswahl gestellt worden: Pest oder Keuche, das Bett mit all den Albträumen, oder der Kampf und das Risiko einer Verschlimmerung der entzundenen Bisse.
Für ganze zwei Herzschläge lang schloss Kyron die Augen und versuchte sich zu sammeln. Die Erinnerungen an den Traum kamen sofort, trieben ihn mit einem Aufzischen schwankend auf die Beine und ließen seinen Atem und sein Herz davonhetzen, während er um sein Gleichgewicht focht. Schwärze pendelte an seinen Augen vorbei und nahm der Hohenqueller Heilerstube ihre Farben, nur um sich langsam und ebbengleich wieder zurück zu ziehen und sich in seinem Hinterkopf auf die Lauer zu legen.
Die Wahl wurde für mich getroffen. Ganz wie früher.
Die Schwere verließ seine Glieder nicht einmal dann, als er die Rüstungsteile fertig eingesammelt hatte, die Verbände straff zog und sich in die Schienen- und Plattenteile zwängte, aber jeder stechende Schmerzmoment trieb die pechschwarzen Erinnerungsblitze weiter zurück in sein Unterbewusstsein. Die Arbeit des Aufrüstens trieb ihm den Schweiß aus den Poren und den Gestank nach altem Blut aus seinem krustigen Gambeson. Die Mischung aus Schmerz, geschlagenem Metall, Schweiß und Waffenöl beruhigte sein Herz wie ein alter Bekannter, aber der Weg die Treppen hinab trieb im dennoch die Luft aus den Lungen. Ein Glück, dass die Heilerin in diesem Moment nicht neben seiner Liege gelauert hatte; sie hätte ihn vermutlich nicht nur geschimpft, sondern auch mühelos zurück ins Bett verfrachtet, so zittrig wie seine Glieder sich gerade anfühlten. Erst die kühle Nachmittagsluft vermochte es ihm etwas seiner Lebenskraft zurück zu verleihen, und er nutzte den Kraftschub für eine zügige Flucht vom Ortskern weg.
Die Rüstung scheuerte gegen seine verbundenen Wunden, ließ ihn bedächtig aber stetig voran schreiten, das Mittelmaß zwischen zuviel und zuwenig Schmerz bedächtig auslotend bis er ein Tempo gefunden hatte, das seinen Ansprüchen gerecht wurde. Was wenn der Meister recht hatte? Was wenn Lionel seine ganze Familie gefährdete, unbeabsichtigt und unfreiwillig, aber eben doch? Kyron wusste dass sein Sohn keinen bösen Knochen im Leib hatte, aber dasselbe galt auch für Cahira, und die hatte sich trotzdem einen Ehemann angelacht, der nur aus bösen Knochen bestand. Konnte Kyron also wirklich davon ausgehen, dass schiere Unschuld alles Böse fernhalten konnte?
Nein. Natürlich nicht. Cahira und er waren das beste Beispiel dafür, dass den unschuldigsten Wesen die schlimmsten Schicksale auferlegt wurden. Gemessen an ihrer Vergangenheit würde also das prophezeite Elend genau in ihr Schicksal passen. Der krönende, widerwärtige Abschluss eines Dramas, das vollkommen überflüssig war und nur entstehen hatte können, weil er - Kyron - darauf bestanden hatte, alle Warnungen in den Wind zu schlagen und aus schierer Selbstsucht jemanden wie Cahira an sich zu binden. Und nun saßen sie alle fest, ineinander gefangen wie ein galatischer Knoten.
Kyron ballte die linke Hand bis der Schienenfäustling gegen die Bisswunde drückte. Der Schmerz war unvermittelt, scharf und pochte bis tief in seine Knochen, aber er vereinnahmte auch seinen Verstand, befreite ihn von den dunklen Gedanken. Natürlich würde er Cahira nicht verlassen, dafür war es viel zu spät. Der Brei war bestellt, gekocht und gegessen worden, also würde er nun auch die dreckigen Reste annehmen müssen. Verließ er sie nun, würde er sie von nichts bewahren, vor nichts beschützen, im Gegenteil. Er würde sie mit der drohenden Dunkelheit alleine lassen, schutzlos ins Fegefeuer werfen das er selbst erzeugt hatte.
Es blieb nur ein Weg, und selbst der war alles andere als verlockend. 
Hör auf zu jammern. Du windest dich wie ein alter Aal am Haken, dafür ist immer noch Zeit wenn tatsächlich nichts anderes mehr hilft. Fürs Erste kannst du immer noch andere Wege ausprobieren. Du hast noch zwei Monde Zeit.
Zwei Monde noch, dann war das Julfest da. Und in diesen zwei Monden musste er es schaffen, Lionel so weit wie möglich von seiner Mutter fern zu halten. Und von seiner Schwester. Und von der Klinge. Von allen, die seinen Kräften anheim fallen konnten. Er würde es schaffen. Er würde den perfekten Grund finden, immerhin kannte Cahira bereits die wichtigsten Details, war mit ihm übereingekommen darüber, dass der Junge gebändigt werden musste, gelehrt werden musste. Wenn das mehr Zeit als üblich in Anspruch nahm, wer konnte schon sagen ob das normal war oder nicht? Und Lionel würde Patroullien sicherlich zumindest für eine Weile genießen, würde sich freuen darüber lange Ausritte machen zu können, in der Waffenkammer spielen zu dürfen, geheime Spiele mit seinem Vater zu spielen, mehr vom Land zu sehen. Er würde sich fühlen wie ein Mann statt ein kleiner Junge der an seiner Mutter hing. Zumindest im besten Fall. Alles was Kyron dafür tun musste war wachsam bleiben, konzentriert bleiben, vorausschauend agieren, niemals die Aufmerksamkeit ablenken von seinem Tun, in Kontrolle bleiben,...
Mit einem heiseren Auflachen schwankte er über die provisorischen Planken und auf die andere Seite der Frontlinie. 
Nicht mal du selbst glaubst dir das.
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#25
When that light goes out this eve
Some will run and some will grieve
If you have a reason
Or if you believe
In darkness we trust

Sweet release is all we need
Unless, of course,
It's covered in greed
I am not a watchman, I do as I please
In darkness we trust

The whores and gentlemen they lead
Trails of insecurities
I am not a watchman, I do as I please
In darkness I trust

Deadly Circus Fire - In Darkness we Trust


Klein und still. Glatt und kalt. 
Der Schleifstein wisperte feucht sirrend über die Klinge des Schwertes. Es hatte Tage der Übung benötigt bis Kyron den Trick erlernt hatte wie er den Stein führen musste, um keinen Moment in Stille zu verbringen. Weitere Tage hatte er dafür aufgewandt, den Klang des Steins gegen den Damaststahl zu formen und zu vollenden, sodass aus dem Auf und Ab ein gleichmäßiges, weißes Rauschen wurde, ohne Anfang und ohne Ende. Ideal um die Stille zu töten.
Manch einer mochte vermuten, dass der Moment des Verlustes einer Rebellion mit entweder dem vollkommenen Zusammenbruch einhergehen musste, oder aber dass in diesem Moment des Verlierens eine Form von Leichtigkeit einzutreten hatte, nun wo man keine Last mehr selbst zu tragen hatte. Als wären Lasten, Gefühle oder Befindlichkeiten unerzogene Jagdhunde, die man mit der Rute zur Räson konnte. Vielleicht war es tatsächlich die Art, wie andere Menschen mit einem Rückschlag umgingen, einen Vergleich zu sich selbst konnte Kyron nicht finden. Im Gegenteil.
Die Erinnerung des Anblicks einer ertrinkenden Ratte in der Regentonne des Gasthauses seiner Mutter war das Einzige, was ihm zu sich selbst in den Sinn zu kommen vermochte; das arme Tier war geschwommen bis es erschöpft gewesen war, aufgegeben hatte. Kyron hatte ein Stück Holz hinein geworfen, zu ängstlich um das Tier zu retten, zu schuldig um fort zu schreiten und das Tier seinem Ende zu überlassen. Kaum hatte das treibende kleine Floß die Ratte berührt, da war wieder Leben in sie gefahren, und sie hatte weitere Minuten strampelnd und angestrengt damit verbracht, auf dem viel zu kleinen Holz Platz für ihren Leib zu suchen, bis die Erschöpfung ein weiteres Mal zugeschlagen hatte. 
Fünf Stücke Holz später war die Ratte schließlich ertrunken. Seine Mutter hatte sie mit einer Holzschöpfkelle aus der Tonne gefischt und auf den Müll geworfen.
Ratten. Sie verfolgten ihn schon seit seiner Kindheit. Was damals ein aufbauendes Bild gewesen war, nämlich dass es immer einen Weg gab um weiter zu kämpfen, selbst wenn er winzig, klein, glatt und unzureichend war, das hatte sich mit den Jahren gewandelt. Die Ratte im Wasserfass hatte er schon lange übertrumpft. Wo das Tier sich fünfmal aufrappeln hatte können, da hatte er sich fünf Jahre lang aufgerappelt, wieder und wieder, egal wieviel Blut in den Stein geflossen war. So oft, dass es nun beinahe schockierend war, den üblichen Antrieb nicht mehr in der Brust zu verspüren, den rebellischen Funken umsonst zu suchen, den eigenen Kopf flüchten zu wollen, nicht etwa weil die eigenen Gedanken so laut waren, so furchterregend, nein.
Kyrons Kopf, seine Brust, Herz, waren leer. Nicht die Art von Leere, die so manchen über eine Klippe springen ließ, das wäre unwürdig gewesen. Eher die Form der Leere, die man in Nortgards Bergen im Tiefwinter vorfand. Absenz von Antrieb und Begründung.
Er konnte natürlich heim gehen und sich Herz und Kopf mit Cahira und den Kindern füllen oder von Kordians unerschütterlichem Antrieb zehren wie ein Blutegel vom Blut eines Hirschs, aber...
Mit einem Lippenkräuseln sah Kyron auf seine stillen Hände hinab. Mit dem Ersterben des durchdringenden Schmirgelns waren auch seine Gedanken erstorben. Leere konnte so fürchterlich laut sein. Sie wurde nur noch leerer wenn er in die Gesichter jener sah, die bereits tot waren und es nur noch nicht wussten. Isabelle würde ihn melodramatisch schimpfen, würde sie ihn solche Worte aussprechen hören, aber es beschrieb sein Gefühl am Besten. Immerhin hatte er sie alle an den Tod verkauft und sich selbst damit freigehandelt. Nicht wirklich frei natürlich, das war nicht möglich. Aber wo er zuvor ein Stein zwischen Hammer und Amboss gewesen war, unerschütterlich das Eine vom Anderen fern gehalten hatte, da war er nun kaum mehr als der feine Staub zu dem der Stein über die Jahre zerschlagen worden war. Ein feister Atemzug des Meisters hatte ihn restlos aus dem Weg geblasen, hinaus in die Leere.
Irgendwo im Schwarz das hinten in seiner Brust wohnte spielten sich immer noch die Szenen dessen ab, was der Meister mit seinem Sohn anstellen würde. Kyron wusste zwar nicht wie der Meister mit Kindern umging, aber anhand der eigenen Erfahrungen hatte er sich ein recht klares Bild zusammen gesponnen. Es malte keine rosige Zukunft für sein Fleisch und Blut aus. Dieser Gedanke daran, was der Meister mit dem zarten Jungen anstellen würde, wie wenig Mensch am Ende von seinem kleinen, liebenswürdigen Sohn noch übrig wäre, hatte ihn immer wieder zwischen die Fronten getrieben. Wider die stetigen Hammerschläge von des Meisters Wille, wider des nervösen Flatterns von Seiten seiner Frau, die das Ausmaß der Tragödie bis heute nicht kannte und auch nie kennen würde, wenn es nach Kyrons Wille ging. Wider der Vernunft und wider des Verstandes. Widerstand in seiner reinsten Form.
Und nun war er gebrochen, der Widerstand.
Kyron nahm die Schleifbewegungen wieder auf, suchte und fand den stetigen Rythmus und das weiße Rauschen, hüllte sich darin ein. Vielleicht würde die Leere sich wieder füllen, wenn der Meister schließlich erschien und den Jungen einpackte, Cahira in seinen Bann zog, seine Familie mit sich nahm. Vielleicht würde er dann wieder etwas fühlen. Zu spät zum Schwimmen, zum Paddeln, zum Klammern an ein Stück Holz war es allemal.
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#26
Ich weiß, an wen ich glaube,
Ich weiß, was fest besteht,
Wenn alles hier im Staube
Wie Staub und Rauch verweht.

Ich weiß, was ewig bleibet,
Wo alles wankt und fällt,
Wo Wahn die Weisen treibet,
Und Trug die Klugen hält.

~Ernst Moritz Arndt (1769 - 1860)


Lionel weinte. Er weinte häufig dieser Tage, fort von seiner Mutter' wachenden Augen, heimlich, weit draußen im Thalwald wo keiner ihn dabei beobachten konnte außer sein Vater.
Kyron stand abseits, geduldig und reglos wie ein Wachmann am Stadttor, die Augen mitleidlos auf den Hinterkopf des Jungen gerichtet. Nur die vage Erinnerung daran, wie hart die Gefühlswelt eines Kindes es an manchen Tagen zu reiten vermochte, fütterte seine Geduld mit weiterem Feuerholz, hielt ihn dort, hielt ihn reglos, hielt die Reitgerte in seinem Stiefel, wo sie auf schlechtere Zeiten wartete.
Die Ziege an ihrem Pflock meckerte halblaut, als würde sie ihre Langeweile zu sich selbst sprechen, und knabberte an ein paar vergilbenden Buchenzweigen.
"Ich kann nicht! Ich will nicht!"
Die Bubenstimme klang verquollen und heiser, müde vom langen Kampf gegen des Vaters gleichmütigen und unerschöpflichen Willen. Kyron seufzte tonlos und regte sich endlich wieder, Knie knackend nach dem langen Verharren. Zielstrebig wanderte er an dem schniefenden Jungen vorbei, ließ sich von der gelangweilten, übermütigen Ziege anrempeln, und legte ihr die Hand auf den Kopf. Ein letztes Blöken, dann erklang ein dumpfes Klopfen und das Tier brach in sich zusammen, Blut aus Augen, Ohren, Mund, Nase tröpfelnd.
Lionels Schluchzen wurde wieder lauter, dann rannte er näher und schlug mit seinen kleinen Fäusten auf Kyrons Oberschenkel ein. "Wieso hast du das gemacht! Die Ziege hat dir nichts getan! Du bist gemein! Nein, böse! Mutter würde weinen wenn sie das sehen würde!" plärrte er aufgelöst, durchbrochen von Schniefen, Schluchzen, Schluckauf und dem dumpfen Pochen von Schlägen gegen massives, schwarzes Blech. Wo seine Fäuste trafen, da brannten sich kleine Knöchelabdrücke durch die Rüstung hindurch in seine Haut, eine feurige Spur von belebender Pein. Teufelshände, gleich zwei davon, Höllenfeuer gleich in ihrer Hitze.
Kyron ließ in gewähren, selbst als er die Brandblasen aufplatzen und die hervorgereizte Flüssigkeit seine Lederhose tränken fühlte. Lionel war nur ein Kind. Er wusste nicht was er tat, konnte nicht beherrschen was seine Gefühle hervorbrachten, und wenn sich dieser ungeübte Zorn jemals gegen seine Mutter richtete, würde er daran zerbrechen. Zu jung, viel zu jung für solch starke Mächte. Kyron hingegen kannte den Schmerz, konnte ihn über sich waschen lassen ohne eine Miene zu verziehen, selbst wenn ihm die Augen zu tränen drohten. Er würde dem Kind keine weitere Last auf die Seele legen. Pein war ein alter Freund.
"Ich sagte dir, die Ziege muss sterben. Wir werden sie heim bringen, damit deine Mutter-"
"Ich will das nicht essen, es ist böse! Du hast sie mit dem Bösen berührt! Ich hasse dich! Ich will dich nie wieder sehen!" Und dann rannte er, stolperte unstet über Äste und Wurzeln in seiner Flucht, und verschwand zwischen den Bäumen.
Ein guter Vater wäre ihm nachgelaufen, hätte sicher gestellt dass er sicher daheim ankam. 
Kyron war kein guter Vater.
Er folgte den Spuren langsam, behäbig, die Ziege auf der Schulter tragend während er sich auf das scheuernde Brennen seiner Kleidung gegen die Brandwunden konzentrierte. Herrliche Folter, belebendes Elend, das messerscharfe Stechen des Lebens. Ein Glück dass Lionel die Außenseite seines Schenkels bearbeitet hatte, denn an anderen Stellen hätte er die Verletzungen wohl kaum vor Cahiras Augen verbergen können. Ein weinendes Familienmitglied war genug für diesen Tag, denn nichts trieb seiner Frau schneller die Tränen in die Augen als die Erinnerung daran, dass ihr Kind nicht gänzlich normal war.
Zugegeben, es war eine harte Lektion die er seinem Kind zumutete, aber sie war notwendig. Überlebenswichtig. Wäre Lionel ein Erwachsener gewesen, Kyron hätte nicht gezaudert die Reitgerte einzusetzen um die Lektion nicht nur in den Kopf sondern auch den Leib zu prügeln. Gefühle töteten. Hexer töteten. Daran führte kein Weg vorbei, keine Abkürzung, kein noch so guter Wille. Das weichste Herz, die wohlste Gesinnung, konnten das Feuer des Abyss, den Rausch der Korruption, nicht fernhalten. Weiche Herzen mussten mit Absicht, Berechnung und ruhiger Entschlossenheit gebrochen und gehärtet werden, bevor es ein unglücklicher Streit oder ein plötzlicher Schrecken im schlechtesten Moment tun konnte. Mitleid mit seinem Sohn würde früher oder später zu einer toten Ehefrau oder einer entstellten Tochter führen, und was dann? Wie sollte er seinem Kind dann erklären, dass er nicht früher etwas unternommen hatte?
An den Ausläufern des Hofes angekommen warf Kyron einen Blick um sich. Der einstündige Heimweg hätte Lionel eigentlich genügend Zeit geben sollen um sich wieder zu fassen, aber von dem Jungen war keine Spur zu sehen. Nicht dass es eine Rolle spielte, inzwischen konnte Lionel sich zuverlässig gegen kleinere Angriffe wehren. Dennoch, die verdächtige Abwesenheit seines Sohnes bedeutete, dass er aufgewühlter war als Kyron erwartet hatte. Und dass er ihn suchen müssen würde, bevor Cahira bemerkte dass er ohne das Kind zurückgekehrt war.
Er lud die tote Ziege in den Händen des Kindermädchens ab, schöpfte etwas eisiges Wasser aus einem Regenfass um seinen Durst zu löschen, und wandte sich seufzend wieder dem Wald zu. Er würde Lionel finden und beruhigen müssen, bevor er Abends zu seinem Treffen mit der Natter aufbrach. Ihn daran erinnern müssen, wie wichtig es war dass Cahira nichts von den Lektionen unter den alten Thalwaldbuchen erfuhr. Dass er sich zusammenreißen und die Tränen und Trauer aus dem Gesicht wischen musste, damit keine weiteren Unglücke passierten. Die Aussicht auf dieses Gespräch, mehr als alles andere an diesem Tag, hinterließ einen fahlen Geschmack auf seiner Zunge. Und die Frage, wie dieser Tag sich wohl angefühlt hätte, wäre er nicht zerbrochen.
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#27
Frag' mich nicht um mein Geheimnis;
Laß mich's tragen ganz allein,
Bis es wie ein stiller Funke
Wird erstickt in Asche sein.
Rein und klar ist dein Gemüte,
Und der Himmel lacht es an:
Laß mir meinen trüben, wilden,
Stumgepeitschten Ocean.

Frag' mich nicht um mein Geheimnis;
Senke deiner Augen Strahl;
Nimm von meiner armen Seele
Der Versuchung süße Qual:
Mehr als alle Lorbeerkränze,
Die der Weise sich erwirbt,
Gilt dem Himmel eine Thorheit,
Die noch ungeboren stirbt.

~ Viktor Blüthgen - Bitte

Scham war ein überraschend unbekanntes Gefühl.
Kyron lehnte sich leise ächzend zurück, bis die Steinwand hinter der Bank ihm Stütze bot. Der Schneeklumpen schmolz langsam und schmerzhaft gegen die blutverkrustete Haut seiner gebrochenen Nase, fütterte das missgünstige Pochen in seinen Schläfen, und wusch die letzten verklebten Zeugen seiner Niederlage aus seinem verbeulten Gesicht. Gegen den Schmerz konnte der Schnee allerdings nur wenig ausrichten. Von seinem geknickten Stolz nicht zu sprechen.
Das hin und wieder an seinem Hals kratzende Auflachen hätte das Stechen in seinem Gesicht nur noch verschlimmert, aber es zu verbeißen war eine Mühe, die zunehmend ihre Bedeutung verlor. Warum nicht über sich selbst lachen? Kein Titel, kein Wappenrock dieser Welt konnte letztendlich vor Fäusten oder offenen Schulden retten. Hatte er wirklich geglaubt, seine Vergangenheit sei mit einem geordneten Leben nichtig und abgeschlossen? Torheit, alles Torheit. 
Torheit hatte ihm die gebrochene Nase eingebracht, und die aufgeplatzte Braue. Vom Schmerz im verrenkten Arm gar nicht erst zu sprechen. Alte Instinkte ließen sich schwer unterdrücken, und jedes Zaudern hatte ihm eine weitere Schwachstelle eingebracht. Schwachstellen, die Tarol ohne ein Wimpernzucken ausgenutzt hatte.
Du hattest den Dolch schon in der Hand, du Idiot. Warum konntest du nicht einfach zustechen und mit der Vergangenheit abschließen?
Und nun saß er hier, verkrochen im Gardehaus, kühlte die kaputte Nase und überlegte fieberhaft, wie er seine Blessuren vor Cahira verstecken konnte. Sie würde Fragen stellen, er würde antworten. Er konnte nicht anders, nicht wenn die Prügelei so offensichtlich sein Gesicht zerrte. "Bin in einen Fahnenmast gerannt" würde in diesem Fall nicht einmal den besoffenen Angus überzeugen. Und es war auch weniger das verbeulte Gesicht, das ihn besorgte, als vielmehr, wer es ihm verbeult hatte.
Es half nichts. Früher oder später würde er nachhause gehen müssen. Sich sozusagen der Musik stellen. Oder eher Cahira's vergrämtem Gesicht. Gerade wenn er das erste Monster abgeschüttelt hatte, kam das nächste aus dem Gebüsch gesprungen. Dennoch, besser Tarol als der Meister. Tarol würde kein spezifisches Interesse an seinem Sohn haben, außer um ihn als Druckmittel gegen Kyron zu benutzen. Mit Druckmitteln konnte Kyron umgehen, eine deutlich gewohntere Situation. Und Tarol würde auch keine Flüche oder Zauber spinnen, um seine Lehren zu erteilen; er würde einfach losziehen und Gewalt säen. Physikalische Gewalt. Eine einfachere, deutlichere Sprache.

Die letzten Klumpen Schnee tropften aus seinen Fingern. Kyron schüttelte die Hand aus, wischte sie am Wams ab und drückte sich hoch. Es war Zeit, keine Ausflucht mehr übrig. Mit wenigen Schritten war er am Schreibpult, zückte ein Blatt Papier und die Schreibfeder, und krakelte drei Worte. Er betrachtete sein Werk, knurrte Leise und setzte seine Unterschrift darunter.
Draußen heulte der nächtliche Sturm, halb eisig, halb zu warm. Morgen würden die Straßen matschgetränkt sein. Kyron schlitterte vorsichtig hinüber zur Taverne, zog morastige Fußspuren quer durch den Schankraum, und hinterließ ein paar Brocken Straßendreck auf den Treppen hinauf zu Isabelle's Unterkunft. Einmal mehr las er den Zettel. Scheiße. Dann faltete er ihn, schob ihn unter der Tür hindurch und floh.

Dorkalon Tarol ruft.

~Kyron
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#28
Eisiger Wind pfiff durch die kahlen Bäume, krallte über die fensterlosen Säulen und bröckelnden Wände des Baronsanwesens und zerrte an Kyrons gefüttertem Überwurf. Nicht dass er dort viel ausrichten konnte, denn durch die dicke Plattenrüstung, den Gambeson und das Hemd darunter konnte nicht einmal ein starker Regenguss hindurch kriechen. Die Wangen jedoch bekamen den Zorn der Dämmerung zu spüren. Kyron drehte den Kopf ein wenig, gerade genug um den Wind so abzuleiten, dass er die Gugel nicht von seinem Kopf riss, und verfolgte die Linien des alten Gemäuers mit stählernem Blick.

"Sie sagten, sie hätten eigentlich nach mir gesucht."

Nichts regte sich, kein Schatten kroch durch die Finsternis, kein Kribbeln über seinen Nacken. Zumindest nicht hier draußen. Nicht mehr, seitdem das Gebäude von seinem alten Fluch befreit worden war. Nicht mehr, seit Anouk die alten Schatten gehoben hatte. Nicht mehr. Bis heute. Ein Kitzeln im Kieferknochen ließ ihn die Zähne zusammenbeißen und er setzte sich ruckhaft in Bewegung. Ruckhaft, aber nicht überhastet. Nicht kopflos. Mit dem Schritt über die Schwelle nahm auch das Beißen des Windes ab, ersetzte jedoch die Kälte nicht mit Wärme. Schwere, nasse, kühle Luft schlug ihm entgegen, hin und wieder nervös zitternd wenn der Wind durch einen Riss oder ein gebrochenes Fenster den Weg ins Innere fand, aber größtenteils konfus auf der Stelle bleibend.
Kein Risiko. An jedem Türstock blieb er kurz stehen, warf einen Blick um die Ecke und bewegte sich erst dann tiefer, die Sohlen so leise absetzend, wie es jemand in voller Platte möglich war. Zugegeben, ein Dieb würde er nie werden, aber für eine versteckte Untersuchung der Ruine reichte es gerade so aus.

"Sie sagten, sie wollten mich den Zweiundzwanzig opfern."

Der moderzerfessene Holzboden im ersten Stock knackte und knarrte unter seinem Gewicht, sank hier und da ein und bog sich andererorts bedrohlich durch, aber es war nicht sein erster Ausflug in das Gemäuer. Im Sommer schien alles stabiler, vertrauenswürdiger, fester, aber auch im Winter wusste er, wo die Stützbalken verliefen, wo er die Füße aufsetzen durfte, und wo eben nicht.
Eine sorgfältige Untersuchung brachte allerdings... nichts. Niemand hier. Die Ritualparaphernalia fort, verstreut, weggewischt, bevor ein wissenderes Auge einen Blick darauf werfen konnte. Alle Spuren verloren, keine verdächtigen Stofffetzen, Fußabdrücke, Notizzettel mit einem Geständnis. Nicht, dass Kyron allzu große Hoffnungen gehabt hatte, aber jeder verdiente es, einmal überrascht zu werden. Sein Tag war es allerdings nicht.

"Sie hatten irgendwelche Tiernamen."
"Katzen?"

"Natter und Wildkatze."

Seine Zähne knirschten unter dem mal wachsenden, mal schwindenden Druck seiner zuckenden Kiefermuskeln. Das violette Unlicht des Abyss kroch wie von selbst durch seine Augen, färbte die Ströme und Windungen der Unterwelt auf Erden, und ließ doch nichts als einen fahlen Nachgeschmack von... Etwas... in der Luft. 
So hübsch. So verdorben. So gefährlich.
Sie waren nicht mehr hier. Hatten das Weite gesucht, alle beide, kaum dass Anouk sie aufgeschreckt hatte. Heillose Flucht, den letzten zuckenden Fäden von Korruption nach. Und die Spur riss im Wald hinter dem Anwesen ab, verschluckt von den Windungen und Wellen der Natur. Und der Götter. Es würde ihnen nichts helfen, nicht in diesem Fall. So schnell konnte die Wahl des falschen Opfers, des falschen Ortes, der falschen Worte, zum Untergang führen, und so schnell zeigte sich, wer ein Rehkitz war und wer nicht. Beinahe taten sie ihm leid.

"Sie wollten sie opfern. Und sie hatten diesen Stein."

Beinahe. Nicht wirklich. Nicht mit dem pulsierenden Wummern des Blutsteins in seiner Gürteltasche. Er hatte Anouk nicht verschrecken wollen, hatte sie höflich darum gebeten, den Stein auszuhändigen, aber der Drang, ihn ihr aus den Fingern zu reißen, war beinahe übermächtig gewesen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hatte sie den fahl glimmenden Stein zur falschen Zeit am falschen Ort mit sich getragen. Nicht auszudenken. Diese dummen Gören.
Rage erhob ihren hässlichen Kopf und schärfte sich die Zähne an seiner Kehle, biss zu, schüttelte. Kyron streckte die Hand aus, zog an der nächstbesten Wand eine Spirale in das Moos, und schloss die Augen als das Biest in seinem Kopf jaulend und kläffend wieder in die Tiefen seiner Brust verschwand.
Dies war kein Moment für kopflose Rage. Kein Moment für Empörung. Mit einem leisen Ausschnauben blätterte sein Verstand durch die schier unendliche Sammlung an Emotionen, wog ab, verwarf wieder und wählte schließlich kalten, kontrollierten Zorn aus. Die Erinnerung an den Wachtmeister in Lilienbruch, der seinen Hund mit einem scharfen Tritt in den Hintern davon abhielt, ein spielendes Kind zu beißen, wehte einer alten Spinnwebe gleich durch seinen Verstand und ließ sich dort nieder.
Kyron rollte den Kopf bis sein Nacken knackte und atmete schwer aus. Ja, so würde es sich bewältigen lassen. So würde er sich davon abhalten können, sie kurz und klein zu schlagen. So würde er der Frage auf den Grund gehen können:

Warum bei allen Niederhellen hat das Klüngel beschlossen, sich die Götter zum Feind zu machen?
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#29
Ich möchte nicht auf einem weichen Bette
Mit Gott und der Welt versöhnt den Geist verhauchen:
Der schöne Bürgertod, die sanfte Schlummerstätte
Kann wenig nur für Tunichtgute taugen.

Auch möcht ich nicht den Tod des Wüstlings sterben,
Der ungern, angstzerquält von hinnen geht,
Verzweifelt, – und verflucht von armen Erben,
Krampfhaft sich klammernd an ein Reugebet.

Ich möcht als Krieger blutverspritzend sterben,
– Im Feld der Ehre nah' der letzte Hieb! –
Und sterbend noch um Ruhm und Lorbeer werben,
Umwogt vom Klange, daß ich Sieger blieb!

~ Ludwig Scharf (1864 - 1938) - "Tode"

Die Begegnung mit Wildkatze kam unerwartet und in einem Moment, der unglücklicher nicht sein konnte. Sich mit einer blutenden Wunde am schmerzhaftesten Punkt der Achsel gegen jemanden zu behaupten, der selbst beim Anblick einer solchen Brutalität nichts als vergnügten Spott auf den Lippen trug, stand nicht unter einem guten Stern. Aber was konnte er tun? Was er sich an Rage gegenüber Dor'kalon nicht leisten hatte können, das kroch nun umso stärker unter seine Haut, peitschte ihn voran, die Wut an einem hilfloseren Opfer auszulassen. Fraß sich voll an dem stechenden Schmerz, der bei jedem Atemzug durch seinen Leib kroch und boshaft lachend an seinem Herz kratzte. Und die Belohnung kam mit ihrem Fall zu Boden; lebendiger konnte man sich nur im Moment des Todes fühlen.
Die Wunden schmerzten. Von den linienförmigen Prellungen, die die zweihändige Axt an seinem gepanzerten Leib hinterlassen hatte, bis zu den Dolchwunden an seinen Armen, den Kratzern in seinem Gesicht. Selbst die Versorgung durch die Vogtin und Isabelle hatten am Schmerz nur mäßig rütteln können, und in einem finsteren Teil seines Verstands war Kyron glücklich darüber. Unwissentlich hatte Wildkatze's Widerstand, ihre blutige Reaktion auf seinen Einschüchterungsversuch, beflügelt, was zuvor schläfrig und schüchtern geruht hatte. Schmerz befreite den Verstand von unnötigen Gedanken, Sorgen, Zweifeln. Schmerz belebte, was Kyron für tot gehalten hatte. Und stärkte Dor'kalons Griff an seinem Nacken.
Dor'kalon kannte das Tier, das in Kyrons Brust schlief. Er hatte keinen Versuch gewagt, ihn von seinem Opfer fernzuhalten. Hatte im Hintergrund gewartet, bis der Sturm vorbeigezogen war. Keiner konnte in der Seele eines Mannes lesen, wie Dor'kalon. 
Er wäre ein großartiger Druide gewesen. So war er ein großartiger Manipulator.

Schon als Wildkatze wild schimpfend davon gestürmt war, hatte Kyron die missgestimmte Anspannung in Dor'kalons Gesicht gesehen. Keiner der Beiden hatte über die dunkle Vorahnung ein Wort verloren, dass Dor'kalon ohne großes Gelächter einstimmte, zumindest eine der Wunden gleich zu verarzten, war Zeichen genug. Es war nicht vorbei, nicht an diesem Abend, noch nicht.
Ein kleiner Teil in Kyrons Kopf jubelte. Vielleicht würde es Natter anlocken und ihm die Suche ersparen.
Ein anderer Teil wisperte von der Vergangenheit und wie oft er dem Tod von der Schippe springen hatte müssen. Davon, dass das Glück irgendwann auslaufen würde.
Als nicht nur Natter, sondern auch Axt erschienen waren, hatte Kyron angenommen, dass der Tag gekommen war. Die Weigerung von Beiden, Worte statt Waffen zu kreuzen, hatte die Vorahnung nur bestätigt. Und sein Versuch, sich den Beiden alleine zu stellen, war ebenso dem Pech erlegen. Oder dem Glück, denn hätten sie Kyrons Angebot wahrgenommen, sich nur mit ihm zu schlagen, hätten sie wohl gewonnen. 
Es musste das fette, friedliche, harmlose Leben gewesen sein, das die Gruppe selbst im Angesicht ihrer Niederlage noch große Worte schwingen hatte lassen, aber auch die Mordrohungen, die Kriegserklärungen, die Beschimpfungen, konnten nichts an der Situation ändern. Und der Gedanke daran, dass sie gewonnen hatten, gegen Axt und eine erfahrene Schülerin bestanden hatten, wärmte Kyrons Brust, wo der Blutmangel mit Kälte lauerte.
Kyron blickte zu Isabelle hinüber und schmunzelte matt. Ein Sieg machte noch kein Schicksal. Natter musste noch in ihre Schranken gewiesen werden. Und gemessen daran, wie das Klüngel auf Wildkatze's Maßregelung reagiert hatte, würde es nicht gut enden. Gar nicht gut. Das Schmunzeln wurde zu einem scharfkantigen, verzerrten Grinsen.
Wann hatte Kyron jemals einen Gedanken an Konsequenzen verschwendet?
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#30
[Ich bin] ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. ...
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär's, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.

Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832)

Alles schmerzte.
Kyron sah dem grauen Schemen von Meister Axt hinterher, bis er zwischen den frühlingskahlen Bäumen verschwand. Erst als der verkrampfte Rücken von der Nacht geschluckt wurde, sackte er etwas zusammen und erlaubte sich einen atemlosen Schmerzlaut. Die Dolchstiche wummerten einen spöttischen Takt, während die Prellungen an seiner Seite boshaft gegen seine Lunge drückten, das Atmen erschwerten, und fast mochten die alten Erinnerungen an seine Zeit in der Grenzwache wieder aufblühen. An die Wunden, für die keine Zeit gewesen war. An das Fieber, das ihn auf seinem nächtlichen Wachposten geschüttelt hatte. An den deliriumsgleichen Taumel, in dem er Korndieben nachgestürzt war. Niemand konnte ihm vorwerfen, er hätte jemals seine persönlichen Befindlichkeiten über seine Pflicht gesetzt. Niemand. Immerhin war es das, was Dor'kalon letzten Endes angelockt hatte. Starrsinnige Loyalität, Wahrheit selbst dann, wenn es Kyrons Untergang bedeutete. 
Der Treuste unter deinen Dienern.
Kyron hatte den höchsten Schwur nur einmal gehört, aber einmal hatte ausgereicht. Es waren grausige Worte, zumeist mit einem grotesken Lächeln rezitiert, von einem Menschen, der dem Tod näher gekommen war als er dem Leben jemals sein konnte. Nicht Dor'kalons, dessen Schwur weit vor Kyrons Erscheinen besiegelt worden war, aber es fiel leicht, sich seine Stimme vorzustellen. 
Bis zu jenem Moment hatte Kyron noch jugendlichen Leichtsinn zelebriert. Es alles für ein Spiel gehalten. Für eine Möglichkeit, aufmüpfig und anders zu sein. Doch Belehrung war die grausigste Leere. Nun hallten Dor'kalons Wahrheiten, Worte, Versprechen wieder klar wie Glockenschläge durch Kyrons Kopf, und er stellte mit leisem Schrecken fest, wie wenig all sein Ringen und Kämpfen an seiner Situation geändert hatte. Die Zeit drehte sich im Kreis und fand ihn erneut an dem Flecken vor, an dem er seine Reise begonnen hatte: Alleine auf weiter Flur, in vorauseilendem Gehorsam Probleme lösend, die noch nicht ganz auf die Welt gekommen waren. Schmerzerfüllt. Verwundet. Missgestimmt und unruhig. Ziellos.

Die Abmachung mit Axt lag wie ein klebriger Verband auf seinen Sorgen und konnte das leise Wispern in seinem Kopf nicht völlig ersticken. Wenn sich etwas wie Verrat anfühlte, wie Intrige roch und wie Hintergehen klang, dann trafen wohl alle drei Worte darauf zu. Dass Dor'kalon seine Erklärungen mit völliger Gelassenheit hinnahm und ihn am Ende gar lobte, war schlimmer, als es ein Fausthieb gewesen wäre. Brachte seine Entschlossenheit zum Wanken, bis er auf die Knie sacken und um Vergebung betteln wollte, nur um dieses Gefühl loszuwerden. Es kratzte an seinem Geist wie ein rauher Wollüberwurf, mehr und mehr und mehr bis er die Faust durch eine Wand rammte, lange als Dorkalon in den nächtlichen Gassen verschwunden war.
Führungslos und auf sich allein gestellt wusste Kyron selbst, wie selbstzerstörerisch und unberechenbar er war. Wie schlecht seine Entscheidungen waren, wie kurzsichtig seine Taten. Ohne Anker warf er sich lachend in den Strudel. Und dennoch war er allein. Alle verschwanden, niemand gab seinem Zorn Form und Leben. Niemand spendete ein Ventil für den Aufruhr in seiner Brust. So zivilisiert, so abgebrüht waren sie, einer wie der andere. Und Kyron selbst blieb nichts, als hilflos unter dem zunehmenden Brodeln in seinem Kopf einzusinken, mehr und mehr.
Das alte Zucken im Wangenmuskel kehrte zurück, während Kyron die blutige Hand in einem Eimer Brunnenwasser kühlte. Ging Dor'kalons kalt taktische Berechnung soweit, dass er diesen Moment vorhergesehen hatte? War es ein Schachzug? Zufall? Nichts als harte Realität, die er nicht akzeptieren wollte? Vielleicht eine Prüfung seiner Ernsthaftigkeit, seiner Vertrauenswürdigkeit. Eine Prüfung, die er nicht bestehen würde, wie er sie in der Vergangenheit nicht bestanden hatte. 
Das Wasser färbte sich pink und trübe, die Knöchel stachen unter der Kälte und die Blutungen erstarben. Kyron beließ die Hand länger als notwendig im Eimer, ließ den Schmerz durch den Aufruhr in seinem Kopf wüten wie Morrigu durch eine Horde Bauern. Erst als die Finger weißlich wurden und jegliches Gefühl aus ihnen gefahren war, zog er sie zurück und rollte den Nacken, sog die urin- und fäulnisschwangere Winterluft tief in seine Lungen. Die Verspannung wollte nicht ganz weichen, aber ein paar der Wirbel gaben nach, sprangen scharf knackend zurück an ihren Platz.
Und die Rage brodelte weiter, gekühlt aber nicht vertrieben. Der Feind von innen würde zurückkehren, früher oder später.
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