Schatten einer Sturmkrähe
#1
Reglos stand Sirran am Flussufer, den Blick in die fernen Marschländer gerichtet. Trotz der lauen Nacht fröstelte ihm, so als könnte ihn die Wärme nicht wirklich erreichen. Es war ein absonderlicher Zustand, gleich einem Fiebernden der, in Decken gehüllt, dennoch friert. Der Wind umspielte sein Haar, doch es kümmerte ihn nicht weiter. Sein Körper war im Moment unwichtig im Vergleich zu seinem Geist, mit dem er sich nun zu beschäftigen hatte. Die Kälte, die ihn ergriffen hatte und nun, nicht zum ersten Mal, hier an die Grenze trieb schien ihn nicht mehr ohne weiteres loszulassen. Dereinst war er aufgebrochen, um seine geliebte Myranna zu finden, bis ihn schicksalshafte Umwege hier in den Süden getrieben hatten. Es quälte ihn, nicht zu wissen, wo sie war und ob sie überhaupt noch lebte… Seine Hände begannen zu zittern, sodass er sie zu Fäusten ballte, um die Kontrolle über seinen Körper wiederzuerlangen.
Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn aufhorchen, doch musste er sich nicht umdrehen, um zu wissen wer es war. Schon seit langem hatte er mit ihrem Erscheinen gerechnet, so wie an jenem Tag vor etwa fünf Jahren einfach in sein Leben getreten war. Damals wusste er noch nicht, was sie war – inzwischen glaubte er, es besser verstehen zu können – und war, unbedarfter Narr der er damals war, ihrem Rat gefolgt, ohne auch nur daran zu denken, dass sie ihre eigenen Pläne haben könnte. Das letzte Mal hatte ihn ihr Fingerzeig fast das Leben gekostet und ihn, so schien es, weiter denn je von seiner Myranna fortgetragen. Dennoch spürte er, dass sie ihm noch viel mehr zu zeigen und zu sagen hatte – und er hatte auf die Gelegenheit gewartet, sie wiederzusehen und zur Rede zu stellen. Als sie nahe genug heran war, stellte er die brennendste seiner Fragen: "Warum…?"


Am nächsten Tag wanderte Sirran wieder einmal ziellos durch die Straßen Löwensteins, in der Hoffnung jemanden zu finden, der ihn für seine Dienste bezahlte… Menschen, die seiner Talente bedurften gab es wahrhaft genug im Süden, es schien – neben anderen Wirrnissen und Krankheiten der Seelen der Einwohner Servanos – eine regelrechte Narrenseuche umzugehen. Wie zu erwarten war, waren die wenigsten einsichtig. Der Schutzmechanismus, irgendeine Betroffenheit zu leugnen war manchmal fast schon bewundernswert, zumal er hier im Süden scheinbar nicht nur auf die eigene Krankheit, sondern auch die des Umfelds ausgeweitet erschien. Die meisten leugneten gar, dass Mitbürger einer Behandlung bedurften, wenn die Symptome offensichtlich waren. Dementsprechend waren noch weniger Menschen bereit, ihn für seine Dienste zu bezahlen, sodass er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt.
Das Gespräch mit der Sturmkrähe in der letzten Nacht war gelinde gesagt beunruhigend gewesen und hatte tiefe Ängste in ihm geschürt. Ängste, die er selbst sich ebenso wenig eingestehen wollte, wie die Löwensteiner die Bedürftigkeit ihrer Leidensgenossen. Sie las ihm in den Knochen, dass sie womöglich nicht gegen ihren Willen fortgebracht wurde, wie er stets angenommen hatte, sondern dass sie fortgelaufen war, weil er ihr nicht das Leben bieten konnte, das sie sich ersehnte. Dass sie einen anderen gefunden hatte… Unvermittelt musste er innehalten und Halt an einer Straßenlaterne suchen, so sehr grub sich die Angst in seinen Körper. Seine Sicht verschwamm einen Moment, ihm wurde übel. Nein, es musste gelogen sein. Es war nur ihre Interpretation der Dinge, geboren aus ihrem Neid – es war sicherlich nicht die Wahrheit… Oder?
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