FSK-18 Der erste Schritt
#1
Wieder einmal saß er nachdenklich auf dem Schemel in dem kleinen, dreckigen Gastzimmer, das er nun schon seit fast einem Monat bewohnte und betrachtete die dicke weiße Kerze, die vor ihm auf dem schwarzen Stofftuch stand – ein ebensolcher Kontrast wie auch die zahlreichen roten Linien und Tropfen auf der Kerze. Schwarz – weiß – rot… Trauer, Unbeflecktheit, Liebe, zusammengeführt auf einem kleinen Tischchen inmitten der größten Stadt, die er bislang zu Gesicht bekommen hatte. Kurz huschte ein Schatten über sein Gesicht bei dem Gedanken. Er hasste Löwenstein mit all seiner Politik, seiner Falschheit und seinen Intrigen. Bislang war er noch keinem einzigen ehrlichen Menschen begegnet – ja nicht einmal der Klerus Mithras schien hier in diesem Pfuhl den Anschein der lichten Reinheit behalten zu haben. Nun, es würde vieles einfacher machen, wenn das wahre Antlitz der Kirche unter ihrem Deckmantel durchschimmerte.

Wieder ließ er den Blick über das Tischchen wandern. Schwarz… Neben Trauer auch Inbegriff alles negativen, der Schwermut, der Einsamkeit… der Angst. Richtig gewählt jedoch auch Würde, Eleganz und Kreativität. Ein Element, dass sich auch zur Verstärkung aller Emotion heranziehbar war.
Der Blick wanderte ein wenig nach oben, zum Ansatz der weißen Kerze, Reinheit, Vollkommenheit, Licht… Es verwunderte ihn stets aufs Neue, dass die Diener Mithras die Farbe des Zorns als die ihre wählten, um sich dem Volk zu zeigen – nein, es verwunderte ihn eigentlich nicht: Es war eine Botschaft, bestimmt für diejenigen Auserwählten, die das wahre Wesen Mithras erkannten. Ein kleiner Scherz, wenn man so wollte, der allen erst dann offenbar werden würde, wenn es für die Menschheit zu spät war. Mithras, Gott des Zorns, des Kampfes, der animalischen Gelüste. – Wieder zwang Kyrthon seine aufwallenden Gedanken zur Ruhe und konzentrierte sich erneut auf das unbefleckte weiß am Fuß der Kerze. Es war Inbegriff der Erhabenheit, der Spiritualität und Tugend – wie wundervoll war das Geschenk seines Meisters gewesen, das ihn auf ewig als Vorstreiter dieser hehren Ziele zeichnete!
Sein Blick wanderte weiter zum rot – der Farbe des Blutes, des verzehrenden Feuers, des Kampfes und der Wut. Freilich war es keine bösartige Farbe… Bösartigkeit war den Menschen vorbehalten. Es war auch die Farbe der Liebe, des Mutes und der Entschlussfreudigkeit. Ihre Unbeständigkeit war äußerst gefährlich, konnte man doch jederzeit in die anderen Aspekte abdriften und sich darin verlieren. Doch diese große Gefahr barg auch große Macht, wenn man sie sich zu Nutze machen konnte. Bewundernd verfolgte Kyrthons Blick die verworrenen Muster des Rots… Rot gezeichnet vom Blut dreier Menschen. Seines war freiwillig und aufopfernd gegeben worden, das der anderen zwei jedoch aus purem Eigennutz. Eine schmutzige Emotion, die er bereinigen musste, bevor ihre Auswirkungen sich auf ihn entluden.

Am Docht angelangt wanderte sein Blick langsam den gleichen Weg wieder nach unten… Wenn die Zeit reif war, würde er die Kerze abbrennen. Zunächst würde die Flamme das gemischte Blut erfassen. Die anderen beiden waren bereits verbunden, doch dann würde auch er, als dritter Teil der Mischung, diesem Bund beitreten. Auch, wenn die Effekte ihn selbst ebenso beeinflussen würden – sein Geist würde rein und gewappnet sein um seinen wahren Willen zu erhalten, dafür würde er sorgen. Das Weiß der Kerze diente als Träger des Ganzen, sie sollte die Leidenschaft zügeln und ihm erlauben, die Seelen seiner Ziele zu bereinigen. Schließlich, wenn die Flamme das schwarze Tuch erreichen würde, war der kritische Moment gekommen, in dem er den Zustand der Reinheit wieder füllen würde. Wäre er unkonzentriert, würde er ihre Seelen mit verschlingender Trauer, Einsamkeit und Schwermut füllen… Er selbst würde zwar vermutlich einigermaßen unbeschadet davonkommen, solange sein Schutz wirkte, die anderen beiden aber… Doch daran wagte er nicht einmal zu denken. Sein Meister hatte ihn auf diese Mission gesandt und er würde nicht erneut scheitern. Er brauchte die Beiden, oder zumindest einen von ihnen – aber es war immer besser, einen Alternativplan zu haben. Er musste die verstärkende Eigenschaft fokussieren, wollte er sein Ziel erreichen. Würde alles gelingen, so wären all die negativen Gefühle, die sie gegen ihn hegten derart geschwächt, dass sie von den positiven Gefühlen überlagert werden würden – und dann würden sie in ihm das sehen, was er war: ein alter Freund, der ihnen helfen und sie beschützen würde – der aber auch ihrer Hilfe bedurfte, die sie ihm dann nur zu gerne geben würden, wann immer er sie benötigte.

Kurz wanderte sein Blick aus dem Fenster durch welches das schwache Mondlicht hereinfiel. Bald schon war es so weit, bald würde das Mondauge verschwunden sein. Und dann war sein Moment gekommen. Er hoffte sie würden schlafen, wenn es geschah. Das würde es wesentlich einfacher machen… Kyrthon spürte die kribbelnde Aufregung – es würde das erste Mal sein seit seiner Bestrafung, seit seine Kräfte beschnitten wurden. Was würde wohl dabei herauskommen?
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#2
Inzwischen hatte er alle Paraphernalien zusammengetragen, es blieb also nur ein Schritt zur Vorbereitung: Die Schöpfung jenes Schutzgegenstandes, welcher ihn selbst vor dem Ritual bewahren würde. Um seinen Geist der Wahrheit zu verbinden, würde ein Krähenfuß der zentrale Fokus sein, umwickelt von Bleidraht, um die Effekte der Magie von ihm abzuleiten. Nach Fertigstellung des Talismans würde dieser drei Tage und drei Nächte lang in Salz gereinigt werden und während des Rituals würde er ihn schließlich als Amulett um den Hals tragen.

Bald würde der Mond völlig verschwunden sein und bis dahin würde auch er selbst bereit sein… Drei Tage lang vor dem Ritual trank er nur mehr klares Quellwasser und nahm nur von menschlichem Einfluss unberührte Lebensmittel zu sich, wenn er überhaupt aß. Täglich vor Sonnenaufgang reinigte er seine Füße und Hände mit Salzwasser und fokussierte seinen Geist in der Meditation.

Ja, bald schon würde es soweit sein. Ein kribbelndes Gefühl der Vorfreude machte sich in ihm breit.

[Bild: 1765a1-1434163763.jpg]
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#3
In der vergangenen Nacht…

Endlich war der Neumond gekommen - die Nacht des Neubeginns, ideal für seine Zwecke. Mit Axts Hilfe hatte er einen geeigneten Ort gefunden, an dem er das Ritual ungestört vollziehen konnte: Ein Talkessel, nur über verschlungene Pfade erreichbar, und sicherlich kein Ort, der nächtliche Besucher anlocken würde. Kyrthon, nur in eine leichte Robe gehüllt, war gerade dabei den letzten Abschnitt der Vorbereitungen abzuschließen und das ganze nochmals im Schein des fast heruntergebrannten Lagerfeuers in der Nähe eingehend zu betrachten.

In der Wiese hatte er einen großen, drei Schritt durchmessenden Kreis aus Salz gezogen – es sollte dabei jeglichen verunreinigenden Einfluss auf die Sendung abhalten. Innerhalb hatte er drei Finger breit ein Hexagramm aus weißem Kreidestaub gezogen, dessen Ecken die Innenseite des Salzkreises berührten. Das Hexagramm sollte die Sendung ermöglichen, stand es doch für das Prinzip der Verbundenheit von „oben“ und „unten“: Alles was sinnbildlich im Ritualkreis geschah, würde mit der Sendung auch ans Ziel außerhalb gelangen. Die weiße Kreide war dabei Sinnbild für den unbefleckten, reinen Ausgangspunkt des Rituals, welcher später mit der Emotion befüllt werden würde. Das Hexagramm war nach Westen hin angelegt - der Richtung der Emotionen - und ausgehend von dort befanden sich abwechselnd eine Räucherschale mit Schlafmohn - dessen Wirkung den Effekt der Sinneswandlung fördern würde – und eine dicke schwarze Kerze als Symbol der geplanten Verstärkung der Emotionen. Im exakten Mittelpunkt des Hexagramms schließlich befand sich die blutbefleckte Kerze auf ihrem schwarzen Tuch stehend, welche sowohl Anker für die Sendung, als auch Symbolisierung des Rituals war. Flankiert wurde sie von zwei Kugeln aus Katzengold, welche den Täuschungseffekt verstärken sollten und zwei Stück Papier, auf denen – als bloße Vorsichtsmaßnahme - jeweils der Name Cahiras und Kyrons geschrieben waren. Nach einem kurzen Blick gen dunklem Nachthimmel legte er seinen Überwurf ab, sodass er bis auf den abschirmenden bleiumwickelten Krähenfuß völlig nackt war – ein weiteres Sinnbild der Reinheit.

Langsam hob er einen glimmenden Holzspan aus den Resten des Lagerfeuers und trat damit ins Innere des Kreises, wo er ausgehend von Westen zunächst die Räucherschalen entzündete. Worte waren zunächst unnötig, ja wären sie sogar störend dabei, seinen Geist frei von jeglichen Emotionen zu halten. Als er die erste Runde beendet hatte, verneigte er sich gen Westen, den mit Schlafmohn versetzten Rauch tief inhalierend, während er sich daran machte die schwarzen Kerzen zu entzünden, stets darauf bedacht in den Ecken des Hexagramms zu bleiben. Erst als alles brannte trat er, den Geist erweitert und rein, in das Innerste des Hexagramms, wo er sich vor der entscheidenden Kerze im Schneidersitz niederließ, um einige Herzschläge lang die Augen zu schließen. Als er sie wieder öffnete, hob er die Kugeln aus Katzengold auf, je eine in jeder Hand und sprach mit leiser, doch fester Stimme: „Seelen Yaq’Charybs, erhört mein Rufen, bleicher Lord Yaq’Charybs, gewähre mir Kraft.“ Der Flammenschein der Kerzen tanzten über seinen nackten Oberköper, während der Rauch ihn milde umstrich: „Seelen Yaq’Charybs, erhört mein Rufen, bleicher Lord Yaq’Charybs, gewähre mir Kraft.“ Langsam schien sich der Rauch zu verdichten – beinahe so, als würden sich vage Gestalten darin verbergen. „Seelen Yaq’Charybs, erhört mein Rufen, bleicher Lord Yaq’Charybs, gewähre mir Kraft! Seele soll Seele verbunden sein, ich beschwöre euch! Nehmt meine Gaben an und schafft die Brücke zu Cahira Mendoza. Nehmt meine Gaben an und schafft die Brücke zu Kyron Mendoza.“ Mit diesen Worten entzündete er die blutbefleckte Kerze vor sich, um zunächst die beiden Papier mit den Namen darin zu verbrennen. „Seele soll Seele verbunden sein, ich beschwöre euch! Nehmt meine Gaben an und schafft die Brücke zu Cahira Mendoza. Nehmt meine Gaben an und schafft die Brücke zu Kyron Mendoza.“ Der Rauch schien den Salzkreis inzwischen gänzlich zu umgeben, so als wäre er just in diesem Moment an einem gänzlich anderen Ort, umgeben von den kreuchenden Schatten, leise raunende Stimmen drangen an sein Ohr. Ruhig hielt er die brennenden Papierstücke, bis sie sich in Asche verwandelt hatten, wobei er Hitze und Schmerz aus seinem Geist verbannte. „Seele soll Seele verbunden sein, ich beschwöre euch! Nehmt meine Gaben an und schafft die Brücke zu Cahira Mendoza. Nehmt meine Gaben an und schafft die Brücke zu Kyron Mendoza.“ Das Blut allein war zwar schon mehr als ausreichend als Anker, doch mit Hilfe der Namen konnte er die Stabilität der Verbindung noch stärken. Schweigend, doch hochkonzentriert verharrte er wieder, den Blick in die Flamme der weiß-roten Kerze vor sich gerichtet, wobei er die tanzenden Schatten am Rand des Kreises schlicht ignorierte, wie sie ihm lockend zuriefen.

Als die Kerze bis zur entsprechenden Stelle heruntergebrannt war, hob er erneut beschwörend die Hände mit den Kugeln aus Katzengold. Innerlich machte er sich bereit, das umfassende Gefühl der Verbundenheit und Zuneigung hervorzurufen, das er über die Brücken senden wollte. „Seelen Yaq’Charybs, tragt ihnen zu, was in meinem Geist steht. Seelen Yaq’Charybs, pflanzt die Saat in ihren Herzen.“ In diesem Moment loderten die Flammen aller Kerzen zischend höher, zuckten mal hier mal dorthin, während sich das träge Wabern der Schatten in einen hektischen Tanz verwandelte. „Seelen Yaq’Charybs, tragt ihnen zu, was in meinem Geist steht. Seelen Yaq’Charybs, pflanzt die Saat in ihren Herzen.“ Das leise Raunen und Flüstern steigerte sich zu einem Heulen an, gleich einem tosenden Sturm. „Seelen Yaq’Charybs, tragt ihnen zu, was in meinem Geist steht! Seelen Yaq’Charybs, pflanzt die Saat in ihren Herzen!“ Gerade als er die letzte Wiederholung intonierte, etwas lauter als die ersten beiden Anrufungen, berührte die Flamme das schwarze Tuch und erlosch mit einem Zischen – gemeinsam mit den anderen drei Kerzen und den Räucherschalen. Zurück blieb einzig allein die Stille und die Erschöpfung… Nachdem er mehrmals tief durchgeatmet hatte erhob er sich, wobei er die zu Asche zerfallenen Kugeln aus Katzengold zu Boden rieseln ließ, und verneigte sich tief gen Westen. „Gepriesen sei der Lord Yaq’Charybs, der Meister auf beinernem Thron. Mein Leben und mein Tod gehören Dir - Ich existiere, um als Dank für Deine Gnade Deinen Willen zu vollbringen.“
Schließlich hob er den Blick wieder, um sich umzusehen… Es mussten wohl beinahe zwei Stunden vergangen sein, die er auf dem Boden sitzend verbracht hatte. Bald würde sich zeigen, ob seine Bemühungen von Erfolg geprägt sein würden. Aus bernsteinfarbenen Augen blickte er sich nach seinen Kleidern um…
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