FSK-18 Bevor ich sterbe
#1
Exclamation 

Wie viele Ohrfeigen hält ein Gesicht aus? Wieviel Speichel benötigt man, um darin zu ertrinken? Wie viele reife Feigen sind notwendig, um jemanden damit zu erschlagen?
Ich empfinde keine Freude mehr, kein Leid, keine Angst, nur noch Schmerz.
Eine Klinge die sich in mein Fleisch frisst, ein Fausthieb in mein Gesicht, Schläge die mein Blut zum Wallen bringen, diese Dinge zeigen mir dass es noch nicht zu spät ist, dass mein Schicksal mich noch nicht begraben hat, und der Geschmack des Blutes auf meiner Zunge lässt mich voller Überzeugung sagen "Ja, ich lebe noch!"

Wenn der Mensch von seiner gesamten Umgebung hintergangen und enttäuscht wurde, sucht er instinktiv nach einem letzten Hort des Vertrauens, der Zuneigung. Diesen Hort stellte ein Mann für mich dar, und als er dann tatsächlich auftauchte, war ich mir sicher dass alles wieder gut werden würde.
Nichts ist gut.


Wandelmond 1402

Schon seit Stunden saß Shae nun schon auf dem Balkon am Bauernhof, fast bewegungslos, gestreichelt von der würzigen Meeresbrise, beruhigt vom Rauschen des direkt angrenzenden Walds, gewiegt vom Zwitschern der Vögel, die ihr Schlaflied sangen.
Ihr Beisein in Guldenach war lange vorbei, ihre Anwesenheit in Galatia niemals nötig gewesen. Niemand war schwer genug verletzt worden in den wenigen Jahren die sie dort verbracht hatte um ihrer überaus spezifischen Hilfe zu bedürfen, und auch sonst war sie wohl zu nichts anderem nötig gewesen als um als Kriegsgeisel herzuhalten. Alles hatte nicht mehr gebracht, als dass sie beinahe alles verloren hatte... ihren Status, ihre Sicherheit, ihr Kind, ihren Lebenswunsch.
Doch nicht nur dieser Fehler, den einzusehen sie tatsächlich Monate gekostet hatte, sondern auch andere Faktoren hatten sie zurück in das Land fern der Heimat, das Reich der Amhraner, zurück in die Abgeschiedenheit von ihrer Familie getrieben.
Der Druck, den die stets misstrauischen Druiden der Inseln auf sie ausübten, war einfach zu gross geworden, sie konnte und sie wollte sich dem nicht mehr aussetzen. Lieber verließ sie ihre kleine Welt und begann sich endlich wieder auf ihr eigenes Fortkommen konzentrieren. Nur wenn sie mit ihrer Vergangenheit Frieden schloss, konnte sie sich besinnen, zur Ruhe kommen, ihr Gleichgewicht wiederfinden.

Endlich Ruhe... endlich schlafen... schlafen, nur schlafen bis ich nicht mehr kann… Nur eine Frage trennt mich vom Seelenheil, vom Schlaf.

Leise seufzte sie, räkelte sich in dem schlichten schwarzen Aufzug - ein lockeres, schulterfreies Leinenhemd, ein schwarzer Faltenrock, und die stets treuen roten Flecken in Form von Mieder und Kopftuch - welcher ihre blanke Haut umschmeichelte, und zum ersten Mal seit langer Zeit konnte sie befreit aufatmen.
Wie lange hatte sie nun schon selbst im Bette ihre Lederrüstung getragen? Es mussten schon dutzende Monate sein.. wenn nicht schon Jahre! Soviele Kämpfe, soviele Nahtoderfahrungen, soviele Momente, die sie für ihre letzten gehalten hatte, und sie alle waren wie ein Wink der Götter gekommen und gegangen, hatten sie hart gemacht, hatten sie misstrauisch gemacht, und verschlagen.
Doch auch mit den offenen Kämpfen war nun erst einmal Schluss. Was sie suchte, was ihr Herz begehrte, das war nicht durch ein Bieten der Stirn zu erreichen, nein. Schach, oder das Sperlingsspiel, jene Beschäftigungen glichen eher den Dingen die sie beabsichtigte.

Und zwischen ihr und ihrem Ziel, da stand eine Frau. Shae schmunzelte.
Es ist Zeit, anzufangen.
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#2


27. Wandelmond 1402

Roter Mond...kehrt zurück... Freudentanz... auf ins Glück... Sieh mein Herz... Feuersqual... brennt vor Schmerz... leuchtet fahl... Wo bin ich?... es ist kalt... Qualen machen vor nichts halt... Bin allein... in der Nacht... soll es sein?... Einsamkeit macht...

Liebe


Da war sie wieder, diese verfluchte, wispernde, scheue, abartige, hallende, kleine Stimme, die irgendwo aus dem Dunkel in Shae's Herzen drang und mit seinen Reimen jeden einzelnen Nerv in ihrem Körper aufglühen ließ. Die Umgebung war verschwommen, kaum mehr als der unbeachtete Hintergrund eines Traumes, und noch während Shae um ihren Verstand rang und versuchte, den Irrsinn in ihr zum Schweigen zu bringen, schwang die Türe der einsamen Hütte fern der Zivilisation hinter den zwei Schemen zu. Sie blieb in der Finsternis der Frühlingsnacht zurück, umgeben von zögerlichem Grillenzirpen.
Es war nicht schwer gewesen, einen Apfel mit ihrem Blut zu benetzen, zu verzaubern und an das Ross zu verfüttern, das so unbeachtet und unbewacht vor dem Stall angebunden war. Pferde liebten Äpfel. Es war nicht schwer gewesen, der unsichtbaren Spur zu folgen, die Kordians Pferd hinterlassen hatte. Schwer war es allerdings, ihn mit der Landsfrau in der Hütte verschwinden zu sehen, und zu wissen, dass all die Schönrederei und die naive Hoffnung, er würde für den Rest seines Lebens Junggeselle bleiben, natürlich nicht zutraf. Nach allem was geschehen war, war Kordian eben doch nur ein Mann, kein Leichnam und keine Statue.
Ein pochendes Bohren breitete sich in ihrem Kopf aus, klopfte gegen ihre Schläfen und drückte gegen ihre Augen, bis sie vor Schmerzen zurück in die Gebüsche torkelte, sich gerade noch an einem Baum abfangen konnte.

Sieh nur, er verlässt dich wieder... Ooooch, arme Brut, wirklich, ein wahres Pech. Und immer, immer wieder passiert dir dies, schon auffällig, nicht wahr? Langsam solltest du dir ernsthaft überlegen ob es nicht doch an dir selbst und nicht an dem Fluch liegt, dass alle Reissaus vor dir nehmen... Bring sie einfach um, dann ist all die Qual vorbei.

Der Schmerz ließ nach, kaum dass sie sich weit genug in die Wälder zurück gezogen hatte, und mit dem Verschwinden der Qual bleckte Shae die Zähne gen’ der Nacht. Sie töten, sie umbringen, alle beide, das war ihr für einen Moment auch durch den Kopf geschossen, als sie die Runen geworfen hatte, ja. Der Gedanke hatte angehalten bis zu dem Moment, als die Runen gefallen waren, und sie all die Zeichen des Zögerns und Zauderns, der Erschwernis und der Mühe aus ihnen lesen hatte können. Kein endgültiges Urteil war zu lesen gewesen, mehr der natürliche Verlauf einer jungen Beziehung, die keine besonderen Schicksalsschläge aufwies. Nichts, was als Hand der Götter ausgelegt werden konnte und sie zusammenschweißte, nur… normales Leben. Zuneigung. Der eine oder andere Stolperstein dazwischen, aber sonst nichts. Nicht das sie Blut lecken hätte lassen, nichts was ihr Feuer zusätzlich erhitzen konnte.

Nur ihrer beider Speichel in ihrem Beutel war Shae’s Belohnung für die Tat, und diesen drückte sie nun eng an sich. Der Meister, den sie in diesen Landen endlich - nach Jahren des Suchens - gefunden hatte, würde den Kopf schütteln über ihre Trickserei, aber Shae war zufrieden. Lange würde der Speichel seine magische Wirkung nicht behalten, das wohl, aber lange genug um die Zeichen der Götter zu schicken.
Vielleicht war da die eine oder andere Sache, die sie ihrem Meister noch zeigen konnte, und das sollte seine Bezahlung für seine Hilfe sein.

Gedenke der Toten, Kordian, und erzittere!
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#3

1. Wonnemond 1402

Es war nicht leicht gewesen, den perfekten Ort für ein Versteck in dem Gestrüpp des Gebirgswalds ausfindig zu machen. Entweder die Harpien, oder aber Wölfe oder ein verirrter Bär hatten sie wieder und wieder verjagt, gezwungen ein bereits gefundenes Loch aufzugeben, und langsam war sie das nächtelange Herumkriechen leid. Nun, vor ein paar Jahren hätte sie es eher als würdelos empfunden, aber ging sie genügend weitere Jahre in die Vergangenheit, vor die Zeit als sie Status und Rang und Ruhm gehabt und wieder verloren hatte, konnte sie sich an eine Zeit erinnern, in der sie frohlockend ein paar Dutzend Schritt gesprintet war, um in eine Erdgrube zu hechten bevor verwirrte, mit Sprengtränken versehene Ziegen mit einem letzten Meckern in die Luft geflogen waren.

Glorreiche Zeiten. Damals war Dreck noch Dreck, und ehrliche Spionage etwas wert.

Und heute war der perfekte Ort für ein Versteck… eine alte Schubkarre aus Holz, vor Jahren schon umgestürzt, kurzzeitig Heim für eine Familie Marder, und nach kleinem, hartem Streit mit der blassen Frau nun frei für einen neuen Mieter. Marder geröstet hatte eine widerliche Wildnote, aber der Karren war gerade groß genug, um mit wenig Schaufeln darunter Platz zu finden.
Genau unter dieser Schubkarre saß Shae nun, spickte durch einen schmalen Schlitz hinaus in die blasspinke Dämmerung, und unterdrückte ein Niesen. Das verdammte Gebilde hatte ein besseres Echo als die Löwensteiner Theaterbühne, und natürlich war kein Platz mehr für wärmende Kleidung gewesen, also hatte sie die letzten fünf Stunden in absoluter Kälte verbracht.
Wie lange sie diesen Zustand noch dulden müssen würde, hing ganz von der Bewohnerin der Hütte ab, und die ließ sich an diesem Tag Zeit. Shae hatte es nicht riskieren können, zu prüfen ob nur sie, oder er und sie in der Hütte waren, aber das war auch unnötig. Er verließ ihr Heim meist als Erster, eifrig und eilig bereit seinen Zinnsoldatentag anzutreten, schön im Gleichschritt hinter seinem kleinen Servanoer Titusherzog her. Wie gutbürgerlich er geworden war! Vom anarchistischen Anführer und Kriegsherren zum… Leutnant. Noch nicht einmal Hauptmann oder General, nein, die berühmte zweite Fiedel. Shae konnte an seinem Gesicht ablesen wie sehr er es hasste, mit jedem Lächeln, jedem Schlendern, jedem Moment den er sinnlos herumstand und sich insgeheim fragte, welchen Lebenszweck er überhaupt noch erfüllte... Er musste seine Zähne überaus stark abnutzen, so wie er sie täglich zusammenbeißen und knirschen musste. Der Löwe hinter Gittern, der nur darauf wartete, dass sein Bändiger unaufmerksam wurde. Es würde ein Blutbad werden, eine Ehre für die Götter.

Hoffentlich stirbt er dabei nicht. Aber sein Schicksal sagt, dass er nach mir sterben sollte. Oder sagte… wer weiß was die Fäden inzwischen gewoben haben.

Der Meister war nicht sehr freigiebig mit Informationen über die Eisenthaler, verständlich bei der kurzen Zeit, die sie sich kannten, aber ein paar der allgemeinen Fakten hatte Shae doch herauskitzeln können. Die Namen der Offiziere, welche von Kordians Gefolgsleuten den Weg zurück gefunden hatten, alltägliche Gesprächsthemen und derlei Ähnliches. Über grüngewandete Räuber machte Shae sich keine Sorgen, nicht soviele wie Kordian, der sich an die Erscheinungen zu klammern schien wie an eine Rettungsleine auf hoher See.
Mehr schon besorgte sie, wie wenig sie von dieser Frau wusste, mit der er seine Nächte verbrachte. War es seltsam, ihr - ihnen - auf diese Art nachzusteigen? Shae grinste und schüttelte den Kopf. Natürlich war es seltsam. Es war himmelschreiend verrückt, geisteskrank, paranoid, nicht ganz dicht, aber andererseits waren all das Worte, die an irgendeinem Punkt der Zeit als Beschreibung für Shae benutzt worden waren. Neben böse, verschlagen, teuflisch, abartig und schwarz, aber an solche Konnotationen glaubte Shae nicht. Sie tat, was das Beste war, und nicht einmal nur für sich. Manchmal für sich, ja, aber nicht ohne dass es auch einen Nutzen für das größere Ganze hatte. Und in diesem Fall hatte ihr Lauern in dem Graben den Zweck, ihrem größeren Ganzen zu dienen, ihrer Familie, so verstreut und kaputt sie auch sein mochte.

Zwei Stunden später ging die Türe der Hütte endlich auf, und die große Unbekannte - metaphorisch gesehen - verließ ihr Heim. Shae rührte sich nicht, wartete ab, zunehmend fröstelnd nun wo die kalte Luft sich in ihrer Kuhle sammelte und es draußen heißer wurde. Eine weitere Stunde später kehrte sie zurück, frisch gewaschen und wie aus dem Ei gepellt, und tat Dinge in ihrem Heim. Mit zunehmendem Unmut musste Shae sich eingestehen, dass ein bequemeres Versteck, etwas zu Trinken und etwas zu Essen eine wirklich gute Idee gewesen wären, hätte sie nur früher daran gedacht, aber nun war es zu spät.
Am frühen Nachmittag erst verließ die Frau ein weiteres Mal die Hütte, dieses Mal gerüstet in einer Mischung aus Stoff und Leder, und mit Bogen und Köcher betan. Dreißig Minuten später war Shae sich sicher, dass sie nicht wiederkehren würde, und kletterte aus ihrem Versteck.
Es galt sich zu sputen.

Die Hütte war schäbig, schäbiger als so mancher Unterschlupf den sie zuvor frequentiert hatte. Es lag nicht an Anouk, sondern schlicht daran wie weit der nächste Handwerker entfernt war, und dass hier hinauf niemand kommen würde um etwas zu reparieren. Nicht mal Hilfe konnte schnell genug hierher kommen, wenn jemand die zwei eines Nachts in ihrem Haus einsperrte und das verdammte Ding in Flammen steckte. Unwillkürlich schlich ein boshaftes Schmunzeln auf ihre Lippen, so sehr sie sich dagegen zu erwehren versuchte. Na, na, die Rachegedanken stehen dir nicht zu Gesicht. Entweder du willst ihn ganz, oder du musst ihn ziehen lassen wenn du hast was du willst. Wähle, wähle…
Ihr Blick glitt nach oben, während die Stimme in ihrem Kopf noch hänselte und lästerte. Reetdächer waren ein großer Spaß für die ganze Familie. Sie brannten wie Zunder und allerlei giftiges Getier verbarg sich darin, um sich nachts auf die Gesichter der Einwohner abzuseilen. Wenn Shae etwas nicht vermisste, dann waren das die Reetdächer ihrer Heimat. Hier aber kamen sie ihr gelegen.
Es kostete einiges an Mühe, sich am Gerüst hoch ins Dachgebälk zu ziehen, und genug vom Reet um ein Loch herum abzudecken, sodass sie hindurch passte, aber es war ein besserer Weg als die Türe aufzubrechen, oder ein Fenster zu beschädigen. Umso länger sie verdeckt agieren konnte, umso größer würde ihr Vorsprung am Ende sein, und vielleicht… ja, vielleicht würde Kordian niemals wissen dass sie überhaupt hier gewesen war. Vielleicht würde er sein langweilig friedliches, nettes Leben weiter leben können, und ergraut und alt friedlich entschlafen.
Zwischen den Dachbalken sitzend blickte sie ins schlichte Hausinnere und grinste. Genauso gut könnte sie dem Krieger die Keuche an den Hals wünschen, es würde aufs Gleiche hinaus laufen… auf etwas, das Kordian fürchtete und verachtete wie nichts anderes.
Den Rock an der Hüfte hochknotend schob sie sich über das Loch und ließ sich in die Tiefe fallen. Der Aufprall war hart und beim Abrollen stieß sie einige der Kisten an, landete am Ende aber auf dem Fell- und Strohlager in der Ecke und rappelte sich keuchend hoch. Eine Diebeskarriere stand nicht in ihren Sternen, soviel stand fest, aber für Wertgegenstände war sie nicht gekommen.
Auf den Fellen zurecht rutschend zückte sie ihren Dolch und machte sich auf die Suche nach jenen Flecken, die im Tageslicht für Schamesröte sorgen und eine Behandlung mit Wasser, Seife und einer Bürste auslösen würden. Den besten Fleck fand sie unglücklicherweise in der Mitte eines der Felle, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als mit dem Dolch ein ungefähr Guldengroßes, ovales Stück aus dem toten Tier zu schneiden. Die Beute in den Beutel am Gürtel steckend machte sie sich für einige Momente daran, zumindest die umgekippten Gegenstände wieder aufzustellen - wenn auch mit denkbar wenig Sinn dafür, alles dorthin zu bugsieren wo es vorher gewesen war -, dann kletterte sie begleitet von einem kleinen Heuregen zurück aufs Dach und verteilte die dickeren Reetstängel wieder auf dem Gebälk. Vermutlich würde das Dach nun dichter sein als zuvor, aber dass jemand dort gewesen war, würde früher oder später auffallen.
Spezifisch der einzelne, orange-grün gesprenkelte Frosch, der in den Fellen herum krabbelte und definitiv nicht dort heimisch war, würde wohl ein Hinweis sein.
“Du kannst es nicht lassen, hm? Sie werden dich erwischen.” - Sollen sie. Lachend falle ich von der Klippe.
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#4

3. Wonnemond 1402

‘Das war eine dumme Idee,’ ätzte die Stimme in Shae’s Kopf mit gehässiger Belustigung. Unwillig die Nase kräuselnd rückte Shae tiefer in den geradezu wohnlichen Erdbau und schob etwas Stroh zusammen so leise es ihr möglich war. Ruhe! Ich weiß was ich tue!
Natürlich erwies es sich nur als bedingt sinnvoll, mit einer körperlosen Stimme in ihrem Kopf zu streiten, besonders weil diese Stimme sich nie ärgerte, sondern stets diesen Hauch von spöttischem Spaß enthielt, und sie am Ende die einzige war, die aufgebracht aus dem Zwiegespräch ging. Die Worte aber unkommentiert stehen zu lassen war nicht möglich. Nicht nach allem, was sie erlebt und getan hatte, nicht nach dem unverhofften Zusammentreffen mit Kordian.
Eigentlich war sie nur für die Druiden dort hinten gewesen, hatte sich das Gastrecht eingeholt und lief nun zumindest nicht Gefahr, von einer Horde schwarzberobter Götterdiener aus dem Land gejagt zu werden, aber ein Galatierfest am selben Ort war dann doch zu verlockend gewesen. Ein Stück Heimat fern abseits der Heimat, wie hätte sie dort fernbleiben können?
Zu ihrem Glück - oder Unglück - entdeckte sie Kordian gleich nachdem sie den ersten Fuß auf den Platz hinter dem goldenen Raben gesetzt hatte, und floh geschickt hinter das nächstbeste Zelt.
‘Und du bist nicht gleich wieder gegangen, nein. Du musstest mit dem Feuer spielen,’ ätzte die Stimme einmal mehr und ließ sie unwirsch den Kopf schütteln. Dann grinste sie und hob mehr für ihren unsichtbaren Gesprächspartner als für sich selbst die Schultern. Mit dem Geruch von Krieg in der Nase, seinem Geruch, war es nicht möglich zornig auf sich selbst zu werden. Es war ähnlich berauschend wie der Rauch des Mohnharzes, und jegliche Reue löste sich durch die Erinnerung in Wohlgefallen auf.
‘Gesteh dir wenigstens ein, dass-’
Die Worte wurden von einer schallenden Ohrfeige, die sie sich selbst verpasste, unterbrochen. Die getroffene Gesichtshälfte verziehend brummte Shae in die nächtliche Stille um sich, “- ich ihn immer noch will, ja, ja. Wollen und dürfen und können und sollen sind verschiedene Dinge, mein Herz kontrolliert mich nicht, ich kontrolliere mein Herz.”
Dieses Mal blieb die gesichtslose Stimme still. Shae schloss die Augen und lauschte in die Stille des kleinen Wäldchens, aber da war nichts. Er war ihr nicht weiter gefolgt, ihre Worte hatten die gewünschte Wirkung erzielt. ‘Es ist ein Traum, Kordian. Geh zurück zu den anderen. Nichts als ein Alptraum, eine Nachtmahr.’
Und das war es, ein Alptraum, ein Hirngespinst. Beinahe hätte sie es ruiniert, aber nur beinahe. Mit einem Schmunzeln und weiterhin geschlossenen Augen entsandte sie ihren Geist in die Höhen des Himmels, hin zu Arkadien, und wisperte einen leisen Dank an die Götter, die in dieser Nacht so wohlwollend auf sie hernieder geblickt hatten.
Es war Zeit, das Ritual zu beginnen, bevor der Mond sich gänzlich füllte.
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#5

20. Wonnemond 1402

Shae hatte lange niemanden mehr als Freund bezeichnet. Die letzten Freunde hatten sie einer nach dem anderen verraten, betrogen, im Stich gelassen und zu töten versucht, und nachdem sich dieses Muster wieder und wieder ereignet hatte, hatte sie am Ende etwas wie Freundschaft einfach aufgegeben. Wenn man oft genug getreten wurde, sobald man am Boden lag, sorgte man sich irgendwann mehr darum in Momenten der Schwäche nicht von anderen Menschen umgeben zu sein, als darum ob vielleicht doch jemand dort draußen war, der bereit war eine helfende Hand hinab zu strecken.
Bitternis darüber hatte sie früher verspürt, dann war es Trotz gewesen, dann Rachsucht und Hass, aber nun herrschte eine gewisse frustrierte Gleichgültigkeit darüber.
Umso überraschender waren Cois’ Worte, nicht zu sprechen von dem Fakt, dass Cois sich überhaupt die Mühe machte, sich nach ihrem Befinden zu erkunden. Die Stimme in ihrem Kopf wollte sich wieder einschalten, ätzend darüber klagen dass es ‘nur’ Cois war, aber in diesem selten gesähten Moment verbot Shae dem körperlosen Ding den Mund, und es gehorchte auch tatsächlich. Es gab kein ‘nur’, wenn sich jemand als Freund bezeichnete, selbst wenn dieser Jemand nicht zu ahnen schien was für ein mächtiges Wort es war.
Während sie so dort im Goldenen Raben saßen, in der völligen Stille die eingekehrt war, kaum dass der letzte Druide sich zur Ruhe oder zurück zur Stadt begeben hatte, da schämte Shae sich für einige Momente tatsächlich. “Warum hast du dich nie gemeldet?” fragte Cois, und das zu Recht. Als Galatier war er in all der Zeit nur wenige Inseln weiter gewesen, und als Infanterist war er durch die selben Löcher gekrochen wie Kordian. Cois war jemand, den sie durch seine gelassene Ruhe und seinen trockenen Humor schon damals zu schätzen gelernt hatte, auch wenn die Fäden seines Schicksals für Shae völlig undeutbar waren. Hatte Kordian, hatte ihre Rache an ihm sie so sehr eingenommen, dass sie darüber hinweg dieses Mal selbst jemanden im Stich gelassen hatte?
Selbst als Cois sich zur Ruhe begab wollte der Gedanke Shae nicht mehr loslassen. Dort wo man einen Floh sah, sprangen hunderte ungesehen herum. Dort wo sie ein Indiz dafür fand, dass sie Mitschuld trug, dort waren hunderte ungesehene Beweise, und das war etwas, was Shae nicht dulden konnte. Wahrhaben wollte sie es allerdings auch nicht, dafür würde es noch mehr Zeit benötigen, denn alte Hunde blieben gerne auf ihrem gewohnten Platz.
“Ich werde nicht zulassen dass du ihn umbringst, aber ich werde deine Rache ansonsten nicht behindern,” hatte Cois gesagt. Diese Worte verwirrten sie, und auch das war etwas womit sie nicht gerechnet hatte. Warum stellte sich dieses Mal niemand in ihren Weg, selbst als sie das Risiko eingegangen war und die Wahrheit gesprochen hatte? Warum waren Kordians Mitstreiter darauf erpicht, sie zu versöhnen statt sie und die Gefahr die sie brachte auszumerzen?
Es gab so viele Antworten auf diese fassungslosen Gedanken, soviele Möglichkeiten, soviele Fäden, denen sie folgen konnte, aber keiner davon wollte ihrem aufgewühlten Geist lange anhaften. Mit keinem von den Geschehnissen dieses Abends hatte sie gerechnet, weder damit dass sich jemand um sie sorgen könnte, noch damit, dass Kordian sie damals vor all den Jahren tatsächlich gesucht hatte, noch damit dass man sie eher eine Rache vollziehen lassen würde, bevor die Infanteristen ihr vorschnell ein Haar krümmten.

‘Das ist die Strafe für deine Selbstgefälligkeit,’ meldete sich die körperlose Stimme wieder, mit dem üblichen Schmunzeln im Klang das Shae an ein herablassend lächelndes Gesicht erinnerte. ‘Du hast geglaubt alles sei wie früher, und du hast nicht ein einziges Mal die Runen für jemand anders als Kordian geworfen. Du weißt nicht mehr was wahrlich vorgeht, also könntest du genauso gut nichts wissen. Dummes, dummes Ding das du bist.’

Dieses Mal erwiderte Shae in Gedanken nichts auf den Spott. Manchmal war es besser einzusehen, dass man falsch gelegen hatte, als sich an ein sinkendes Schiff zu klammern. Es war Zeit die Augen für den Rest der Welt zu öffnen, zu sehen was wirklich dort passierte, und die Sucht nach Vergeltung zurück zu stellen. Wissen war Shae’s Waffe, und ihre Waffe hatte sich an diesem Abend als erschreckend stumpf erwiesen.
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#6

01. Brachet 1402

Er kam zum Feuer, einfach so, mitten in der Nacht, und Shae hatte damit nicht gerechnet. Es war weniger sein plötzliches Auftauchen am Goldenen Raben, das sie aus dem Konzept brachte, als eher schon der Fakt dass er über ihre Anwesenheit weder erschrocken noch überrascht schien.
“Asarea,” sprach er, und der Name jagte einen schmerzlichen Dolch durch ihr Herz. Immer noch, selbst nach fünf Jahren, reichte das Nennen ihres Namens aus um Shae in hilflose Pein zu versetzen. Was die Zeit sie allerdings gelehrt hatte war das Wahren der ruhigen Miene.

Die letzten Wochen hatten sie mit derart vielen anderen Problemen, Spuren und Schicksalsfäden beschäftigt, dass sie an ihre Rache kaum mehr als zwei Handgriffe verschwenden hatte können. Sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass Kordians verstörter Kopf sich von selbst einen Namen zusammenreimen können würde, hatte damit gerechnet dass sie weitere Hinweise einflüstern müsste, bevor die Erinnerung ihn wieder heimsuchen konnte, aber da war er, der eine Name den sie selbst nicht aussprechen mochte.
Der Name, der wie ein Beil in der Luft schwebte.
“Du erinnerst dich also,” war alles, was ihr dazu einfiel, es war immerhin schwer genug ihre Miene unter Kontrolle zu halten. Und ja, er erinnerte sich, und er entschuldigte sich, auch wenn er nicht so recht zu wissen schien für welchen Teil der Geschehnisse er sich nun wirklich entschuldigte. Da war so viel geschehen, soviele Dinge ausgesprochen, nicht ausgesprochen, getan und nicht getan worden, dass selbst Shae sich manches Mal fragte, wie man all diesen Ereignissen jemals gerecht werden wollte.
Gerechtigkeit aber war nichts was Shae interessierte. Gerechtigkeit war kein Teil der Welt, kein Gewicht auf der Waagschale des Lebens, nur ein Konzept das Menschen entworfen hatten um nicht auf der Strecke zu bleiben wenn eine größere Macht voraus schritt. Und eine Entschuldigung, nein, die reichte nicht aus.
Wo ihr Gesicht den Unmut nicht ausdrücken konnte, da wisperte und wehte der Wind aufgescheucht wie eine Wieselfamilie durch die Finsternis, riss Funken und Rußflocken mit sich und zerrte an ihrem Haar, gar so als wolle die Natur selbst ihr Gemüt beruhigen.
Weder seine Entschuldigung, noch das Streicheln des Windes oder Cois’ freundliche Worte konnten allerdings ihren Entschluss aufrütteln. Ihre Rache würde erst vollständig sein, wenn Kordian die ganze Wahrheit kannte und sie entweder hasste, oder aber sich selbst. Ein Ausgleich für die Jahre, die Shae verloren - oder sich selbst genommen? - hatte, ein Ausgleich für…
Shae blinzelte. Sie war sich selbst nicht mehr sicher wofür, nicht in dem Moment wo Kordian vor ihr stand und von Reue sprach. Da war kein Ehrenmann auf dieser Welt, der nicht doch eine ehrlose Tat begangen hatte, und kein perfekter Mensch, der nicht doch seine Schwächen hatte. Auch Kordian hatte sie, die Schwäche für das sanfte, weiche Fleisch der Frauen, mehr als andere Männer vielleicht, aber nicht mehr als alle Männer. Sein Anblick bewegte sie immer noch wie früher, seine Stimme ließ sie immer noch lächeln, seine Art immer noch zu ihm streben, aber der Grund dem Locken zu folgen, der war verloren hinter einem unsichtbaren Wall.
Sie verlangte sein Blut, und er gab es willig. Zu willig, flüsterte ihre Kopfstimme, und entsandte ihr Bilder von alten Ritualen und Blutopfern, wie sie nur noch selten praktiziert wurden. Shae verdrängte sie, unterdrückte den Schauder der ihr bei dem Gedanken an die Macht eines solchen Rituals durch den Körper schleichen wollten, denn Kordians Schicksal sah ihn nicht als Opferlamm vor.
“Willst du wissen, wozu ich das Blut benutzen werde?” fragte sie stattdessen, und sah Kordians alte Vorsicht in dessen Miene aufleuchten. Natürlich, wäre er auf eine solche Frage herein gefallen, wäre sie ihm wohl nie verfallen; sein rascher Verstand war mit eine der stillen Eigenschaften, die sie an ihm zu schätzen gelernt hatte. Und hätte er gefragt, so wäre die Rache vollzogen gewesen, aber er fragte nicht nach dem Blut. Nein, er fragte nach den Dingen, die nach der Antwort kommen würden, und entlockte ihr ein nostalgisches Auflächeln.
“Wenn du weißt wofür das Blut gut sein wird, dann wird meine Rache vollständig sein. Dann ist auch meine Arbeit hier getan, und ich werde zurück gehen wo ich hergekommen bin,” erklärte sie, so einfache Worte für so viele Konsequenzen. Sie würde gehen, weil er sich einen neuen Weg gesucht hatte, gehen, weil seine Nähe ihr unerträglich sein würde, gehen weil er ihre Nähe ebenso unerträglich finden würde, gehen, bevor er Dinge aus ihr pressen konnte, die ihre Rache nullifizieren würden, aber mit diesem Fortgang würde sie so viele Dinge zurück lassen, dass sie selbst ähnlichen Schmerz empfinden würde.
Weder Magie noch das Spiel mit dem Schicksal waren ohne Preis, sowohl für den Täter als auch für das Opfer. Was aussehen mochte wie eine kleinliche Rache, die nur Kordian treffen würde, schnitt am Ende Shae genauso tief wie ihn, aber es war ein Preis den sie gerne zahlte.
Kordian allerdings nicht.
“Wenn all das durchgestanden ist, wenn wir in Ravinsthal sind und sicher, dann, und nur dann werde ich dich fragen. Bis dahin will ich nicht riskieren, dass du die Mondwächter im Stich lässt, und ich will nicht riskieren dass ich meine Truppen im Stich lasse,” erklärte er, und seine Worte ließen selbst den Wind für einen Moment ersterben.
“Also willst du es nicht wissen?”
“Noch nicht.”
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#7
02. Heuert, 1402

Irgendwo vor der löchrigen Wand schrie ein Vogel, die kühlen Stunden ausnutzend die zwischen der absoluten Nachtfinsternis und der ähnlich absoluten Helligkeit des Sonnenaufgangs lagen. Vögel mochten Shae normalerweise nicht aus dem Schlaf schütteln, aber dieser brachte sie dazu, die Augen zu öffnen.
Die Schlafmatte war nicht unbequem, aber zu zweit darauf zu liegen bedeutete, sich dicht aneinander zu drängen bis Arme und Beine einen gordischen Knoten bildeten, und obwohl es noch angenehm lau war, würde solche Nähe mit Aufgang der Sonne zu unerträglichen Schweißausbrüchen führen. Zu zweit... der Gedanke entlockte ihr ein Grinsen und brachte sie dazu den Kopf zu heben, und auf den narbenbedeckten Körper neben sich zu blicken.
Die Narbe an seiner Hand hatte sie schon vor Tagen genauestens untersucht und war fasziniert gewesen. Nicht so sehr von der Verletzung an sich, sondern eher von der Vorstellung wie er sie erhalten hatte. An einen Baum genagelt, im letzten Moment frei gekommen, solch alte Rituale hatte Shae schon lange nicht mehr in Aktion gesehen. Nicht seit sie die letzten Menschenopfer gebracht hatte, in der Zeit vor der Zeit, als Blut die Äcker zum Wachsen gebracht hatte, in der Zeit als man Verräter an einem Knöchel in das Geäst einer Blutbuche gehangen, ihnen den Bauch aufgeschlitzt und sie am eigenen Blute ertrinken hatte lassen.
Es waren alte, archaische Rituale, grausig und blutig, und gerade deshalb von einer Macht wie sie kaum noch in Zeremonien zu erleben war. Natürlich, ab und an ergaben sich noch Zufälle, grausig-blutige Zufälle welche die Würfel des Schicksals genau richtig fallen ließen und einen zeremoniellen Ablauf zu einem unglücklichen Naturschauspiel formten, aber das passierte viel zu selten.
Die Narbe an seinem Hals aber, die hatte sie vorher nicht entdecken können, nicht solange er Kleidung getragen hatte. Ein fast perfekter Seilabdruck schlang sich um seine Kehle und seinen Nacken, bildhaft dafür an welchem Strick er gebaumelt hatte. Eine schlecht durchgeführte Hängung bedeutete den langsamen Tod, und ein schlecht angebrachtes Seil - wie seine Narbe es erzählte - konnte zu einer Folter werden, die erst nach langem, langem Ringen im Tod endete.
Zweimal war er dem Tod entgangen, und zweimal war er wie ein Rachedämon über jene hergefallen, die versucht hatten ihm das Leben zu stehlen. Wenn dieser Mann nicht von den Göttern oder sonst einer Macht gesegnet war, wusste Shae nicht wer es sein sollte. Es war Teil dessen, was sie zu ihm gelockt hatte, neben dem üblichen Drang zu sehen ob sie ihn provozieren konnte. So aufgeräumt, so gepflegt, so gefasst und gelassen, sein schieres Auftreten hatte an ihrem Wesen gekratzt wie eine rauhe Weste.
Ihr Grinsen wurde breiter und sie rollte sich näher um an seinem Hals zu schnuppern. Der Seifenduft war fort, eine ferne, vergessene Erinnerung, begraben unter ihrem eigenen Geruch, und sein Schlaf war ebenfalls nur gestellt, wie sie mit einem verhaltenen Zucken feststellte. Das Herz schlug zu schnell, der Atem war zu gleichmässig und tief, als schien er reglos darauf zu lauschen was sie als nächstes tun würde. Eine genauso dezente Spannung hatte seinem Leib inne gewohnt als sie am ersten Tag seine Taschen mit dem Vorwand einer Umarmung durchwühlt hatte, und wie an jenem Tage hatte etwas sie davon abgehalten zu sehen wie er auf Schandtaten reagieren würde.
Kurz starrte sie in sein Gesicht, dann ließ sie den Kopf wieder sinken und schlang die Arme enger um seine Brust, leise murmelnd, "bevor es zu heiß wird."
Shae ahnte bereits dass er vermutlich fort sein würde wenn sie das nächste Mal aufwachte. Es belastete sie nicht. Krieger, Söldner, Paladine, sie hatte ihr Leben an deren Seiten verbracht, sie aufstreben, kämpfen, siegen, verlieren und sterben gesehen, während sie selbst weiter durch die Zeit wandelte. Sie würde diese Zeit nutzen, das Beste daraus machen, und sich nur an die guten Zeiten erinnern, wenn er schließlich verstarb oder vom Erdboden verschluckt wurde.
Das Schicksal des Söldners war bereits jetzt zu omenbehaftet um darauf zu hoffen, dass er lange an ihrer Seite bleiben würde, aber Shae war nichts wenn nicht pragmatisch.
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#8
8. Heuert 1402

Die kleinen, sporadisch platzierten Kerzen flackerten milde in der müßigen Brise, die durch die Ritzen und Fensterrahmen zog. Ein paar winzige Staubflocken flogen durch den Lichtkegel, aufblitzend wie Funken bevor sie wieder in der Finsternis verschwanden. Nicht einmal die Nacht wollte sich abkühlen, und schlimmer waren bisher nur die Tage voller erbarmungslosen Sonnenscheins gewesen. Warm genug um nackt durch das Haus zu streifen, was sie zuvor gemacht hatte, und warm genug um mit nacktem Hinterteil auf dem herrlich gepolsterten Sessel zu sitzen, den sie zu ihrem Arbeitsplatz auserkoren hatte.
Das Hemd an ihrem Leib war zu groß, und es war nicht ihres. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, es gänzlich zu schließen, es nur über die Arme gestriffen als eine Form von Ausrede, sollte jemand durch die Fenster im Erdgeschoss blicken. Es erweckte falsche Hoffnungen in Nachtschwärmern, präsentierte man ihnen nackte Brüste, und Shae stand nicht der Sinn danach Stelzböcken mahnende Schnitte zuzufügen.
Der Besitzer des Hemdes räkelte sich minimal auf dem Bett hinter ihr, gerade genug um über die Schulter zu blicken und seinen verbeulten, narbigen Leib zu betrachten. Spätestens in sechs Stunden würde sein ganzer Leib blaurot gescheckt sein, und spätestens dann würde er es ihr insgeheim danken, dass sie ihn dieses Mal nicht auf dem Boden in seinem Haus schlafen hatte lassen. Der Fuß an zusätzlicher Höhe würde es ihm einfacher machen, sich morgens aus dem Bett zu schälen, so lächerlich diese Distanz auch war.
Gedankenverloren lehnte Shae die Wange auf den hemdsbedeckten Oberarm, während ihre Hände sich enger um das angezogene Knie schlangen. Der Stoff roch nach ihm wie eine farbenfrohe Erinnerung an seine Haut, und ließ Stellen tief in ihrem Leib zucken. Die Augen schließend biss sie sich auf die Unterlippe und ließ die Welle der stillen Begierde über sich hinweg rollen, milde schaudernd während Erinnerungen und Zukunftsvisionen einen wilden Tanz durch ihren Verstand aufführten.
Sie konnte die frische Wunde unter seinem Auge aus ihrer Erinnerung abrufen als säße er vor ihr, und jeder Stich den sie gesetzt hatte um das Schandmal aus seinem Gesicht zu bannen kribbelte durch ihre Finger. Schlief er, oder lauschte er wieder? Sie konnte es nicht abschätzen, und sie hatte ihn nie gefragt. Es war ihr nicht egal ob sie ihn vom Schlaf abhielt, aber es auszusprechen hätte ihrem nächtlichen Lauern seinen verrufenen Zauber genommen.
Mit einem stillen Lächeln wandte sie den Blick von seiner friedlichen Form ab und blickte wieder vor sich. Nein, er schlief, da war sie sich sicher. Wäre er wach gewesen und hätte sie dort auf dem Sessel kauern gesehen, in nichts gehüllt als ihre vom Liebesspiel zerzausten Locken und sein sauberes, frisch gewaschenes Hemd, er wäre nicht liegen geblieben.

Vergisst du nicht etwas, Sturmkrähe?

Mit einem leisen Seufzen ließ sie das Kinn auf ihr angezogenes Knie sacken und schloss die Augen. Auf die Stimme in ihrem Kopf war stets Verlass wenn die Frage nach ihrem eigenen Glück im Raum stand. 'Nein, ich habe es nicht vergessen. Ich werde es nie vergessen, aber die Dinge sind anders. Zu unberechenbar, zu verquer und falsch. Wenn ich vorpresche kann ich alles verlieren,' erklärte sie dem Spott im Kopf still und kämmte sich mit einer Hand durch das Haar.
Sie konnte ihn noch auf ihren Lippen schmecken, und auf der Zunge, dort wo sie ihn gekostet hatte wie eine teure Praline. Ein Hauch von Blut hing dem Geschmack nach, umso verruchter weil sie nichts damit zutun gehabt hatte, es aus seinem Leib zu schneiden. Es war ein seltsam euphorisches Gefühl, einmal nicht dafür verantwortlich zu sein was passiert war. Nicht zur Verantwortung gezogen zu werden, nicht um Hilfe gerufen zu werden, sondern einfach da zu sein, gewollt zu sein.
Ein Windhauch fuhr in ihren Kragen und trieb die zuvor frischen, nun langsam gelierenden Schweißtropfen ihren Rücken weiter hinab, erfrischend und kühl in der stickigen Sommernacht. Die Kerzen flackerten erneut. Zitternde Schatten huschten über das unbeschriebene Blatt Papier vor ihr auf dem Tisch.
Es war seltsam zurück ins Bett zu wollen und gleichzeitig nicht zurück ins Bett zu wollen, heraus getrieben von der Angst die Nacht könnte zu schnell enden. Auf den Sitz genagelt von der Furcht, seine geraunten Worte zu vergessen und den nächsten Tag zu beginnen wie jeden anderen, blind und taub für die Gedanken die durch seinen Kopf rauschten wenn er sie ansah. Es waren keine wichtigen Worte gewesen, nichts was die Welt untergehen ließ sollten sie verdrängt werden, aber das Erschaudern, das Zittern und das Ziehen in ihren Lenden würde vielleicht nie wieder in dieser Form durch ihren Leib schleichen. Shae hatte in all den Jahren zuviel verloren, zuviel vergessen, zuviele Dinge nicht beachtet und damit auf ewig aus den Geistern der Menschen gebannt, um sich selbst zu ignorieren, oder die Glorie dieses Moments.
Vielleicht würde er sie in zwei Wochen wieder vergessen, vielleicht würde der Zauber den er in ihr sah verschwinden. Es wäre nicht das erste Mal und nicht das letzte Mal. 'Und aye, ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, ich weiß, aber lass mir diese Ablenkung, nur diese. Fünf Jahre war ich pflichtbewusst und tapfer, ohne Meckern und ohne Murren, zielgerichtet wie ein Pfeil, lass mir diese eine Sache, ihn, nur ein bisschen.'
Wenn es nur zwei Wochen waren, oder eine, sie würde nichts bereuen. Wenn es eine längere Zeit war, gar kein Ende in Sicht kam, dann würde sie sich mit dem Problem auseinandersetzen müssen. Dann würde sie einen Weg finden müssen, ihm Dinge zu erklären, die er nicht beeinflussen können würde, so sehr er es wollte. Dinge, die vielleicht zuviel waren für dieses Equilibrium zwischen ihnen, Dinge die etwas Unkompliziertes so schrecklich kompliziert machen würden, dass er sich am Ende angewidert abwandte.
Shae warf einen Blick auf das Papier vor sich, auf die Stelle an der sie üblicherweise "Kordian" schrieb, die Einleitung ohne "Lieber" und ohne "Mein" und ohne jegliche andere Personalisierung, dann glitt ihr Blick zurück zum Bett. Der Stift wollte ihr nicht in der Hand liegen, und verschwitzte Strähnen fielen ihr immer dann in die Augen wenn sie sich vorbeugte um zu schreiben, und überhaupt ging ihr in dieser Nacht ein völlig anderer Name durch den Kopf.
Mit einem verlegenen Kopfducken lächelte sie auf und rieb die Wange am leise raschelnden Hemdstoff. Der Seifengeruch war nur noch eine müde Erinnerung, zu sehr hatte das Hemd ihren Schweiß aufgesogen, aber darunter war immer noch diese Grundschwingung, die ganz und gar die Seine war, unverwechselbar.
Mit einem leisen Seufzen neigte sie sich hinüber zur Kerze und blies sie aus, dann wanderte sie auf leisen Fußballen hinüber zum Bett und ließ das Hemd zum restlichen Haufen Kleidung fallen, den sie im Laufe der Nacht erzeugt hatten. Es war unmöglich, in dieser Nacht an jemand anders zu denken als ihn.
'Axis.'
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#9
18. Scheiding 1402

Soviele Menschen, soviel Lärm. Es dauerte Stunden, bis die Gantergasse sich endlich genug leerte, um keine Aufmerksamkeit mehr auf sich zu ziehen. Shae lehnte sich an die Hausecke neben dem Zwischentor zum Marktviertel und stützte den Kopf an die krümelige Kante. Die Sonne war unter gegangen, der Himmel bewölkt und unstet, als könnten die Wolken sich nicht recht zwischen Regen und klarem Sternenhimmel entscheiden.
Wenn sie hier lang genug stand, würde der Regen sie überraschen. Oder nicht, in dem Gestank der Stadt konnte der Wind ihr keine Auskunft geben, ohne gleichzeitig Übelkeit zu erwecken.
Das Haus der Vogtin war unüblich gelegen, mitten im Mittelstand, mitten in der Altstadt, als hätten die letzten einhundert Jahre Bau und Entwicklung sie noch nicht erreicht. Wie unüblich für eine Adelige, nicht bei den anderen Adeligen zu wohnen und wie unüblich, in einem Handwerkerviertel unterzukommen; noch dazu in einem Haus, das in soviele Wohnungen fragmentiert worden war, dass man praktisch in einem Bienenstock lebte.
Du glaubst, dass er dich betrügt. Ich rieche es in deinen Gedanken.
Unwillkürlich mit der unerwünschten Stimme in ihrem Kopf kam eine halb salzige, halb faulige Brise über die Stadtmauer hinter ihr, durchfuhr den kleinen, überdachten Durchgang in dem sie stand, und entlockte ihr ein Schmunzeln zwischen dem plötzlich aufgewühlten Sturm von Haar, das ihr für einige Momente die Sicht raubte.
“Möglich. Aber er ist ja nicht mein Eigentum,” erwiderte sie halblaut, nur um im nächsten Moment ruckartig den Kopf zurück zu ziehen als die nahe Brückenwache einen Blick über die Schulter warf. Sie stand zwar außerhalb der verteilten Fackellichter, aber beim Bespitzeln des Vogtshauses erwischt zu werden erschien trotzdem wie eine dumme Idee. Sie hatte Axis das eine oder andere Mal hinter der Vogtin her marschieren sehen, sie am Haus gesehen, sie in der Stadt beobachtet, aber es war ihr nicht in den Sinn gekommen, nahe genug für eine gezwungene Vorstellung zu kommen. Aus irgendeinem Grund, den sie noch nicht näher begutachtet hatte, mochte sie die Vogtin nicht. Erklärbar war es nicht, immerhin war sie der Frau nur einmal begegnet, und selbst das nur flüchtig, aber ihre Instinkte hatten noch nie falsch gelegen. Etwas war mit der Konstellation zwischen der Vogtin, dem Leibwächter und Shae selbst nicht in Ordnung, und nach Wochen des Wälzens und Stirnrunzelns und Abwägens hatte Letztere sich entschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Du magst keinen Betrug, auch wenn du behauptest ihn gewohnt zu sein. Wenn nicht die Möglichkeit, dass sein Körper streunern geht dich verärgert, was ist es dann? Bist du eifersüchtig? Wieder? Wirklich? Die letzten paar Male waren schon Katastrophen, aber du lernst es einfach nicht. Köstlich!
Die nächste Böe kam von vorne, erstaunlicherweise weniger übelriechend als die meerseitige Windbewegung es gewesen war. Und der launische Wind trieb ihr auch die schwarzen Locken wieder aus dem Gesicht, machte die Sicht auf das unscheinbare Haus wieder frei, in dem gerade die letzten Lichter ausgingen.
Es war nicht so sehr die Eifersucht, denn die war ein stetiger, unnachgiebiger Begleiter an den Shae sich schon vor Jahren gewöhnt hatte. Eifersucht war etwas, das man leicht ignorieren konnte, oder zumindest für sich behalten, unterdrücken, in andere Richtungen lenken… Sie hatte Erfahrung mit Eifersucht, und Übung, und war sich nicht zu fein, hin und wieder einmal dem Chaos nachzugeben, und einfach zu tun was ihr Herz verlangte. Aber in diesem Fall würde sie vorsichtig vorgehen müssen. Zuerst herausfinden müssen, ob sie richtig lag, und dann abschätzen, was sie tun konnte und was sie besser nicht tun sollte, um nicht am vogtlichen Galgen zu enden.
Axis hat seit Wochen keinen Kontakt mehr zu dir gesucht, woher willst du wissen dass nicht er es ist, der dich an den Galgen liefert? ätzte die zynische Stimme in ihrem Kopf, und brachte sie zum Grinsen. Es war kein gutes Grinsen, aber zumindest war es kein hässliches Grinsen, keines, das Menschen in die kreischende Flucht schlug, sofern sie es sahen.
“Was für eine bessere Prüfung gäbe es denn, um zu sehen wo er steht?” wisperte sie zu sich selbst, und beobachtete die ersten Regentropfen beim Sturz auf das dreckig-laue Kopfsteinpflaster. Noch ein wenig länger, dann würde der Regen die letzten Fußgänger in ihre Häuser treiben, und zurück blieben sie, die Wachen, und andere Schundgesellen in den Gassen.

Einen halben Stundenschlag vor der Mitternacht huschte der rockbetane Schemen quer über die Gantergasse, hin zum Pier und diesen entlang bis vor die Hintertüre des Vogtswohnhauses. Mit einem Stück schwarzer Kreide machte sie sich ans Werk, krakelte auf die Hintertüre, und stapfte dann leise eine alte, galatische Volksweise summend davon gen’ Armenviertel, um das gleiche Spiel an Axis’ Haustüre zu vollziehen - bevor sie im Inneren verschwand.
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#10
20. Gilbhart 1402


Die Stimme in ihrem Kopf lachte. Es war ein geckerndes, wieherndes Lachen, wie man es aus dem Narrenturm manchmal hörte, und es jagte Shae die Gassen hinab wie eine Peitsche im Rücken. Begonnen hatte es in der Altstadt, in der Finsternis, im leichten Herbstnieselregen, als sie um Axis’ neues Haus geschlichen war, und Dinge gesehen hatte, die sie nicht sehen hatte wollen.
Zuerst hatte sie noch versucht, das Lachen mit erst geistigen, dann verbalen Befehlen zum Verstummen zu bringen, aber es hatte keinen Zweck gehabt. Jedes Wort das sie dachte, sprach, schrie, brachte die Stimme in ihrem Kopf dazu, noch lauter, noch ausdauernder zu lachen, bis es fast wie ein ersticktes Husten klang, kaum noch zu identifizieren. Sie hatte sich damit abgefunden, und den Vorteil aus der Situation gezogen; nun, wo ihr körperloser Begleiter mit seinem vor Spott triefenden Hohngelächter beschäftigt war, stand es ihr frei sich auf ihre eigenen Gefühle zu konzentrieren.
Nicht dass sie gerade wusste, was sie fühlte.
Der mattstickige Geruch der Altstadt blieb hinter ihr, kurzzeitig abgelöst vom stechenden Geruch der Stallungen am Löwentor, und immer noch marschierte sie, ignorierte die Passanten, die ihr aus dem Weg sprangen, die mutigeren Stimmen, die sich erkundigten, ob die Druidin Hilfe benötige, ignorierte jeden Zuruf und jeden Versuch des Kontaktes, bis sie in das Dickicht des Bauernwaldes stolperte, und von einem Ast in ihrem Rock vom Weitermarschieren abgehalten wurde. Erst als der Stoff und die Natur selbst sie zurück rissen, entlud sich die Anspannung in ihrem Leib in einem einzelnen, wütenden Schrei, dicht gefolgt von einem hasserfüllten, stampfenden Tritt auf eine zornige Kreuzspinne, deren Netz noch von ihrer Stiefelspitze baumelte.
Mit geballten, zitternden Fäusten trat sie die Spinne tief ins Laubwerk, begrub ihren gebrochenen Leib in der Erde, und schnappte angestrengt nach Luft. Das Lachen in ihrem Kopf war nun gedämpfter, aber immer noch ausdauernd und ohne absehbares Ende.
Der Klumpen, der seit dem letzten Zusammentreffen mit Axis in ihrem Bauch gewachsen war, gefüllt mit Sorge und Anspannung, regte sich wie um den Spott noch abzurunden etwas, und brachte sie dazu nach unten zu sehen.
“Ich hasse dich,” wisperte sie dem Bündel zu, die Stimme schwer von einem Akzent, den sie schon vor Jahren abgelegt hatte, gemeinsam mit der Hitzigkeit und der Gefahrenlust. Zuvor hatte der Klumpen irgendwie noch zu ihr gehört, auch wenn sie gewisse Zweifel empfunden hatte, wie sinnvoll es war im Angesicht des nahenden Todes noch ein so lebenslustiges Risiko einzugehen. Bisher hatte sie es nicht geschafft, zu den Pflanzen zu greifen, mit denen sie sonst solche Probleme löste, es nicht übers Herz gebracht, solange die Unsicherheit sie beherrschte, aber diese Zeit war vorbei. Der Funke von Hoffnung hatte den alten, schwarzroten Flammen Platz gemacht, und die Flammen brachten Ideen mit sich.

Mit einem leisen, kehligen Schnurren zupfte Shae den Ast aus dem Rock und wandte sich um, warf einen letzten, lodernden Blick zurück zur Stadt, den Kopf voller Gedanken, voller Möglichkeiten, und voller Vorfreude. Das Lachen in ihrem Kopf verstummte, und für einen kurzen Moment begleitete nur das milde Plätschern des Nieselregens ihren schweren, tiefen Atem.
Der Schwerkraft folgend knickte ihr Kopf in die Schräge, und die Stimme erklang wieder, diesmal dunkler, verhaltener, als versuche sie, das erste Mal seit Langem den gerade erfassten Gedanken nicht zu stören.
‘Ich mag die Bilder in deinem Geist, Sturmkrähe. Soviel Blut…’
Mit einem kurzen Aufgrinsen, das mit Freude nur bedingt etwas zutun hatte, wandte Shae sich ab und stapfte weiter durchs Gehölz, hin gen’ Ravinsthal. “Ich auch…. Ich auch,” wisperte sie in leisem Singsang.
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