Jugendsünden 1393
#11
In Windeseile kroch Viktor unter einem Tisch hindurch, riss sich das gute neue Hemd am Ellenbogen ein, scheuchte einen Hund auf, der von einer gefälligen Matrone mit Pastetenstückchen gefüttert wurde und stob, das Kleid derselben aufwirbelnd, weiter. Er leistete sich keinen Blick über die Schulter, weil er wusste, dass er eh nicht würde schneller laufen können. Sie waren hinter ihm und sie könnten seinen ganzen Plan zunichte machen, wenn sie ihn erwischten. Wie ein Hase vor dem Pfeil des Jägers schlug er Haken um kleine Grüppchen von Feiernden. Unter normalen Umständen hätte diese Leistung jeden beeindruckt, aber irgendwie konnte er es trotzdem warm im Nacken spüren. Plötzlich sah er sich einer Wand gegenüber. Einer Wand aus Beinen und Händen, die nach seinem Gesicht langten. Er wich zurück, doch die Zeit wurde knapp. Hastig schaute er nach rechts und links, einen Ausweg suchend. Einer war so gut wie der andere. Schnell stieß er sich ab, wischte die Hände beiseite, die die Finger zu kneifenden Klauen gekrümmt hatten und mehr als einmal erntete er dafür empörtes Schnaufen. Das würde ihn später, soviel wusste er, noch teuer zu stehen kommen, aber um sich jetzt damit auseinander zu setzen war keine Zeit. Immer flinker schlug er seine Haken, bis wie aus dem Nichts eine rundliche Magd vor ihm auftauchte. Das Tablett, das sie in ihren fleischigen Händen trug, schwankte bedrohlich, als sie vor dem heranstürmenden Viktor zurückschrak. Dieser stieß sofort die Füße in den Boden und versuchte stehen zu bleiben, um nicht, Gesicht voran, ihn ihren raumgreifenden Bauch hineinzurennen. Ächzend schwenkte die Magd wie ein schwerfälliger Kutter um ihn herum.
"Ungehobelter Bursche", echauffierte sie sich noch leise, aber Viktor hatte keinen Blick für sie übrig. Denn als ihr massives Hinterteil aus seinem Sichtfeld trat, sah er -sie-. Sie hatten gewartet. Hatten ihn umgangen. Dreimalverfluchter Ravinsthaler! Er hätte wissen müssen, dass sie sich nicht schmutzig machen würden, wie er es getan hatte, indem sie unter Tischen hindurchkrochen. Sie hatten ihn einfach eingekreist und getrieben, wie Onkel Linhart es auf der Treibjagd zu tun pflegte.
Weiß-Blau wie der Himmel über ihm und funkelnd wie die Sterne in der Nacht standen sie da. Alle lächelten, bis auf eine. Dieser liefen Tränen der Wut und des Weltschmerzes über die Wangen.
Hinter dem ausladenden Hintern der Magd wartete Alma mit den anderen Cousinen ihres Familienzweiges. Nein, Alma lächelte ganz und gar nicht.

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Zwanzig Minuten früher war die Welt noch in Ordnung.

Viktor lauerte an dem Seiteneingang des Gutshauses, der direkt zu der Küche und den Vorratsräumen führte. Von dort schwappte ein ständiger Strom an Bediensteten heraus, die die Gäste mit Getränken versorgten, neue Fässchen und Flaschen hervorholten und leere Teller mit vollen tauschten. Eigentlich war das keine Umgebung für den Jungen, da sich hier eben nur die Diener und Knechte aufhielten, doch er genoss die geschäftige Ruhe, mit der die Angestellten zugange waren. Keiner ließ sich hetzen, denn es war so gewaltig aufgetischt worden, dass es genügte, gemütlich zu gehen, statt den Tellern hinterher zu laufen.
Gleich neben dem Eingang war ein Karren abgestellt, mit dem die Tage zuvor Anlieferungen aus Guldenach entgegengenommen wurden und Viktor lugte hinter der offenen Ladefläche hervor. Nicht weit entfernt von ihm schwatzten gerade zwei Knechte bei einem Krug Bier und einer Pfeife, die sie sich teilten. Ihre Gesprächsthemen wechselten sich nur insofern ab, als dass die Namen der Protagonistinnen immer andere waren. Viktor konnte ihnen aber keine Beachtung schenken. Nicht weil ihn der Inhalt des Gespräches abstieß, sondern schlicht, weil ihm der Anblick der Pfeife direkt schmerzende Ohren verschaffte.
Im Laufe des Abends waren noch einige Gäste zu der Hochzeitsfeier gestoßen, die es zeitlich nicht hatten einrichten können auch zur Trauung da zu sein. Hinter vorgehaltener Hand tuschelte man natürlich, dass es vor allem die Mondwächter seien, die nun erst eintrafen, um sich den Wanst auf Kosten rechtgläubiger, hart arbeitender Menschen vollzuschlagen. Für einige andere Leute mochte das etwas bedeuten, für Viktor war es aber vor allem zusätzliche Ablenkung. Sowohl für ihn und Gwendolyn, als auch für die Erwachsenen, die ein Auge auf alles unter dem Alter der kleinen Indoktrination hatten. Der Platz brummte nur so vor Gesprächen, Gelächter, Musik und Jubel.
Als die Bediensteten gerade das nächste Bierfässchen heraus trugen wusste Viktor, dass es nun an der Zeit war, zuzuschlagen. Er schlich um den Wagen herum und tauchte in der Menge unter. Wenn man als Jugendlicher in einer Welt der Erwachsenen lebt, lebt man in einer Welt der Riesen. Nicht selten wurde er angerempelt, zumeist von angetrunkenen Gästen, und noch öfter wurde er einfach beiseite geschoben, wenn sich zwei alte Freunde begrüßen wollten. Dennoch ließ es sich nicht vermeiden, dass diese Stimmung auch ihn etwas ansteckte und ihm ein Gefühl der Zuversicht vermittelte. Ja, so ausgelassen, wie der Abend war, so einfach würde auch die Sabotage von ihm und Gwendolyn vonstatten gehen.
Stück für Stück näherte er sich so der Bühne an. Ganz in der Näher hockte ein älterer Mann mit Backenbart auf einem kleinen Stuhl und schaute düster drein. Das erregte Viktors Aufmerksamkeit, passte dieses Gesicht doch ganz und gar nicht zu der freudigen Atmosphäre, die überall um ihn herum herrschte. Die Logik von Heranwachsenden zieht, wenn nicht immer korrekte, so doch meist schnelle Schlüsse: Das war ganz bestimmt ein Aufpasser, es musste einer sein!
Also musste er verschwinden.
Viktor nahm sich einen Moment, kaute auf einigen kleinen kandierten Früchten herum, die er auf dem Weg eingesammelt hatte, und betrachtete den Mann. Der Alte war ganz und gar nicht glücklich über seine Rolle und er schwitzte leicht in der untergehenden Sommersonne. Letzteres könnte aber auch an seinem viel zu engen Gehrock liegen, der sich über seinen Leib spannte. Sicherlich hatte er nur diesen einen dabei, dachte Viktor. Wenn man ihn also beschmutzte, so müsste er ihn waschen, um wieder vorzeigbar auszuschauen. Die Zeit, die er dafür braucht, könnte reichen um sich hinter die Bühne zu schleichen. Vielleicht Kuchen? Oder Wein?
Der Plan reifte und Viktor streifte durch die Menge, um sich einen Kelch voll Wein zu organisieren. Kurz erblickte er Gwendolyn, die sich gerade im Gespräch mit jemandem befand, den er nicht sehen konnte. Wie sie wohl vorankam? Sicherlich nicht besser als Viktor, so viel war klar.
Er musste einen Bediensteten für etwas Wein gar nicht so lang überreden, wie er vermutet hatte. Nicht zuletzt, weil, wie ein Heiliger, der weinselige Onkel Linhart vorbei schwirrte und in die Welt trompetete, dass Viktor alt genug für einen Becher sei und er das schon mit dessen Vater klären würde. Schulterklopfend drückte er Viktor einen Kelch in die Hand.
„Trink, Vik! Macht einen Mann aus dir, der Wein.“
Viktor hasste es, wenn man den Namen abkürzte. Nichtsdestotrotz konnte er sein Glück kaum fassen. Manchmal fiel einem das Glück wortwörtlich einfach in die Hände.
„Danke, Onkel Linhart. Vater hätte … „
„Na nun trink schon, Vik, mein Junge.“ Ich bin nicht dein Junge, dachte er.
„Ja gleich, ich will nur kurz noch...“ Er wollte sich absetzen und seine neugewonnene Waffe in Sicherheit bringen.
„Komm, stoß mit deinem alten Onkel an. Weil er jetzt unter der Haube ist. Und weil du zum Mann wirst.“
„Aber...!“, versuchte er noch zu widersprechen. Das lief aus dem Ruder.
„Nichts aber, mein Junge. Komm, hoch den Becher. Jetzt. Du willst mich doch nicht enttäuschen!“
Viktor erstarrte, dann führte er den Becher ganz langsam zum Mund. Zaghaft nahm er zwei Schlucke. Wein gefiel ihm nicht. Er hatte so einen merkwürdigen Nachgeschmack und war viel zu säuerlich. Und dann geschah es schon und Viktor schwappte der Wein zu den Mundwinkeln hinaus. Gerade so konnte er noch einen kleinen Schritt zurück machen, ehe der Wein das gute Hemd befleckte. Allgemeines Gelächter ertönte und erst jetzt wurde er gewahr, dass Onkel Linharts Hand unter dem Becher war und ihn angehoben hatte um Viktor schneller trinken zu lassen.
Die Augen zu Schlitzen verzogen wandte er sich ab und verschwand mit einem halben Becher voll Wein in der Menge. Das Lachen folgte ihm noch lang nach, wie ein Wolfsrudel dem Hirsch.

Er beschlich sein Opfer. Der Backenbärtige verstand sein Handwerk, so viel war deutlich. Er war ein wirklich guter Sitzer und Gucker. Hinter dem kleinen Hocker befanden sich tatsächlich nur die Leute, die dort hin sollten: Die Musiker, deren Mädchen und Jungs, die ihnen zujubelten und schöne Vergnügungen für schön gespielte Stücke versprachen, Bedienstete, um die Kehlen zu ölen, Freunde und Bekannte, die den Musikern gut zusprachen und mit ihnen tranken, ein verwirrter Onkel dritten oder vierten Grades, eine alte Matrone, die nicht bereit war, sich abweisen zu lassen und sonst noch mehrere Leute, die Viktor nicht eindeutig zuweisen konnte. Er war sich sicher, dass jeder einzelne von ihnen für einen reibungslosen Ablauf des Bühnengeschäftes vonnöten war, sonst wären sie nicht am Spanngehrock vorbeigekommen. Es störte ihn aber wenig. Sein Opfer saß all dem Trubel vor und hatte mit seinem Bart etwas von einer Dogge. Allein schon, wie er die Lefzen hängen ließ und seine Beine krumm über den Hocker ragten. Ja, dieser Mann hatte etwas durch und durch Hundisches. Einzig stand es zu hoffen, dass er nicht auch noch über einen doggenhaften Geruchssinn verfügte.
Viktor nahm seinen Mut zusammen und marschierte los, den Kelch in der Hand wie eine Standarte. Oder eine Pike. Eine Pike, das war es! Und er würde sie direkt ins Herz des Feindes stemmen um an den Schatz zu geraten. Den Weg frei räumen für die Kavallerie, damit sie den gegnerischen Fürsten hinweg wegen konnte. Und da er sich nicht auf Gwendolyn verlassen konnte, war er selbst sowohl Pikenier als auch Kavallerist. Ein glorreicher Tag.
Mehrfach wand er sich genau im rechten Moment unter Ellenbogen und Bäuchen entlang, schlüpfte zwischen zwei Herren hindurch, die ihre Wege kreuzten und nahm hinter einem Rüschenrock Deckung. Wenn die Dame sich nicht bewegte, so würde er den perfekten Blick haben und dennoch beinahe unsichtbar für den Feind sein können. In dem Becher waren noch mehrere Schlucke flüssige Pike. Bereit für den Einsatz an der Front. Wenn die gegnerischen Linien erst gebrochen waren, würde er einfach hindurch spazieren können. Er nahm Maß.

Gerade wollte ihm der Becher von der Hand schnellen, als etwas in sein Sichtfeld trat. Ein Alptraum aus Rüschen und Perlen. Aus glitzerndem Geschmeide. Aus allen geschmacklosen Extremen der Modegeschichte. Jedes für sich war gewiss etwas zum Bestaunen gewesen, doch im Zusammenspiel war es, als spiele ein Orchester Töne, die nicht in Harmonie zueinanderstanden. Nur eben ein Orchester für die Augen.
„Was ma...“, begann ihre hohe, stets vorwurfsvolle Stimme noch, als der Becher auch schon flog. Mit einem feuchten Geräusch verteilte sich der Wein in den Falten des Kleides, sog sich in Rüschen und Spitze und tropfte von Juwelen hinab, um weiter unten noch mehr Schaden anzurichten. Der tiefrote Wein wirkte im ersten Moment tatsächlich so, als habe Viktor mit einer Pike zugestochen. Für einen Moment war er fasziniert davon, wie effektiv der Stoß war. Hätte er den Richtigen getroffen, so wäre der Augenblick des Triumphes nahe gewesen, aber so war es eher, als hätte er den unschuldig beistehenden Bauern, auf deren Feldern sich die Fürsten mit ihren Pikenieren und Kavalleristen schlugen, die Lanze bis zum Anschlag in den Bauch gerammt und heraus posaunt, dass der Bauer nun nicht mehr zu hungern habe.
Der Gedanke verlor sich, als ihm aufging, was er da getan hatte und für einen Moment war er mit dieser Erkenntnis ganz allein gelassen. Obwohl die Menge nur so brummte ging von Alma, denn um niemand anderen handelte es sich, tödliche Stille aus. Doch dann konnte sie nicht mehr an sich halten und schrie. Sie schrie und schrie und schrie, so dass die Erwachsenen in der Nähe erschrocken zurückwichen.
Viktor lief das Blut in den Kopf. Er war erwischt worden. Erwischt und gestellt. Er musste fliehen.

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„Du … du … du dreckiger ...“, ihr fehlten vor Zornesbeben offenbar die Worte. Ihre Lippen waren so weiß zusammen gepresst wie ihre schmalen Fäustchen und jeder Ton ein Zischen.
„Du Wüstling!“, schnaubte Alma, sich letztlich doch dazu durchringend, die Sprache des gemeinen Volkes zu nutzen. Der Kreis der Basen zog sich langsam enger um ihn. Früher, erinnerte sich Viktor, waren all diese Mädchen seine Spielkameradinnen gewesen. Es erschien ihm merkwürdig, dass er sich ihnen nun so fremd fühlte, getrennt durch Geschlecht und wenige Jahre Kontaktlosigkeit. Er hatte allerdings keine Gelegenheit, den Gedanken ausführlich zu verfolgen, denn schon stand Alma vor ihm und ein dünner anklagender Finger bohrte sich ihm zwischen die Rippen wie ein Degen.
„Viktor Veltenbruch, du wirst für das bezahlen, was du mir angetan hast!“ Fackelschein schlug sich auf ihrem Gesicht nieder und verwandelte die Schatten darauf in tanzende Schreckgespenster.
„Alma, ich wollte nicht ...“, der Beginn seiner Verteidigung war so lahm wie ihr Inhalt. Nichts, was er jetzt noch sagen konnte, würde ihn retten. Außer vielleicht …
„Es tut mir leid, Alma. Gwen hat mich gezwungen, es zu tun.“ Der letzte Pfeil. Und er traf. Almas Gesichtsausdruck veränderte sich sofort. Viktor war immer davon ausgegangen, dass zwischen den zwei Mädchen noch mehr stand. Oder hatte diese Änderung nur etwas mit dem flackernden Licht zu tun?
„So, Gwenny, hm? Und warum sollte sie wollen, dass du mir Wein auf das schönste Kleid von Meister Buretti schüttest? Das Kleid hat nämlich mehr gekostet als der schäbige Wagen, auf dem ihr hier angereist seid.“ Sie schien kurz zu überlegen. „Viel mehr, weil's nämlich echt wirklich sehr schön ist“, lautete ihr Fazit.
„Weil sie eifersüchtig ist. Ganz klar. Ich mein, guck sie dir doch an. Sie hat nicht mal ansatzweise so schöne … äh ...“
Viktor wuschelte etwas an Almas Ärmel auf, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen.
„Rüschlingschlaufen mit Juwelutionen auf Spitzbesatz“, klärte sie ihn nüchtern auf.
„Schlüpfraupen mit Juwelowas auf spitzenmäßigem … ja, davon. Gwendolyn war wütend und wollte dir den Abend zunichte machen.“
Tief die Luft einziehend richtete sich Alma auf und taxierte den begrenzten Horizont. In diesem Fall bestand der aus den Bäuchen der Erwachsenen.
„So ist das also. Und...“, Sie wand sich wieder Viktor zu und stieß ihm, begleitet von einem teuflichen Lächeln, erneut den Finger in die Brust. „Sie wird bekommen, was sie verdient. Und du auch!“
Sie warf sich in eine pompöse Pose, was ihre Entourage dazu anregte, kleine Seufzer der Begeisterung und der Anbetung auszustoßen.
„Ich? Wieso ich?!“
„Weil du und Gwenny was Fieses im Sinn habt. Mehr, als nur mir mein Kleid zu versauen. Das kann ja jeder candarische Schafshirte erkennen.“ Sie richtete sich auf und schaute durch die Menge, wo Viktor einen Augenblick Rot aufzublitzen ahnte. Ein sinistres Lächeln schlich sich über ihr Gesicht wie ein Meuchelmörder über die Dächer der Stadt. Die nächsten Worte brachten seinen Magen zum Gefrieren. „Und das werde ich petzen.“
"Novizen, die ich segne, sind großindoktriniert. Nicht."
-Elian


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