Somnium
#1
[Bild: jr2o-43-5ae3.gif]


Es war still. Zu still wie sie fand. Normalerweise müsste zumindest das umtriebige Nachtgetier zu vernehmen sein. Käuzchen, Eulen, das schrille Fiepen der Fledermäuse oder einfach nur das Rascheln im Geäst. Doch da war nichts. Über ihr erstreckte sich in einer endlosen Weite der nachtblaue Himmel und in diesem strahlten die Sterne heute besonders hell. Auch der Mond gewann allmählich mehr und mehr an Kraft. In wenigen Tagen würde er voll und rund die Wiesen und Felder in sein knochenbleiches Licht hüllen.

Sie stand auf dem Weg und atmete durch. Ihr Blick wanderte an sich herab. Sie trug ihr dünnes Nachtgewand und spürte mehr als das sie es sehen konnte, dass ihre Füße nackt waren. Kniehoch umgab sie der Bodennebel, der in dünnen, feinen Fäden von den verdorrten Wiesen herüber wehte und die Umgebung in sein graues Gespinst hüllte. Sie setzte einen Fuß vor den anderen. Immer wieder tastete sie vorsichtig mit den Zehen über den verborgenen Untergrund nach spitzen Kieseln. Doch jener war kühl und glatt, wie vom steten Meer blankpoliert.

Dies musste der Traum sein, den die Ratsjüngste prophezeit hatte. Der, der die zweite Prüfung begleiten sollte. Sie fror nicht, obwohl die Umgebung deutlich auf ihre Kälte hinwies und auch die Baumkronen waren dürr und leer. Es war, als wäre bereits Winter in Ravinsthal, obwohl doch erst der Herbst angebrochen war. Vatenprüfung…natürlich! Dieser Traum ist nicht aus dem hier und jetzt, sondern aus der Zeit, die noch kommen würde. Die nackten Füßen hinterließen keinen Laut auf dem harten Untergrund. Es schien als würde der Nebel jedwedes Geräusch verschlucken.

Als der Weg sich zu gabeln begann, hielt sie inne. In der Mitte der Gabelung befand sich ein Schrein. Sie konnte nicht erkennen, wem er gewidmet war, aber eigentlich konnte es nur einer zu Ehren Lyons sein, denn die seinen befanden sich zumeist an Kreuzungen und Handelswegen. Ihr Blick wanderte nach links den Weg hinauf und dann nach rechts. Sie blinzelte verdutzt. Die beiden Wege waren vollkommen identisch … sogar bis auf den kleinen, verkümmerten Busch, dessen einziger langer Ast über die Hälfte des Weges wuchs. Selbst die drei großen Felsbrocken fanden sich wie bei einem Spiegelbild auf der anderen Seite wieder. Wie sollte sie so herausfinden, welchen Weg sie wählen sollte?

Sie trat näher an den Schrein und obwohl sie noch immer kaum etwas von jenem erkennen konnte, spürte sie die Macht die er ausstrahlte, die Kraft die ihm innewohnte…ganz allein geschaffen von von dem Glauben der treuen Anhänger des Pantheons.

Verzweifelt wollte sie sich schon wieder abwenden, als sie das Flüstern vernahm. Sie vermochte erst nicht sicher zu sagen, ob es männlich war oder weiblich, doch nach einer Weile glaubte sie darin die Stimme der Ratsjüngsten erkennen zu können.

„…Du musst auf dein Herz hören…“

Wieder ein tiefes durchatmen, was in jener unnatürlichen Stille so unmenschlich laut erklang. Sie schloss die Lider und konzentrierte sich. Sie ignorierte das Rauschen des Blutes in ihren Ohren, das Zucken des Pulses an ihrem Hals und auch das Atmen wurde ruhiger und langsamer.

Dann hörte sie es. Erst nur leise, dann immer eindringlicher und lauter bis es irgendwann die Stille gänzlich auszufüllen schien.

Von rechts erklang eine lockende Stimme. Auffordernd wie ein Singsang. Sie kannte sie und doch wusste sie nicht, wem sie zuzuordnen war. Sie war verheißungsvoll, versprach die Lösung aller Probleme und immerwährende Sorgenfreiheit. Eine malerische Zukunft mit Erfolg, ewiger Liebe und der Erfüllung ihrer geheimsten Träume.

Doch von links hörte sie Schritte. Nicht nur die von einer Person und auch nicht die von zweien. Es waren die schweren Schritte vieler Menschen. Bedrohlich und gleichmäßig, als würden sie marschieren. Es klang, als wäre eine Arme auf dem Weg. Eine die nichts Gutes verhieß und etwas mit sich brachte, das sie durch und durch beunruhigte. Sie meinte auch Stimmen zu hören, die Befehle bellte und den Trupp antrieb.

Sie schlug die Augen wieder auf. Das also war die Entscheidung?

Sie kaute auf der Unterlippe. Es war doch nur ein Traum…einer der nicht zählte, so wie all‘ diese anderen. Oder doch nicht? Ihr Blick fiel auf den Schrein. Oder war es eine wirkliche Entscheidung…eine mit Konsequenzen? Die Sicherheit der Zukunft gegen die dunkle Ungewissheit?

Kaum merklich, ging eine Bewegung durch ihren Körper und sie wand sich in die eine Richtung. Im ersten Moment dachte sie, sie hätte keine Kontrolle über sich selbst, doch im nächsten wurde ihr bewusst, dass sie es selbst war, die sich entschied. Es war die Entscheidung, die aus ihrem Inneren hervortrat…die Entscheidung des Herzens.

Sie lief langsam auf die linke Abzweigung zu. Ihre Gedanken erfüllte die Antwort auf eine ungestellte Frage.

Nur weil es ungewiss war, muss es nicht heißen, dass sich ihre Wünsche nicht doch noch erfüllen würden.

Es würde nur nicht so einfach sein.

Ihre Schritte wurden sicherer und ihr Gang aufrechter, bis plötzlich der Boden unter ihr nachgab.

Sie stürzte dem Lärm entgegen. Dem der tausenden Schritte, die diesen Weg begingen…dem der diese Welt beherrschte. Sie fiel tiefer in die Leere, doch sie verspürte keine Angst, denn sie wusste ziemlich genau was als nächstes geschehen würde.

Sie erwachte. Sie war nicht schweißgebadet, wie man es in diesem Moment vielleicht erwartet hätte, aber sie fühlte sich steif, als wäre Blei in ihre Knochen gegossen worden während sie schlief. Mühsam schlüpfte sie aus ihren Laken und schlurfte in die Küche um sich ein Glas Wasser zu genehmigen.

Sie hatte keine Ahnung, ob die Vatin über diesen Traum einen Bericht erwartete. Sie würde wohl einfach abwarten müssen, ob sie danach fragte.

Beiläufig fiel ihr Blick durch das Küchenfenster in die Nacht hinaus. Die Sterne waren wirklich ungewöhnlich hell in dieser Nacht…
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