[FSK-18] Wenn Sterne brechen...
#1
Noch ewig hallte das zarte und doch grelle Kinderstimmchen in ihren Ohren, es wollte und durfte nicht verstummen. Man riß die beiden Geschwister auseinander, Kinderarme klammerten sich verzweifelt aneinander, Tränen vergießend im Wissen, dass es kein Erbarmen gab.
Gnadenlos wurden die Schwestern getrennt, die Stiefmutter hatte dafür gesorgt, dass ihrem neuen Leben nichts, was an die geliebte Erstfrau erinnerte, zurück blieb. Warum der Vater all dies so seelenlos über sich ergehen ließ, war Erin bis zu dem heutigen Tag ein schmerzhaftes Rätsel geblieben, sie hatte gelernt ihn zu hassen und zu verabscheuen, wie es nur einem Verräter zustand.

Erin musste mitansehen, wie ihre Schwester an ein kinderloses Paar gegeben wurde, all ihr Bitten und Flehen wurde lediglich von beissenden Ohrfeigen der Stiefmutter begleitet, während die Schwester weinend in der Ferne verschwand.
Ihr Leben wurde von Trauer überzogen, denn nicht nur, dass der frühe Tod der geliebten Mutter schwer an dem Kinde nagte, tat auch der Verlust der jüngeren Schwester das Übliche und nahm ihr jegliche Zuversicht.

Jahre gingen ins Land, Erin wuchs heran, verdiente sich ihr täglich karges Brot auf verschiedensten ravinthaler Höfen, wurde zum Ästesammeln in den Thalswald geschickt, ja gar zum Schürfen in der Mine musste das junge Mädchen herhalten.

Doch stets malte sich Erin das Wiedersehen mit ihrer kleinen Schwester aus, es hob ihre Stimmung in Zeiten düsterster Not, auch wenn ihr mit jedem Jahr welches verstrich, bewusst wurde, dass Träume den Träumen gehörten.

Es war in ihrem siebzehnten Winter, dass ein eisigkalter Wind über das Gebirge zog, und keinen Winkel Ravinsthal's verschonte. Sie lag noch fröstelnd auf ihrem Strohlager, des Bauers Vieh würde bald unruhig werden, denn mit dem ersten Licht war's mit der Ruhe vorbei, der Hof würde erwachen. Erin hüllte sich in die geflickte Jutedecke, noch ein wenig liegen wollend, die Arbeit des Tages vor sich herschiebend, als sich die Türe der Scheune zu öffnen schien. Schwere Stiefel näherten sich ihrem Lager, nur schwach konnte Erin die wuchtige Form des Bauern ausmachen.
Sie roch seinen Atem als er sich zu ihr herabbeugen wollte, fühlte seine grobe Hand, die den Jutesack erfasste und von ihr riss, seine Hände an sie legend, als wäre sie eine der Huren Rabensteins. Noch nie zuvor hatte er sich ihr so genähert, ihr nie Anlass zur Furcht gegeben. Erin lag wie erstarrt auf dem Stroh, fühlte ihr Herz bis in den Hals hinauf trommeln, ja vor Angst und Ekel aus allen Fugen springen wollte. Die Hände des Bauern wurden immer zudringlicher, rissen ihr das grobe Nachtgewandt entzwei. Sie griff nach dem erstbesten Gegenstand und schlug wie wahnsinnig vor Angst nach dem Bauern, fühlte warmes Blut über ihr Gesicht rinnen, wandt sich wie ein Frettchen unter der schwer auf ihr niedergesunkenen Person heraus, wie im Wahn ihre Kleidung fassend und rannte was das Zeug hielt, nicht vorher innehaltend, bevor sie die Mauern und Zäune Rabensteins erreicht hatte.
Erin drückte sich in einen verlassenen Hauswinkel, zitternd und blutig, immer noch nicht wissend, ob es das ihre oder das Blut des Bauern war.
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#2
Zurück blickend, hatte Erin es wohl Flint zu verdanken, dass sie den Winter überlebte, er und seine Jungs, waren es, die ihr all das beibrachten, was von Nutzen war und einem den Kopf über Wasser hielt. Niemand sagte, dass ihr Leben sicherer wurde, doch zumindest bestimmte sie nun über sich und ihr Schicksal. Während sie dem Kerl in der Gasse hübsche Augen machte, stahl Flint ihm die Geldkatze, während sie eine Ohnmacht vortäuschend in die Arme eines fetten Bürgers glitt, zog Flint jenem den dicken Klunker vom Finger. Junker kaufte alles an was nicht niet und nagelfest war, es war nie viel, was man ihnen dafür gab, doch reichte es für Brot und Wein und auch mal für ne warme Mahlzeit von der alle was hatten.
Flint's bohnenlange Gestalt war nicht dazu geeignet ungesehen in den Gassen zu verschwinden, stets wippte sein kecker Federhut Meilen voraus, sodass jeder gar zu leicht folgen konnte, wären da nicht die anderen gewesen. Plunk, Gertchen, Rabe und Zunder. Sie kannten sich scheinbar schon ewig, wussten um die Schwachstellen der anderen und gaben ihre Seele wenn einer der ihren in Schwierigkeiten steckte und lockten jedenverfolger stets auf die falsche Fährte.
Sie hatten Erin als ihr "Mädel" auserkoren, sie zu schützen und zu umsorgen, war jedem das Liebste, ja es gab's regelrecht alberne Streitigkeiten, jeder warb um ihre Gunst. Für Erin jedoch waren sie die Familie, die sie so lange hatte entbehren müssen, sie standen füreinander ein und hätten wirklich alles getan, um einen der ihren vom Strick zu schneiden, wenn es denn drauf angekommen wäre.
Flint hatte sein Lager nahe an Erin's aufgeschlagen, die alte brüchige, lausige Hütte zwischen zwei Mauern bot den Jungs, wie sie sich nannten eine bescheidene Zuflucht. Niemand störte sich dran, Armut gab's in Rabenstein wie eh und je, und die hohen Herren steckten ihre Nasen nicht ihr Viertel und gaben Ruh und Frieden.
Flint hatte es sich von Anbeginn zur Gewohnheit gemacht, dem jungen Mädel Geschichten zu erzählen. Es verging nicht eine Nacht, ohne dass Erin einsam einschlafen musste, stets sank sie mit Flint's Erzählstimme in den Schlaf, wohlig und sanft die Fortsetzungen seiner Geschichten fortführend. Erin träumte oft von der kleinen Schwester, dunkel das Haar, blau und grün die Augen.
Das Leben schien nicht besser sein zu können, die Sonne lachte den Jungs, bis zu dem Tag, als Zunder Flint verriet und niemand, ja gar niemand dem armen Kerl helfen konnte. Zunder war von Eifersucht getrieben, hatte sich in Erin's Nähe gewünscht, doch war abgewiesen worden und schwor Rache in seinem verletzten Stolz und gedemütigtem Herzen.
Flint jedoch fand sich auf dem Richtblock wieder während Erin mit weinendem Herzen zusah, wie sie ihn verstümmelten.
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#3
Es galt nicht als etwas Besonderes einem Dieb Nase, Ohren, Hände oder Finger abzuschneiden, und doch schien sich der Pöbel an solcherlei Schauspiel immer wieder aufzugeilen, ja man ermutigte keifend und jauchzend den Henkersknecht zu allerlei Obszönitäten, als könne man selbst nicht genug von Leid und Blut bekommen. Flint's Jungs, die nach einem rasch niedergeschlagenem Aufbegehren von zwei stämmigen Wachleuten in eine hintere Ecke gedrängt worden waren und erhebliche Prügel kassierten, verhinderten nicht, dass Flint unter einem grausigem Schmerzensschrei seine rechte Hand verlor und ohnmächtig in die Gosse gestoßen wurde.
Schon bald stob die geifernde Menge auseinander um ihren alltäglichen Pflichten zu fröhnen, doch Erin eilte zu Flint, einen Lappen um seinen blutenden Stumpf bindend, und wusste, dass es um Leben und Tod ging, die Blutung musste unterbrochen werden. Da kam auch schon Gertchen herbei, wickelte ein festes Lederband um den Arm, die Adler abbindend. "Müssen es ausbrennen lassen, verdammt, er stirbt sonst", ächzte Gert und Flint wurde zum Schmied getragen, noch nicht wieder zu Sinnen gekommen würde ihm das glühende Eisen auch nicht mehr schaden als die Axt des Henkerknechtes.
Und während es nach verbranntem Fleisch roch, hielt ihn Erin fest in ihrem Arm, streifte die schweissnassen Haarsträhnen aus dem kargen, sonst immer so lebensfroh anmutendem Gesicht, leise die Götter um Gnade bittend.
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#4
Tage, ja wochenlang wurde Flint wie ein Kind umsorgt. Erin fütterte und wusch ihn, verband die übel aussehende Wunde so oft sie auch nur ein Stück sauberes Leinen stehlen konnte. Flint's Fieber wollte nicht zurückgehen, er blickte mit seinen blassblauen Augen durch sie hindurch, als wäre alles was diese Welt betraf keines Blickes würdig. Doch Erin und die Jungs blieben, jeder trug seinen Teil bei und es rührte Erin zu Tränen wenn sich Plunk, Gertchen und Rabe zu ihm setzten und ihm Geschichten erzählten, so wie er es wohl für jeden von ihnen seinerzeit getan hatte.
Erin jedoch, legte sich jede Nacht zu ihm, ihn wärmend und fest in den Arm nehmend, denn das waren die Stunden, in denen Flint am ärgsten litt. Sie versprach ihm an seiner Seite zu bleiben, solange er sie brauchen würde und teilte sein Leid so gut es ging, in der Hoffnung, dass geteiltes Leid, halbes Leid wäre.
Rabe hatte Honig ergattern können und bestrich die Wunde damit, meinte, die Heilerin hätte ihm dazu geraten, während die anderen misstrauisch murrten, jedoch nichts besseres entgegenzusetzen hatten. Und tatsächlich sank Flint's Fieber und die Wunde heilte. Flint's Seele jedoch blieb gebrochen, zu schwer war sein Verlust.

Es mag Wochen später gewesen sein, eine Zeit, an denen Erin und die Jungs von einem ihrer Beutezüge heim zu Flint kamen, als er sie zu sich zog, seine verbliebene Hand über ihre Wange führte und ihr leise von einem seiner Fieberträume erzählte, einem Traum, der jede Nacht wiedergekommen war, dem Traum, in dem er ihre kleine Schwester sah, ein Mädel mit verschieden farbigen Augen, eins blau, eins grün. "Sie sucht dich Erin, doch findet sie dich nicht. Da ist ein Schatten um sie herum, er machte mir Angst. Du musst gehen und nach ihr sehen... lange genug hast du nun neben mir gehockt, geh und suche sie!"
Erin jedoch schüttelte vehement den Kopf, Flint sanft umarmend, still in ihr jedoch loderte nun ein Feuerwerk, was wenn Flint's Träume mehr als nur Fiebergespinnste waren?
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#5
Erin umsorgte weiterhin Flint, der Stumpf war gänzlich verheilt und doch war er des Nachts stets von unerklärbaren Schmerzen geplagt. "Wie könnte ich dich so allein lassen, es wird nicht besser, ich will nicht riskieren, dass es dir noch schlechter geht. Wer wird nachts deinen Schmerz lindern, wer dich am Leben halten?" Doch Flint zog sie nur näher an sich heran und versuchte sein gequältes Grinsen in ein freches zu verwandeln. "Da gibt's doch noch Gertchen, der liegt sicher nur allzugerne bei mir, meinst nicht?"
Sie feixten noch etwas miteinander, Erin versuchte dem Dürren etwas Haferbrei einzuflößen, und lag noch lange wach während dieser erschöpft wegschlummerte. Auch wenn sie sich dazu entschliessen sollte die Schwester zu suchen, wo sollte sie beginnen? Es waren so unzählig viele Jahre vergangen, aus Kindern waren Erwachsene geworden, wie alt wäre sie nun, neunzehn, zwanzig? Erin drehte sich liegend auf eine Seite, schob den Ellenbogen angewinkelt unter ihren Kopf, die Stirn gegen Flint's Rücken gedrückt. Wohin hatte das Paar die Kleine gebracht, nach Servano, Hohenmarschen, Candaria? Fragen um Fragen zirkulierten ohne wirklich Klarheit zu bringen. Als zusätzliches Problem stellte sich die geschlossene Grenze dar. Ravinsthal konnte nur über geheime Bergpassagen verlassen werden, ein Zurückkehren wäre sogar undenkbar! Erin wollte nicht von Flint und den Jungs getrennt sein, einmal in Servano, würde sie warten müssen, bis Ravinsthal seine Tore öffnete. Aber Flint's Träume hatten nicht aufgehört, immer wieder sprach er von dem Mädel mit zweifarbigen Augen und etwas Bedrohlichem, welches nach ihrem Leben tastete. Erin musste gehen, und wenn es das Letzte war, was sie für ihr altes Leben tun würde. Und so erhob sie sich um leise ihr weniges Hab und Gut zu packen und weckte Flint.
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#6
Es war wichtig rasch zu gehen, lange Abschiedszeremonien hätten ihr Vorhaben zunichte gemacht. Sie blickte erst zurück, als die Wege des Gebirges steiler und schmaler wurden und Gertchen anhielt, seinen Arm in Richtung eines schmalen steinigen Pfades streckte und leise sprach:" Weiche nicht von diesem Pfad bis er sich schließlich gabelt, dann halte dich nach rechts. Sowie du das Rauschen eines Wasserfalls vernimmst, wird die Grenze nicht fern sein, doch gib acht und halte dich verborgen, allerlei Kroppzeug bewegt sich durch's Gebirge." Erin hatte ihre kleine Armbrust geschultert, ein Messer im Stiefel versteckt, ein letzter, langer Blick suchte Rabenstein. "Sorg' dich nicht um Flint, ich werd' auf ihn achten. Nur verdammt nochmal, sieh zu, dass du nicht zu lange fort bleibst, du weisst, dass nur du es bist, weshalb er noch morgens die Augen öffnet," ermahnte Gertchen und hinterließ in Erin ein übles Gefühl von Unbehagen. "Und überhaupt", setzte Gertchen noch nach, " solltest du dir langsam Gedanken machen, was du für ihn empfindest, wie lange willst du denn das so machen, hm?" Erin erstarrte als der Freund dieses so heikle Thema ansprach. Niemand stand ihr so nah wie Flint, dass wussten alle, und doch blieb die eine Frage unbeantwortet.
Ein letzter Blick gen Ravinsthal, eine letzte Umarmung unter Freunden und schon war Erin verschwunden, rasch und leichtfüßig dem Grenzgebirge entgegen.
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#7
Die steilen Gebirgspfade erschöpften Erin, immerzu legte sie eine Pause ein und bald war sicher, dass sie die Grenze nicht vor dem Abend erreichen würde. Die Dämmerung zog sich bereits über den Horizont und Erin beschloß unter einem geschützten Felsvorsprung zu übernachten, häufte einiges an trockenem Laub an um darüber das zusammengerollte Fell zu legen, den Rücken an die Wand gelehnt schlüpfte sie aus den Stiefeln, ihre geplagten Füße kühlend. Bald schon spähten ihre Augen ins Dunkel der Berge, jedem kleinsten Geräusch lauschend, ängstlich, das Messer in der Rechten, die gespannte Armbrust daneben. Die Dunkelheit und die vereinzelten Rufe der Nachtvögel ließen ihre Lider schwerer werden und gedanklich glitt sie zurück in die Rabensteiner Hütte, schmiegte sich an Flint's schlanken Rücken und hörte sich leise erzählen:" Als Anna geboren wurde, hatte sie bereits das süßeste Lachen aller Zeiten. Jeder der sie sah, war ganz vernarrt in sie. Mutter jedoch bemerkte, wie ich ein wenig hintenan stand und sie kam zu mir und schenkte mir einen halbmondförmigen Anhänger der an einem weichen Lederbändchen hing. "Für dich ist der Mond mein Kind, und für deine Schwester die Sterne, damit ihr beiden dem Himmel und somit den Göttern nahe seid und ihr euch nie aus den Augen verliert" Ein weiteres Kettchen mit sternenförmigen Gebilden behielt Mutter vorerst noch in ihrer Hand.
Und durch das schläfrig süße Traumgewebe, fühlte Erin wie Flint sich zu ihr drehte und sie in seine Arme zog, seinen Blick nicht von ihr nehmend, glitt seine Hand unter ihr Hemd. Ein wohliger Schauer von vertrauter Nähe durchdrang sie, trug sie fort in zarte Höhen, doch mit den schallenden Ruf eines nahen Käuzchens, schlug sie erschrocken die Augen auf und fand sich in ihrem einsamen nächtlichen Lager des unwirtlichen Gebirges wieder. Oh Flint.. sie würde sich entscheiden müssen, bald, noch nicht heute...noch konnte sie bei ihm sein, wenn auch nur in Gedanken.. die Rückkehr war noch nicht in Sicht, erst musste Anna gefunden sein, wenn überhaupt... Gertchen's Worte hallten in ihrem Kopf, mahnend und ernst und ließen die junge Frau nur mühsam einschlafen.
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#8
Mit dem ersten Morgenlicht erwachte Erin, reckte und streckte sich, trank etwas Wasser aus dem Tonfläschchen welches Gertchen ihr zugesteckt hatte und machte sich auf, das letzte Stück der Wegstrecke zu überwinden, hin nach Servano um dort dann die Hauptstadt Löwenstein zu suchen, dem Ort, der viele Menschen beherrbergte, viele Durchreisende sah und vielleicht sogar eine Art Amtsstube vorweisen konnte, in der Suchende Verlorengegangenes wiederfinden konnten. Mit dererlei Hoffnungen gewappnet, setzte sie Schritt für Schritt vorwärts, Rabenstein und die "Jungs" weit hinter sich lassend. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass Erin gänzlich auf sich gestellt war, mutig verdrängte sie aufkeimende Ängste, die kleine Armbrust geschultert machte sie sich eifrigen Schrittes auf, den letzten hohen Pass zu überwinden, und schon bald entgegnete ihr das tosende Brausen eines gewaltigen Wasserfalls. Erin beschleunigte ihren Schritt und fand sich plötzlich direkt vor diesem spektakulärem Naturereignis. Innerhalb kurzer Zeit war ihr Haar und Kleidung mit Millionen kleinster Wassertröpfchen gesprenkelt, das Tosen raubte ihr jegliche Wahrnehmung und neugierig und über alle Maßen beeindruckt, beugte sie sich über den Rand um weit hinabzublicken. Da löste sich der Riemen der geschulterten Waffe, die kleine Armbrust fiel tief hinab, auf ewig verloren. "Schutzlos in einem fremden Lehen", murrte Erin und nahm Abstand zum Wasserfall, die Hand übers feuchte Gesicht führend, ein leises verärgertes Fluchen drang über ihre Lippen als sie schliesslich die restliche Strecke hinter sich brachte. Es ging bergab und zügig führte sie der geheime Pfad seitlich der eigentlichen Grenzstrecke in das Lehen Servano hinab. Das kleine schartige Messer in ihrem Stiefelschaft fühlend, nahm sie Kurs auf Löwenstein.
Eine Siedlung namens Zweitürmen zu ihrer Rechten lassend folgte sie einem gut gepflasterten Weg, sichtlich regelmässig begangen, gesäumt von Feldern und Höfen, Mühlen und einer Taverne. Doch ließ sich Erin nicht ablenken, Löwenstein wollte noch vor Einbruch der Nacht erreicht sein, ein Schlafplatz musste gefunden werden, und soweit sie von Flint wusste, war das Löwensteiner Armenviertel der einzige Ort, an dem man ohne Münzen einen Ort zum Schlafen und ein wärmendes Feuer finden konnte.
Schon bald durchschritt sie das imposante Stadttor, welches von mächtigen Löwenköpfen geschmückt, jedem seiner Besucher einen ordentlichen Batzen Ehrfurcht einbläuen wollte. So zumindest nahm es Erin wahr und sie schlich sich seitlich eines Ochsenwagens an den beiden steif dastehenden Stadtwachen vorbei, unauffällig und ohne Gefahr angesprochen zu werden. Sie war sich ihrer abgerissenen Erscheinung wohl bewusst und würde sie hier halbwegs überleben wollen, sollte ein neuer Wams dazu beitragen, nicht allzu unangenehm aufzufallen.
Und als ob man ihr die Suche nahezu an der Nasenspitze ablesen könnte, wies ihr ein freundlicher, grün gekleideter Reiter den Weg zur Werkstadt einer jungen Schneiderin. Erin raffte ihre wenigen Münzen zusammen und betrat entschlossen die Räumlichkeiten, nur um wenige Stunden später, Besitzerin eines feinen Wams aus Leinen zu sein, warm und praktisch zugleich. Sogar ein paar neue Stiefel und einen Gürtel mit vielen kleinen Taschen konnte sie erstehen, da die gute Schneidersfrau jedem neuen Kunden Rabatt einräumte.
Neu bekleidet konnte sie nun Löwenstein auskundschaften, das wunderbare Kopfsteinpflaster, so ebenmässig, wie es nur von einem Meisterpflasterer gelegt werden konnte nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, zusätzlich gänzlich betört von den schönen Häuserfassaden wandelte die Ravinsthalerin schweigend durch die Stadt des Königs.
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#9
Und es vergingen Tage, Tage an denen Erin die Schönheit der Stadt in sich aufnahm, sich jede Kleinigkeit merkend, den Jungs berichten wollend, daheim in Rabenstein. Doch mit jedem Tage sah sie auch die Armut Löwenstein's. Das Armenviertel lag nahezu abgeschottet hinter zwei Toren, bewacht von jeweils einer Wache um die Hässlichkeit der Armut nicht zuweit in des König's lichte Gemächer einzulassen. Denn wo Armut war, gab es Diebstahl und Mord, Betrug und Hinterlist, doch auch Stimmen, die sich gegen die Obrigkeit erhoben und sich mit ihrem Schicksal nicht abfinden wollten. Erin schlief mal in einem Heuschober am Alten Hafen, mal wieder an der Grenze zu Ravinsthal, einem kleinen Tavernenhof der den Namen "Zum goldenen Raben" trug. Seit sie dort an einem galatischen Thing teilgenommen hatte, war sie mit einigen Mondwächtern in Berührung gekommen und ließ es zu, dass der Alte Glaube, sie umhüllte wie eine warme, wollene Decke, deren Vertrauen einem Stärke und Zuversicht gab. Löwenstein hingegen schien wie ein Nest zu sein, welches rotberobte Legionäre und Priester gebahr, einer hochnäsiger und arroganter als der andere wenn es um die Glaubensfrage ging.
Und dann war da sie - eine junge Frau, nicht älter als zwanzig Lenze mit rabenschwarzem Haar und grünblauen Augen. Und nein, es war kein Gemisch zweier Farben, nein, sondern jedes ihrer Augen hatte eine einzelne Farbe, eines blau, eines grün, wie die Augen meiner Schwester. Es floß viel Portwein und güldener süßer Met an diesem Abend, das Lagerfeuer flackerte fröhlich und Erin ließ die Dunkelhaarige aus ihren Gedanken gleiten, die gute Stimmung wirkte beruhigend auf sie ein, bis sie müde und seelig nahe der Zelte ein ruhiges Plätzchen zum Schlafen fand.
Doch die nächsten Tage waren erfüllt von dem Gedanken, in der Dunkelhaarigen vielleicht ihre vermisste Schwester Anna gefunden zu haben, unnachgiebig suchte sie nach ihr, bis ihr Larija, die Bognerin von einer Frau namens Anouk erzählte, einem Mädchen das etwas sonderlich sei, und diese wohl in Zweitürmen zu finden sei, dort, wo die Silendrische Infantrie untergekommen sei, denn sie würde zu einem der Hauptmänner gehören. Erin murrte bei dem Gedanken, dass womöglich ihre kleine Schwester Opfer lüsterner Soldaten geworden sei, bedankte sich bei Larija für die wunderschön gearbeitete Reiterarmbrust und stiefelte dem besagtem Zweitürmen entgegen, dort jedoch niemand weiter als eine Frau mit einem quiekenden Ferkelchen antreffend. Rasch kamen die beiden ins Gespräch, ja man spendierte ihr sogar Braten und Bier. Besagte Ferkelbesitzerin war Magdalena Jehann, wohl Mitglied eines der angesehensten Familien Zweitürmens, jedoch auch mit einem schweren Schicksalspäckchen beladen. Doch obwohl der Stachel der Bitterkeit aus ihrer Seele nicht gänzlich gewichen schien, zeigte sie sich Erin gegenüber sehr freundlich und wohlwollend und berichtete, dass die Infanterie wohl nur ein Restbestand einer ehemaligen Armee aus Silendir sei, und Anouk die Dunkelhaarige, durchaus nicht gezwungen, sondern aus freien Stücken mit einem der Männer verweilen würde.
So verließ Erin die Siedlung Zweitürmen zwar mit vollem Bauch, aber enttäuscht, die junge Frau nicht gefunden habend. Ihr Weg führte zurück nach Löwenstein, sie wollte die Amtsstube aufsuchen um dort ihr Gesuch einzureichen. Gedacht, getan, fand sie auch dort sogleich Gehör, und ein äussert hübsches und freundliches Fräulein Strastenberg versprach eine Nachricht zu schicken, sobald sie Informationen bezüglich der Adoption eines dreijährigen Mädchens aus Ravinsthal ausmachen konnte.
Die Strasse vom Marktplatz verlassend, schlug sie eine schmalere in Richtung Armenviertel ein, als Erin sie sah! Anouk! Beide Frauen starrten sich an und setzten sich ans Feuer, später in eine Taverne und endlich, endlich konnte Erin all das aussprechen, was ihr auf der Seele lag, Anna's Geschichte vermischt mit der ihren. Sie erzählte von Flint, von den Diebereien, von der Hand die Flint verlor im letzten Jahr und von der Gefahr die über Anna schweben soll. Anouk war tatsächlich ein sonderbares Mädel, still und in sich gekehrt, ja manchmal garnicht anwesend, sondern zwischen zwei Welten hängend. Sie hatte so garnichts von der Fröhlichkeit Anna's, die Augen waren zwar zweifarbig, doch fehlte ihnen das Leuchten und die Freude die ihrer kleinen Schwester so eigen war. Doch konnte das Schicksal ein Leben brechen und ändern, Erin hatte sich entschlossen Anouk als Anna anzuerkennen. Anouk indess blieb zurückhaltend, zwar gab sie zu, in Erin's Gesicht jemanden zu erkennen, doch blieb ihr Herz verschlossen. Schon bald trennten sich die beiden, Anouk zog es zu ihrem Gefährten, er schien ihr Leben zu sein, ihr Alles. Eine Schwester schien da kaum einen Platz zu finden. Erin legte sich in der verlassenen Taverne vor den Kamin, in der Hoffnung diese Nacht im Warmen verbringen zu können und schlief ein.
Da suchte die Wahrheit sie im Traume auf, führte sie durch neblige Felder verblichener Orte bis sich ihr der kleine heimische Bach im Thalwald offenbarte. Anna plantschte nackig, gehalten von Mutter's Armen, jauchzte fröhlich in der Sommersonne und Erin blickte durch die Nebel des Traumes auf Anna'a kleines, herzförmiges Muttermal seitlich auf ihrer rechten Hüfte, Nebel flossen ineinander, die Nacht blieb still und ereignislos.
Schon am nächsten Tage begegnete sie Anouk wieder. Sie stand mit Larija nahe des großen Feuers im Armenviertel, plaudernd und unbeschwert wie es schien. Erin nahm die Gelegenheit beim Schopfe, berichtete von ihrer Erinnerung im Traume und Anouk sah sie nur mit großen Augen an, sich die Hose über die Hüfte ziehend und den Kopf schüttelnd und sagend, dass sie so ein Mal nicht besäße.
Selbst Larija schien betroffen, stellte sich Erin unterstützend zur Seite, während Anouk schon ihren eigenen Angelegenheiten folgend verschwand.
Erin schalt sich dumm, in der Erstbesten ihre Schwester erkennen wollend, doch später bei einem guten Becher von Larijas Portwein wich ihre Enttäuschung gütiger Einsicht.
Anouk wäre nie Anna geworden, und das Schicksal hatte Erin davor bewahrt, in ihr stets die Fremde sehen zu müssen.
Sie würde weitersuchen, und sollte das Schicksal unbarmherzig sein, würde ihr Weg sie schon bald zu Flint zurückführen, jemand der sie brauchte und liebte und ihr ein Heim gab, war's auch nur die schäbigste Hütte Rabensteins.
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#10
Tage waren erfolglos vergangen. Erin hatte sich in allen Gassen Löwensteins umgesehen, jedes Haus still und versteckt beobachtet und nach einem Schwarzschopf Ausschau gehalten. Den letzten Funken Hoffnung raubten ihr die Nachrichten, die ihr das Fräulein Strastenberg und ein Totengräber namens Darkas hatten zukommen lassen, denn weder unter den Lebenden, noch unter den Toten, ließ sich ein Mädchen wie Anna finden.
Das Überleben in Löwenstein bereitete Erin über alle Maßen Schwierigkeiten, zu stehlen getraute sie sich nicht, es wimmelte vor Wachen und die Rotkutten waren auch stets um einen herum. Die Strafen auf Diebstahl waren sicherlich noch grausamer als in Rabenstein, und so sehr sie Rattenbraten verabscheute, beruhigte er doch ihren knurrenden Magen und ließ den Schwindel weichen. Vielleicht sollte sie es so wie die beiden Schlitzohren tun, sich blind oder verkrüppelt stellen und Münzen erbetteln. Doch brachte es Erin nicht über ihr stolzes Herz, sie würde schon zurecht kommen, und lang würde es nicht mehr dauern, dass sie heim zu Flint konnte, heim zu den Jungs und ihrem Leben. Es gab sogar stille und bebende Momente, in denen das Schicksal der jüngeren Schwester unbedeutend schien, und nichts als Leere zurückblieb.
War es Flint's Enthusiasmus zu verdanken gewesen, dass sie diese Strapazen auf sich nahm? Oder was, wenn Flint es garnicht auf das Finden von Anna abgesehen hatte, sondern sein Ziel ganz woanders lag? Was, wenn er den Heiligen und Helden spielen musste und sie von ihm befreit sehen wollte? Erin kroch ein kalter Schauer über den Rücken. Sie drückte sich in eine stille Ecke zwischen zwei löwensteiner Gassen und verharrte dort still, nachdenkend, die Hände fest ineinander verschlungen. Konnte das wirklich sein, oder war es ihr Verstand, der ihr vor Hunger üble Gedanken einflüsterte? Hätte Gertchen von solchen Absichten gewußt? Oder hätte Flint es sogar vor ihm verheimlichen können?
Erin entspannte sich als sie an Gertchen dachte. Er hätte es sie wissen lassen, sie nicht blindlings nach Servano laufen lassen, wenn es keinem gutem Zweck dienen würde. Und das Flint sie mehr als die Luft zum Atmen brauchte, wusste jeder. Erin zwang sich von den quälenden Gedanken Abschied zu nehmen und stieß sich von der Hausmauer ab, einem plötzlichen Einfall folgend, der ihr zuvor noch nicht gekommen war.
Nach vielen verzweigten Wegen und krummen Gassen kam sie endlich ihrem Ziel näher und betrat das Heilerhaus, zuvor rasch das Haar glättend und den Staub abklopfend.
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