Sprecht eure Gebete
#1
Viktor hatte so lang in die Flammen gestarrt, dass seine Augen rot wurden und tränten. Die Hitze in dem kleinen Raum hatte das Sonnensymbol aus Asche, das auf die Stirn zu zeichnen er sich zur Gewohnheit gemacht hatte, wenn er sich besonders kämpferisch in Angesicht von Verdorbenheit fühlte, vor Schweiß verwischen lassen. Ein Geruch von Holzfeuer und warmem Wachs umschmeichelte ihn, dick wie Sirup. Es war sicherlich schon spät, aber im Tempel wurde es nie wirklich Nacht. Es brannten stets so viele Kerzen wie auch am Tag und fast schien es, als erkenne man das Hereinbrechen der Nacht nur daran, dass die großen Buntglasfenster einen anderen Farbton annahmen. Dunkler war es deswegen kaum.
In ihm brannte ein Feuer und es zehrte von seinen Gedanken. Messen, Gebete, Monstren, Mondwächter … Menschen. All das tobte in seinem Kopf umher und er, er starrte nur vor sich hin. Versuchte Ordnung in den Flammen zu finden, in der heiligen Kunst der Divination, die ihm half, seine Gedanken in Bahnen zu rücken, die seinen hohen Ansprüchen genügten. Diese Ansprüche waren es, die dieses Feuer überhaupt erst entzündet hatten. Menschen waren so profan, so schwach, so verdorben und unrein im Kern, und er stand weit darüber. Er war ein Mittler zwischen einem Gott und den Menschen und es war undenkbar, dass der sich selbst auf ihre Ebene begab um ein Leben zu führen, wie es außerhalb der heiligen Mauern tausende taten. Und doch, fast wäre er in den Sog hinein geraten, den die Sterblichkeit auszuüben vermochte. Allein der Gedanke daran versetzte ihm einen Stich. Sicherlich, es ruhte auch in ihm, dieses menschliche, dass ihn fühlen und handeln ließ. Er wollte es auch gar nicht abstreiten, wie sehr ihn manche Dinge berührten. Aber sich ihnen hingeben war undenkbar.

Und dann war da Gwendolyn, die um ihn trauerte, als sei er zu einer Statue verhext worden, der alles Schöne abging! Dass er verkümmere. Nicht in der Lage sei, sich allen Facetten des Lebens widmen zu können. Ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Priester ist ein Ideal, dem andere folgen können sollten. Als ein solches Ideal musste man für alle da sein und wenn man für alle da sein muss, ist es schier nicht machbar, für manche mehr da zu sein als für andere. Manche wären dazu vielleicht in der Lage, so gefestigt im Glauben, dass sie ihre Gedanken auch anderen Dingen zuwenden konnten, ohne im Ganzen vom Weg abzuweichen, doch Viktor war nicht so weit. Wenn er es denn je sein würde, denn das Feuer in ihm brannte und forderte Aufmerksamkeit und Nahrung.
Sie, die kleine Gwendolyn, nun Schülerin seiner Feinde, war ein Scheit in dem Feuer.
Er würde weiter um sie kämpfen, auch wenn sie dafür kein Verständnis aufbringen konnte.

Über die andere … über die wollte er nicht nachdenken. Sich den Gedanken an sie hinzugeben wäre, den Elfenbeinturm zu verleugnen, den er sich aufgebaut hatte. Sie spukte noch immer in ihm herum, ein Geist ohne Wurzeln und er fühlte, dass es Zeit für einen gründlichen Exorzismus war.

Ein Kampf von so vielen. Monstren, Mondwächter, Menschen. Ein Kampf um Seelen, um Reinheit. Er erhob sich und starrte durch die dicken Fenster hinaus auf den Marktplatz, wo im Licht der Morgensonne, das träge und doch unausweichlich kraftvoll über die Stadt floss, die ersten Händler begannen, ihre Waren auszulegen. Getüncht in das Blut des Morgens lebten sie ihre Leben und ahnten doch nichts von den Dingen, die er in den lang erkalteten Flammen der Feuerschale gesehen hatte. Er stand noch lange so da, bis das Morgengebet seine Anwesenheit verlangte. Er würde den Abgrund schon nieder ringen. Mit Worten, Stahl und einem Scheiterhaufen im Herzen.
„Sprecht eure Gebete.“
"Novizen, die ich segne, sind großindoktriniert. Nicht."
-Elian


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#2
Alles hat seine Zeit, sagt man. Es gibt eine Zeit für Krieg, eine für Frieden, eine für Gebete und eine für Ausgelassenheit, eine für Streit … und wenn man es genau nahm, war die Zeit für Streit 'jederzeit' und 'immer'. Streit fand sich in allem und er konnte sich nicht richtig daran erinnern, wann sein Tagesablauf das letzte mal nicht von irgendeinem Zwist bestimmt worden war.
Viktor saß in seinem kleinen Zimmer in der Grenzfestung und gab sich labyrinthischen Gedanken hin. Die Kante des Bettrahmens war höher als der einfache Strohsack, der ihm als Matratze diente, und drückte ihm so in die Rückseite seiner Oberschenkel. Vor ihm lag eine kleine Schüssel auf dem Boden, ein Waschlappen über den Rand gehängt. Wasser war knapp und er hätte schon sehr verzweifelt sein müssen, um das Weihwasser zur Reinigung seines Leibes nutzen, das er mit sich führte. So hatte ein halbfeuchter Lappen reichen müssen. Die Annehmlichkeiten der großen Stadt zu missen verstimmte ihn mit am meisten an seinem selbstgewählten Exil, dabei hätte er es von dem Jahr, das er auf Wallfahrt gewesen war, gewöhnt sein müssen. Wie schnell der Mensch sich doch wieder an Luxus gewöhnen konnte.
Die Einsamkeit seiner winzigen Zelle störte ihn dagegen überhaupt nicht. Das war natürlich eine Lüge, doch als jemand, der so vehement auf die Wahrheit pochte, war Viktor nicht imstande sich einzugestehen, sich selbst zu belügen. Es gab eine Zeit, die Gesellschaft anderer Menschen zu vermissen und es gab eine Zeit, die Einsamkeit schätzen zu lernen. Heute war ihm nach letzterem. Und ersterem. Er konnte sich nicht entscheiden und ärgerte sich ein wenig über die Wankelmütigkeit, die ihn befallen hatte. Und alles lag darin, dass er heute, wie an jedem anderen Tag, gewissenhaft seinen Dienst vollzogen hatte.
Viktors Blick huschte im Licht der Kerze zu der Lederrüstung, die er auf dem anderen Bett im Raum ausgebreitet hatte. Sie glänzte noch leicht von dem Öl, mit dem er seit Tagen versuchte, sie geschmeidig zu machen. Das starre Leder trug sich ungewohnt und es kniff ihn im Rücken. Teils auch, weil die Rüstung ihm nicht gerade auf den Leib geschneidert war und an manchen Stellen zu weit und an anderen wieder zu eng war. Gut, sie schützte ihn, wenn er in den Flüsterwald an die Front ging, aber wie viel vermochte sie schon auszumachen, wenn tatsächlich ein Pfeilhagel auf ihn nieder ging? Die einfache Wahrheit war: Nichts.
Er seufzte und rieb sich das Gesicht mit beiden Händen. Schon wieder nur Gezeter mit sich selbst. Gwendolyn hatte ihn ein mal gefragt, was die Menschen antriebe und ohne Zögern sprach er von Gier. Die Gier nach Leben, Zufriedenheit, Reichtum, Liebe, Wohlwollen eines Gottes. Gier nach allem was gut und was schlecht in der Welt ist, aus guten und schlechten Beweggründen heraus. Er stand noch immer hinter dieser Aussage, aber just in diesem Moment, da er mit sich und Mithras ganz allein war, fand er für sich noch einen anderen Ansatz. Unzufriedenheit.
Unzufriedenheit bot die Basis für Gier. Oder viel mehr bot sie den Beginn eines Kreislaufes, der sich immer wieder in sich selbst schloss und so ewig fort fuhr. Der Mensch war unzufrieden und wollte seine Situation verbessern, gierte nach etwas, von dem er erhoffte, es könne ihm Zufriedenheit geben.
Er löschte die Kerze, als er sich zu Bett begab. Sie war seine letzte und er wollte sparsam mit der Gabe des Herrn umgehen. Leise verklangen die letzten Worte seiner Gebete.

Es muss schon einige Stunden nach Mitternacht gewesen sein, als Viktor zum dritten Mal erwachte. Schlaf wollte ihn diese Nacht nicht finden, zu sehr drehten sich seine Gedanken im Kreis.
Allen voran war da Gwendolyn. Immer und immer wieder ließ er sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Sie war regelrecht ausfallend geworden, hatte alles abgelegt, das er über die Jahre an ihr zu schätzen gelernt hatte. Nicht zuletzt dadurch, dass sie ihn offen hintergangen und bloß gestellt hatte. Wo sie einmal der Leuchtturm gewesen war, der ihm eine sichere Heimkehr versprochen hatte, war sie nun doch nicht mehr als ein geisterhaftes Irrlicht auf einem tückischen Riff. Zu sehr hatte sie sich ihren verdorbenen Lehrmeistern angeglichen, diesem Ginsterstrauch und der Jurenhure. Dies, so musste er sich eingestehen, war für ihn unerträglicher als alles andere. Nicht unbedingt nur, weil sie Mondwächter waren, gar Druiden, sondern weil sie zornigen, missgünstigen Charakters waren. Ganz besonders dieser Widerling Ginsterstrauch.
Er wusste, wie er mit Gwendolyn umzugehen hatte. Stumm hing die Dunkelheit über Viktor wie eine Warnung, als er einen Beschluss fasste.

Nur gut, dass Albert zurück gekehrt war. Der Mann, der immer versuchte alle Emotionen gänzlich von sich zu schieben, war Viktor allein durch seine Rückkehr in den Tempel eine gewaltige Stütze geworden. Leider konnte er ihm nicht alle Lasten abnehmen. Albert war nur empfänglich für Dinge, die einen Priester ausmachten, konnte aber nicht wirklich damit umgehen auch Mensch zu sein. Und manchmal benötigte ein Mensch einen anderen, damit er seine Sorgen und Gedanken reflektieren und mindern konnte. Sollte sein kahlköpfiger Vetter eines Tages dazu in der Lage sein würde er zu einer vorher unerreichten Größe gelangen.

Er presste die Augen zu, in der Hoffnung auf baldigen Schlaf. Am morgigen Tag würde er wieder zur Front zurück kehren, nur um sich dort nutzlos zu fühlen. Er würde mehr tun müssen. Seine Aufgabe war es nicht, herum zu stehen und zu gaffen, wie andere sich der Gefahr in den Rachen warfen. Am Kampf würde sich Viktor nicht beteiligen, dafür hatte er ein Versprechen zu viel gegeben unversehrt zurück zu kommen, doch ermächtigte sich seiner dennoch eine stechende Ungeduld. Er war nicht bereit es Blutdurst zu nennen, doch wurde ihm das Warten zu viel. Viel zu viel. Möglicherweise sollte er mehr tun, als nur eine Rüstung zu tragen und weise Worte zu sprechen. Möglicherweise war kein Ort sicherer, als im Bauch der Bestie.
"Novizen, die ich segne, sind großindoktriniert. Nicht."
-Elian


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#3
Die Nacht verbrachte Viktor vor der Feuerschale. Später, am Morgen, würden seine Augen unbrauchbar sein und er würde ihnen Ruhe geben müssen, doch diese Nacht verbrachte er im Angesicht des Herrn. Es schien ihm … symbolisch.
Die Hand war bereits warm und vielleicht würde er einen Brand davon tragen, aber das war gerecht. Er hatte noch einige getrocknete Spritzer von ihrem Blut zwischen den Fingern, kleine braune Spritzer. Viktor hatte sich die Hände nicht direkt gewaschen, er musste den Augenblick nutzen. Dieses Blut, ihm verwand und vertraut, würde sein Opfer sein. Es stammte zwar nicht aus seinen eigenen Adern, doch war es ihm nah, als sei es sein eigenes. Nur war es so wenig und so trocken, dass es nicht reichte, es einfach ins Feuer abzureiben. Es wäre nicht gerecht, nicht auch etwas von sich zu geben und Mithras das zukommen zu lassen, was er sich nehmen wollte. Und da das für gewöhnliches alles war, nahm er die Verbrennung in Kauf. Er konnte Gwendolyns Blut dem einzig wahren Gott nur dann als Opfer bringen, wenn er ihm erlaubte, es ihm mit seinen gierigen Zungen von der Hand zu lecken.

„Was treibt die Menschen an, Viktor?“ - „Gier.“ Nicht nur Menschen.

Langsam trieben die Flammen höher. In seinem Kopf hatte er schon die Frage formuliert, die er dem Feuer stellen wollte. Sie füllte ihn so sehr aus, dass er sie schon nicht mehr laut aussprechen musste. Ja, sein ganzer Körper zeugte von dieser einen Ungewissheit, die sich in einer Erhabenheit und Selbstsicherheit ausdrückte, wie es nur ein Widerspruch vermag. Wie wird es enden.
Höher und höher, Mithras war nun bei ihm, das konnte er deutlich spüren. Da, um zu nehmen und zu geben. Aus Konzentration wurde Entrückung, wurde stumme Ekstase. Das Bild vor den Augen verschwamm und für einen Moment wähnte er sich dem Elysium nahe. Fast so nah, wie er es in der Seelenreise seiner Erzpriesterweihe war. Alles erneuernd, Leben schenkend und verzehrend.
Mithras nahm das Opfer an.
Zuerst roch er den Rauch, doch war dieser schwach und zog nur dünne Schlieren. Das war gut, so konnte er Schlimmeres ausschließen. Es würde eine Angelegenheit des Assam werden.
Dann spürte er die Hitze. Es war erschreckend heiß, für so ein vergleichsweise kleines Feuer. Eine Warnung. Für Viktor nicht überraschend, doch bestätigend.
Die Flammen. Haltlos, hell, Gwendolyn. Er konnte all das, was seine Cousine ausmachte, direkt im Feuer wieder finden. Sie und das Elysium, für das Viktor selbst stand. Mithras wies ihm einen direkten Weg, keine Abzweigungen und etwas, das zwischen ihnen beiden entschieden wurde.
Was ihn am meisten berührte, waren die Schwärme von Funken, die immer wieder in Stößen empor stoben. Sie flogen geradewegs nach oben, doch die Heftigkeit ihres Aufstieges konnte nur eines bedeuten: Das würde mit mehr Blut enden. Mit viel mehr. Und es würde ein Ende geben. Viktor war seinem eigenen Körper in diesem Augenblick fern, doch dieser war zu sehr Ausdruck seiner Geisteshaltung, um nicht die Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen zu pressen.
Letztlich, er musste nicht lang darauf warten, so gierig hatte die Flamme das Holz verzehrt, blieb nur Asche zurück. Nicht sehr viel, und doch glomm noch lang, nachdem das letzte offene Feuer erstorben war, hier und da noch etwas Glut. Als wehre sich ein Gefangener gegen seine Ketten oder begehre der Trieb eines Baumes gegen den Winter an.

Die Antwort lag auf der Hand. Sie würde sich nicht retten lassen und er würde sie nicht mehr zu retten versuchen. Ein Ende. Das konnte vieles bedeuten, doch angesichts dessen, was auf Servano zu kam, gab es nicht allzu viele Optionen, die auch tatsächlich in Betracht gezogen werden konnten. Es war Zeit, sich für das, was kommen mochte, zu wappnen.

Das Feuer war von Viktor wieder in Gang gebracht worden, als Albert und ihre Seligkeit zu ihm traten. Sie schienen besorgt. Wie besorgt muss man sein, wenn selbst im wildesten Sturm das Ruder fest gehalten wird und der Leuchtturm in Sicht ist?
„Wie fühlt ihr euch, euer Gnaden?“
„Rein.“

Die Hand war verbrannt.
Ihre Sorge war verschwendet.
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-Elian


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#4
Wenn Götter sprechen, dann sprechen sie nicht mit Worten. Worte, diese kleinlichen Konstrukte aus Lauten, das war nur etwas, womit ein Mensch um ein Gespräch bettelte. Man schrie, man flehte, man betete und hoffte. Worte waren wie das Greinen eines Neugeborenen um die Aufmerksamkeit seiner Eltern in der Nacht. In all ihrer Ausgefeiltheit doch ungeformt und roh. Sie zu nutzen und zu hoffen, dass man verstanden werden würde, das war etwas Einfältiges. Götter gaben sich nicht mit so etwas ab. Zumindest nicht in diesen Zeiten. Früher war alles anders gewesen, aber wer scherte sich schon um früher wo es so viel ungewisse Zukunft gab?

Ein sanftes Kratzen leistete Viktor Gesellschaft in seiner Stube. Eben erst war er das Haus des Barons vom Südwald ungefähr das zwölfte Mal durchschritten, auf der Suche nach etwas, das er nicht sehen konnte. Nun war es für das Erste genug und Viktor erfüllte pflichtbewusst andere Pflichten. Wie zum Beispiel dieses Schriftstück anzufertigen, das im Falle seines Ablebens an seine einzig erreichbare Verwandte überstellt werden sollte. Ein Testament? Nein. Er besaß schließlich nichts, das er ihr hätte vermachen können. Eine Entschuldigung? Nein. Er war im Recht. Es war …

Er hielt inne und das Kratzen verstummte. Müde hob er den Kopf und versuchte, durch das Fenster den Nachthimmel auszumachen, doch alles, was er sah, war sein Spiegelbild, schwach beleuchtet von der Öllampe. Ihr sanfter Schein und der leichte Geruch der Flamme berührten seine Sinne wie zuvor das Kratzen des Federkieles. Dieser Gedanke ließ ihn nicht los. Mithras sprach zu ihm, gewiss, und Viktor antwortete. Doch war es kein Dialog. Es war die gröbste Form eines Austausches. Sein Gott, der einzig wahre Gott, der es wert war, so genannt zu werden, ließ ihn an etwas Teil haben, das man nicht beschreiben konnte. Vielleicht ließ er seine Priester ein wenig seines gewaltigen Planes wissen. Und seine Priester dankten es ihm, indem sie seine Ohren mit ihren Schwüren füllten. Beide Seiten meinten es ernst miteinander, doch beide Seiten redeten aneinander vorbei.
Wenn Götter sprechen, dann nutzen sie einen anderen Weg. Sie nutzen Gefühle. Viktor lehnte sich in einer Zurschaustellung von Menschlichkeit, die er sonst so verabscheute, an die Lehne des Stuhles. Es gab nur drei Zeiten, zu denen er sich sicher war, dass Mithras ihm gegenüber deutlich seine Meinung geäußert hatte. Eine Botschaft, die nur für ihn bestimmt war und nicht dieses allgegenwärtige Gefühl des Gehalten Werdens, das jeder Gläubige spüren konnte. Diese erste Zeit war das Öffnen der Quelle, das erste Nutzen der Macht. Die zweite war seine Vision zur Erhebung als Erzpriester. Und die dritte war die Aufforderung gewesen, alles hinter sich zu lassen und zur Wallfahrt aufzubrechen. Jedes mal konnte er die Präsenz' Mithras so überdeutlich in sich spüren, dass er wusste, der Gott würde nun ihn als Spielstein auf seinem Spielbrett führen. Und jeder dieser Momente war so erfüllt von einem alles bestimmenden Gefühl. Es war nicht nur der Rausch der Quelle, die sein Geist berührte, sondern auch die Gewissheit, dass eine einzelne Emotion ihn auf den Weg brachte.
Beiläufig schüttete er Löschsand über die Worte auf dem Schriftstück. Es war nicht gut. Nicht gut genug. Er würde neu beginnen müssen. Vielleicht ein wenig direkter, ohne Gruß. Vielleicht aber auch ein wenig versöhnlicher. Vielleicht … er knüllte das Papier zusammen und warf es von sich. Als es von der Wand abprallte, trat er es gleich noch einmal durch den Raum. Seine Wut projezierte sich gänzlich auf dieses eine verfluchte Stück Papier. Das fünfte seiner Art, das sich nun unter seinesgleichen tummelte. Still lagen die zerdrückten Papierbögen dort und bewegten sich nicht, wie eine Herde, die den Zorn des Schäfers fürchtete. Er ertrug die dreiste Art nicht, mit denen die aus den Knäulen heraus lugenden Wörter ihn anstarrten, darum erhob er sich und ging, durch die Wohnstube, hinaus auf den Balkon. Der nächtliche Wind und der gelegentlich fallende Regen kühlten ihn nur schwach wieder ab.

Was war, wenn das nicht die einzige Art war, mit der Mithras sprach? Der Gedanke durchzog ihn, als er sich nach einer Weile der Kontemplation wieder in seine Kammer begeben wollte und ließ ihn fürs Erste verharren. Manche Menschen hatten bestimmte Wesenszüge, die sie definierten und von anderen abhoben. Mithras hatte die Menschen nicht geschaffen und legte großen Wert auf freien Willen, doch er machte sich, um seine Nachrichten zu überbringen, gelegentlich ihre Fähigkeit zu empfinden zunutze. Wäre es möglich, dass er bei bestimmten Menschen das ganze Wesen anrührte, um sie seinen Wünschen gemäß das Assam durchschreiten zu lassen? Besondere Werkzeuge? Er musste an die heilige Alina denken, die Rose. Ihr Leben war von Liebe bestimmt gewesen und einer Aufopferungsbereitschaft, wie sie nur wenige teilten. Sie war zu einem Symbol der Wertschätzung anderer geworden.
Ein blasphemischer Gedanke beschlich ihn, anmaßend in seiner Größe. Wenn Viktor einst stürbe, würde man seiner als des Heiligen der Wut gedenken? Zeit seines Lebens brannte in ihm eine unterdrückte Wut und was war, wenn diese seinem Geist von Mithras selbst eingepflanzt worden war? Schlicht, weil es die Zeit war, in der so etwas gebraucht wurde?

Ein wenig später teilte er das Zimmer wieder mit der Öllampe und dem Kratzen. Es gab viel zu tun, so viel Zukunft zu planen. Er würde Rahel noch einmal besuchen. Sie war auf einem guten Wege, doch gab es auch einige direktere Worte zu wechseln. Der Baron musste von seinem Übel befreit werden und Viktor musste sowohl eben jenes Übel als auch die Lösung dafür finden. Ginsterstrauch musste einen Kopf kürzer gemacht werden … Ah, ja. Ginsterstrauch. Viktor war sich noch nicht sicher, wie und in wieweit er diesem Mann schaden konnte. Er wollte, dass er litt. Aber er wollte auch nicht, dass er aus dem Leben schied. Noch nicht. Gwendolyn würde es ihm nie verzeihen. Aber wenn es so weit kam, war der Wächter Viktor um Meilen im Kampf überlegen. Ein unüberbrückbares Hindernis. Es sei denn, dachte Viktor, den Blick auf die Öllampe gerichtet, mir fiele etwas ein. Im nächsten Moment hatte er auch schon einen Plan gefasst.
Nun würde er das Schreiben für Gwendolyn nur umso schneller fertig bringen müssen. Eine Erklärung? Vielleicht. Es würde zumindest etwas beleuchten. Wenn Menschen mit Menschen sprechen, dann nutzen sie Worte, und manchmal klingen diese dann eben wie ein Gebet mit dem man aneinander vorbei redet.
"Novizen, die ich segne, sind großindoktriniert. Nicht."
-Elian


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