Das Leben nach dem Tod auf Svesur
#1
Sie spähte einen Moment durch das schmale Fenster seiner Hütte hindurch, um Aidan zu beobachten. Er war schlank, gekleidet in einfaches dennoch gut sitzendes Wams und Tuchhose, und lauschte mit durchaus ernster Miene, schräg geneigtem Kopf den beiden Burschen, die vor ihm standen. Die beiden waren kleinere Ausgaben ihres Vaters: das helle, rötliche Haar wild vom Kopf abstehend, die hellen Augen voller Intelligenz leuchtend,  die Statur drahtig.

Sie schienen wegen etwas in Streit geraten zu sein, etwas so wichtigem, dass sie wie zwei junge Welpen in die Hütte getrudelt kamen, gerade als Aidan ansetzen wollte, Cahira zu erklären, warum er sie zu sehen wünschte. Mit einem entschuldigenden Seufzer hatte er sich seinen zankenden Söhnen zugewandt und Cahira war mit einem geflüsterten „Ich warte draußen!“ ins Freie geschlüpft, um sich auf der kleinen Bank vor der Hütte nieder zu lassen.

Aidans windschiefe Behausung stand nahe den Klippen und auf der Bank sitzend hatten man einen weiten Ausblick über das gleißende, schier unendlich scheinende Meer. Obwohl sie die Wärme der Sonne bereits in ihrem Gesicht spüren konnte, hatte diese noch nicht die Kraft, die Kälte des Winters gänzlich zu vertreiben. Die Winter auf Svesur waren zwar im Vergleich zu den Wintern in Silendir milde, dennoch musste man sich in einen wollenden Mantel hüllen, um sich vor dem eisigen Wind, vor allem dem an der Küste, zu schützen.

Sie liebte das Meer: die Wellen, die sich in den unzähligen sandigen Buchten der Insel zerliefen, das Treiben der Möwen, die sich um einen Fischhappen stritten, die Sonne, die sich am Rande des Ozeans am Abend in einen roten, alles verschlingenden Feuerball verwandelte. Die Wellen flüsterten all jenen, die zuhören wollten, ein Versprechen ins Ohr. Das Versprechen auf einen neuen Tag am Firmament, ein neues Leben, ein neuer Anfang.

Du musste dich nur trauen ... komm .. komm ...

Die Tür sprang auf, so dass Cahira, gerade eben bei der Betrachtung des Himmels in Gedanken versunken, zusammenzuckte, und die beiden Burschen rannten den Hügel hinab und feuerten sich juchzend gegenseitig an, der Erste unten an der Straße zu sein. Um was auch immer der Streit sich gedreht haben mag, er war vergeben und vergessen, wie es wohl nur Kindern zu eigen war. Einen kurzen Augenblick später trat Aidan kopfschüttelnd aus der Tür, wesentlich gesitteter als seine Söhne zuvor, einen dampfenden Zinnbecher in der Hand und wollte ansetzen, den beiden etwas nachzurufen, ließ es dann aber bleiben. Er wandte sich mit schiefen Grinsen Cahira zu, zog eine Schulter hoch und erklärte knapp „Jungs!“ ehe er sich neben der jungen Frau auf die Bank setzte.

„Hier. Aber vorsichtig, `s noch etwas heiß!“ Er drückte ihr den Krug in die Hand und sofort rannte die Wärme des Inhalts ihre Hände die Unterarme hinauf und hinterließ eine wohlige Gänsehaut. „Warmer Wein mit ein paar Kräutern. Meine Mixtur.“ Sie nahm einen kräftigen Schluck und spürte, wie sich die wohltuende Wärme in ihrem Körper ausbreitete. Danach saßen beide in Stille vereint auf der Bank; Cahira nippte noch ein paar Mal an ihrem Getränk und genoss die Ruhe, Aidan rieb sich geistesabwesend die Hände und stierte in die Richtung, in der seine Söhne verschwunden waren.

Dann schien dem Mann wieder eingefallen zu sein, wobei sie gestört worden waren, und räusperte sich. Unwillkürlich spannte Cahira die Schultern; vorbei war es mit diesem kurzen Moment des Innehaltens und die Zeit lief wieder ihren gewohnten Gang.
„Dein Vater war vor ein paar Tagen bei mir ...„ setzte Aidan an.
„Ihm geht es doch gut?“ blinzelte Cahira. Ihr fiel nichts ein, warum Shem, nein Seán - so nannte er sich wieder nach galatianischer Sitte - einen Heilkundigen aufsuchen sollte. Aber er war immerhin schon 60 Jahre alt, auch wenn man ihm sein Alter nicht auf Anhieb ansah. Sein ehemals rotes Haar war zwar weiß und lichter geworden, seine Falten tiefer und seine Augen etwas schlechter, dennoch hatte er sich seinen elastischen Gang und seine aufrechte Figur bewahrt. Cahira hatte das Gefühl, das ihr Vater hier in seiner alten Heimat regelrecht aufgeblüht war „Das kommt davon, dass ich hier meine Familie um mich habe. Meine ganze Familie!“

„Jaja. Euer Sippe scheint die unerschütterliche Konstitution der Pferde zu haben, die ihr züchtet!“ Mit einer knappen Geste schob Aidan Cahiras Befürchtungen um den Gesundheitszustand ihres Vaters beiseite. „Es ging eher ... äh, um .... um uns!“ Diese plötzliche Schüchternheit in der sonst so selbstsicheren, wohlklingenden Stimme ihres Bankpartners ließ die junge Frau kurz stutzen, dann dämmerte es ihr und sie musste urplötzlich auflachen. „Himmel, Aidan. Nein, es tut mir so leid. Hat Papa Dich auch mit seinen Plänen belästigt, dass wir doch heiraten sollten? Von all‘ seinen wunderlichen Einfällen ist das wohl der irrsinnigste, findest Du nicht auch?“ Sie drehte ihren Kopf und sah sich einem ganz und gar ernsten, gar nicht belustigt wirkenden Aiden gegenüber, der nun reserviert murmelte „Ich denke nicht, das sich das so irrsinnig anhört.“

„Aidan ... ich weiß .. gar nicht, was ich sagen soll ...“ Sie hatten ihn nicht beleidigen wollen. Während der Zeit auf Svesur war er ihr Freund geworden, ein Vertrauter in einem Anfangs so fremden und andersartigen Leben zu dem, welches sie zuvor geführt hatte. Wie viele Stunden hatten sie schon auf dieser Bank verbracht, entweder über die Götter und die Welt schwatzend, über Nebensächlichkeiten oder über Dinge, die sie tatsächlich bewegt hatten, oder schweigend, einfach zufrieden damit, nicht alleine zu sein und die Gegenwart eines Freundes neben sich zu spüren.

Vielleicht waren sie sich aus dem Grund so nahe, weil sie beide gebrochene Herzen hatten. Sie waren Gleichgesinnte und niemand konnte verstehen, wie es war, einen innige geliebten Menschen zu verlieren, als jene, die diesen Alptraum schon einmal durchleben mussten. Dieses Wissen um diesen grausamen, plötzlichen Schmerz, die nie endende Trauer schweißte sie beide zusammen. Aidan hatte seine Frau und seinen mittleren Sohn bei dem gewaltigen Sturm vor sieben Jahren verloren und sein ganzes Talent der Heilkunst hatte versagt; Cahira hatte Kameraden und den Hauptmann, den sie ohne zu zögern Freund genannt hätte, in einer brutalen Schlacht verloren und fühlte sich beinahe als Verräterin, dass sie nicht auch gefallen war, und wenig später ließ sie die Nachricht, dass ihr Ehemann wegen Mordes gehängt worden war, vollkommen erstarren. Es war einzig allein Lionel, ihrem Sohn, diesem kleinen, hilflosen Wesen, zu verdanken, dass sie sich wieder regte und aß und trank.

Sie hatte gar nicht gemerkt, dass Aidan trotz ihres unpassenden Lachens weiter gesprochen hatte: „Es wäre keine Liebesheirat, das ist uns wohl beiden klar. Aber ich glaube, das wir Freunde sind. Und für eine gemeinsame Zukunft ist dies doch kein schlechter Anfang, oder? Ich würde Lionel als meinen Sohn anerkennen, du weißt, wie sehr ich den kleinen Kerl mag, und wir würden wieder in die Zukunft schauen als immer nur zurück. Gemeinsam. Und vielleicht .. mit der Zeit .. “ Er schloss mit dem ihm eigenen jugendhaften schiefen Lächeln, welches ihn um viele Jahre jünger erscheinen ließ, als er wirklich zählte.

Sie konnte an seinen Worten nichts aussetzen. Sie waren schlicht und wahr gesprochen, ohne Hintergedanken als vielleicht jenem, wieder eine eigene, vollständige Familie gründen zu wollen. Cahira wusste, das Aidan ihr ein sicheres Heim bieten und Lionel ein mustergültiger Vater sein würde. Aber war es nicht zu früh? Zwei, beinahe drei Jahre waren die Ereignisse nun her, die sie entwurzelt und nach Svesur gebracht hatten und die Verluste, vor allem Letzterer, waren noch lange nicht überwunden, falls diese je zu überwinden waren.

Nun, ihr Vater schien eher der Meinung zu sein, dass es an der Zeit wäre, seine Tochter unter die Haube zu bringen und Aidan, als respektierter Heilkundiger der Siedlung, zu dem sie auch noch eine freundschaftliche Verbindung pflegte, der geeignete Kandidat. Seán war nie richtig innig mit seinem verstorbenen Schwiegersohn gewesen und Aidan war beinahe das genaue Gegenteil von Kyron: Blond, gutmütig, freundlich, ohne Hang zum Alkohol oder der Selbstzerstörung durch irgendwelche obskuren Substanzen, einer ungefährlichen Tätigkeit nachgehend, verlässlich.


Du musste dich nur trauen ... komm .. komm ...


„Gut, dann heiraten wir eben.“
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
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#2
Sie hatte eigentlich gedacht, dass ihr Vater sich mehr freuen würde, als sie ihm eröffnete, das sie und Aidan heiraten würden. Das war doch schließlich sein Wunsch gewesen, oder? Einzig und allein die Zügigkeit, mit dem das Ereignis stattfinden sollte, hätte Anstoß zu Missfallen bieten können: Das Ende des Winters und damit Ceílil, das traditionelle Frühlingsfest auf Galatia, standen vor der Tür. Von je her wurden bei diesem Fest auch Trauungen vollzogen und Aidan, nun ihr Verlobter wohl, und auch sie selber, sahen, nachdem sie ihren schlichten Pakt geschlossen hatte, eigentlich keinen Grund noch länger zu warten.

„Sicher, ich freue mich für Dich, Kätzchen. Aidan ist ein guter Mann, wird gut für dich sorgen!“ Zwar sagte ihr Vater diese Worte stets, aber irgendwie schien es Cahira, als meinte er sie nicht wirklich. Er runzelte dann immer seine Stirn, als ob er noch etwas wichtiges hinzufügen wolle, es aber prompt in diesem Augenblick zu vergessen haben schien. Dann wandte er sich stets kopfschüttelnd und mit noch immer verwirrten Gesichtsausdruck ab.

„Du musst wohl einsehen, dass dein Vater nicht mehr der Jüngste ist.“ hatte Aidan ihr behutsam zu erklären versucht, als Cahira ihn nach einem gemeinsamen Essen darauf ansprach. „Aber er benimmt sich doch erst so merkwürdig, seitdem ich ihn in unsere Hochzeitspläne eingeweiht haben“ „Schau‘ her, seine Tochter heiratet und wird mit seinem geliebten Enkel in das Haus ihres Mannes - das bin dann wohl ich - ziehen, um eine eigene Familie zu gründen. Dazu kommt nun noch die ganze Vorbereitung für das Fest. Und alles so kurzfristig. Das ist vielleicht zusammen genommen alles etwas zu viel für deinen alten Herren.“

Auch Cahira schauerte es schon davor. Die ganze übrige Sippe würde anreisen - entfernte Onkel, Tanten, Cousinen, Neffen, alle mit ihren unzähligen Kindern - und das Haus zu einem wild gewordenen Bienenstock verwandeln. Dann würde es tatsächlich keinen ruhigen Moment mehr geben; alle Zimmer außer der großen Wohnküchen wären dann drei, vierfach belegt und sogar in den Ställen würden einige der Jüngeren schlafen, die das ganze wie ein tolles Abendteuer zu ihrem sonstigem Alltagstrott empfinden würden. Dazu würde die Vorratskammer bersten, denn alle Gäste brachten selbstverständlich Fleisch, Brot, Käse, Fisch in allen möglichen Variationen und vor allem Wein und Bier zur täglichen Verköstigung und für den anstehenden Festschmaus mit.

Aidan hatte ihr ein Säckchen mit duftenden Kräutern in die Hand gedrückt. „Brüh‘ ihm drei mal täglich eine Tasse davon auf und du wirst sehen, es wird ihm spätestens zu Ceílil wieder besser gehen.“ Zu dem bereits fertig gemischten Tee hatte Aidan in seiner großzügigen Handschrift noch die Zusammensetzung der Kräuter auf ein kleines Stück Pergament geschrieben, falls der kleine Vorrat nicht ausreichen sollte. Es war eine einfache Mischung aus küchenüblichen Gewürzen und Kräutern.

Cahira war des Schreibens und Lesens mächtig, sie hatte es von ihrer Mutter in Silendir gelernt, und empfand es höchst erfrischend, dass ihr zukünftiger zweiter Ehemann die Abneigung der eingeborenen Galatier gegenüber der Schrift nicht teilte. „Ich bin schließlich kein Druide. Denkst du tatsächlich, ich würde das eine gelbe Pulver gegen ein anderes unterscheiden können, wenn ich mir keine Niederschriften machen würde?“

Der Tee linderte Seáns Zerstreutheit etwas, aber gerade gegen Abend, wenn Cahira ihm die letzte Tasse vor dem zu Bett gehen reichte, und ihr Vater langsam in den Schlaf hinab dämmerte, schien auch das dampfende Getränk nicht den lästigen Gedanken Herr werden zu können, die in seinem Geiste spukten. „Es tut mir so leid. Aber ich wollte nicht, dass du zurück gehst. Du warst so zart und zerbrechlich. ER hat dich in den Tot geführt ... Blut, überall Blut ... Er hat gesagt, er könne mir helfen. Und du bist geblieben. Bei mir. Nein ... NEIN! Pass auf. Pass auf dich auf ...!“ Jeden Abend die selben Worte, immer und immer wieder. Wie eine quälende Litanei, mal laut, mal leise, wimmernd, drängend, zuweilen zornig, voller Angst.

Alle Versuchen, ihm mehr als nur diese Worte zu entlocken, schlugen fehl. Am Morgen danach erinnerte sich Seán an nichts mehr und das zerknitterte, müde Gesicht ihres Vaters verboten ihr, ihn noch mehr zu drängen und auszufragen als sie es schon erfolglos versucht hatte. Ihre Brüder, Jovane und Jonathan, wusste sich auch keinen Rat. Also musste sie wohl oder übel Aidans heilkundlichen Rat Vertrauen schenken und diesen unerwarteten Ausbruch ihres Vaters als Ergebnis des bevorstehenden kräftezehrenden Ereignisses des Frühlingsfestes und der Invasion der restlichen Sippe deuten. Hatte nicht auch sie zu Aidan gesagt, dass sie nach den Feierlichkeiten eine Woche durchschlafen würde?
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
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#3
Der Abend vor Ceílil. Die gesamte Sippe, einschließlich Aidan und seinen Söhnen, und einigen kleineren Nachbarfamilien versammelte sich zum Essen in der Wohnküche. Es waren so viele Leute, dass die langen Bänke nicht ausreichten, um allen Essensgästen Platz zu bieten. Und so waren es eher die Älteren, die es sich dort drinnen gemütlichen machten, um von alten Zeiten schwatzend ihr Gulasch oder Fisch, Brot und vor allem Wein in der vom Feuer unter dem gußeisernen Topf erhitzten Stube zu verzehren.

Draußen auf dem Hof brannte ein großes Lagerfeuer und ein Ochse drehte sich über der flammenden, fettzischenden Glut. Die jüngeren Familienmitglieder standen lachend, schwatzend umrund des Feuers und es würde nicht lange dauern, ehe einige Instrumente zum Vorschein kamen, deren lustige Melodien zum Tanzen auffordern würden. Zwischen den Beinen der Erwachsenen, unter Bänken und Stühlen kroch, rannte, tobte eine ganze Schwadron kleinerer Kinder. Sie alle hatten klebrige Finger und Münder von den kandierten Früchten, die sie sich massenweise in ihre kleinen Münder gestopft hatten und aufgedreht von so viel Süßkram verhielten sie sich wie toll. Aber es war der Vorabend von Ceílil und auch der strengste Vater war milde gestimmt durch gutes Essen, Alkohol und den bevorstehenden Feierlichkeiten.

Wenn man den Galatiern etwas nachsagen konnte, dann wohl, das sie es verstanden, zu feiern. Cahira war es zuweilen etwas zu wild und die ganzen Menschen - die meisten davon Familienmitglieder - die sie wohl kannten und ihr überschwänglich zur bevorstehenden Heirat mit einem so respektablen Mann wie dem Heiler Aidan gratulierten, ließen sie ein ums andere Mal erschauern. Auch Aidan, der sich bis jetzt an ihrer Seite gehalten hatte, einen Arm um ihre Schulter gelegt, die andere Hand um den sicheren Anker eines Weinkruges gekrampft, schien sich inmitten der für ihn ebenfalls Fremden nicht ganz wohl zu fühlen.

Aber mit Genugtuung sah sie Lionel inmitten der gerade vorbei lärmenden Kinderschar. Er war sonst ein eher ruhiges, folgsames Kind und hielt sich meist in der Nähe von Mutters Rockzipfel auf. Jetzt aber rannte der Vierjährige vor Freude kreischend Richtung Haus. Auch Aidans Blick, seltsam gierig, sehnsüchtig - aber das konnte auch ein Produkt des flackernden Feuers sein - verfolgte seinen zukünftigen Stiefsohn; als Cahira blinzelte war dieser Ausdruck auf dem Gesicht ihres Verlobten verschwunden und einer gequälten Grimasse gewichen, als er sah, wer da zielstrebig auf sie zuwatschelte: Tante Georgette, eine beleibte Witwe, die keinen Hehl darum machte, dass sie es bedauerte, nicht ein paar Jährchen jünger zu sein, um Aidan Cahira abspenstig zu machen.

Es tat ihr fast ein bisschen leid um ihn, als ihr Bruder Jovane sie ins Haus rief, weil Vater sein Hemd zerrissen hatte und sich nun weigerte, ein anderes von seinen Söhnen herausgesuchtes Hemd anziehen, da dieses nicht dem großartigem Anlass entsprach. Als Cahira in die Wohnküche trat, sass der alte Mann maulig mit enblösstem Oberkörper auf seinem Platz am Kopf der Tafel, sehr zu Belustigung der anderen Anwesenden. Wahrlich, ihr Vater benahm sich äußerst seltsam. Erst diese merkwürdige Vergeßlichkeit, das Gemurmel beim Einschlafen, nun das! Er war in der Regel ein freundlicher Geselle, der gerne plauderte und einem guten Tropfen nicht abgeneigt war. Launenhaftigkeit gehörte nicht zu seinen üblichen Verhaltensweisen. Und wie, verflixt noch eines, hatte er es geschafft, seinem Hemd einen so üblen Riss zuzufügen, das es wohl nur noch als Putzlappen taugen würde?

Sie seuftze und machte sich zu Seáns Zimmer auf, welches er gerade mit drei älteren Gästen teilte. Eigentlich gab es an dem rausgesuchten Hemd nichts auszusetzen, es war frisch gewaschen, ohne Flicken, ordentlich, aber Cahira wühlte trotzdem in der am Fußende des Bettes stehenden Wäschetruhe umher, um ihren Vater ein anderes Gewand zu präsentieren. Sie förderte einige Hosen hervor, eine einzelne wollende Socke, achjah .. da war ja, was sie suchte. Sie zog am Ärmel und hatte nicht nur das gesuchte Stoffstück, sondern auch ein zusammen gelegtes Stück Pergament zu Tage gefördert, welches auf den Boden trudelte. Überraschungslaute murmelnd bückte sich die junge Frau, um sich das unerwartete Fundstück genau anzusehen.

Die Erkenntnis traf sie wie die Wucht einer Faust mitten ins Gesicht, sie keuchte und ließ sich rückwärts auf Vaters Bett fallen, welches protestierend ächzte. Ihre Augen, die sich ungewollt mit Tränen füllten, flogen über die Zeilen, die großzügige Schrift, das Siegel am Ende. Sie erkannte durch den Tränenschleier nur einzelne Wörter - ... Verlautbarung ... Tod durch den Strick ... hinterlistiger Mord ... Mendoza ... auszuführen am ... beschlossen am ... gesiegelt von ... - aber sie wusste ganz genau, was sie da in den Händen hielt. Die Trauer, die sie die ganze Zeit wie einen lästigen Dorn mit sich getragen hatte, bohrte ihren Stachel gnadenlos in ihre Gedärme; sie konnte nicht richtig atmen, schluckte hustend Rotz ihre brennende Kehle hinunter. Wozu hatte ihr Vater dieses verfluchte Stück Pergament nur aufbewahrt? Warum musste es ihr gerade heute in die Hände fallen, heute, am Vorabend von Ceílil, am Vorabend ihrer Heirat? Oh, Kyron.

Die Welt herum verblasste an Farbe und Geräuschen, es war ihr, als würde sie alleine in diesem Zimmer sitzen, alleine mit ihrer Trauer und der Erinnerung an ihren ersten Ehemann, dem Vater von Lionel. Sie wusste nicht, wie lange sie dort schon gesessen hatte, das Hemd für ihren Vater vollkommen vergessen, das Schreiben in ihrer Hand zerknüllt, der Blick starr nach vorne gerichtet, die Tränen auf ihren Wangen mittlerweile getrocknet. Jovane steckte seinen Kopf durch die Tür. „Cahira ...“ flehte er. „Du musst sofort kommen. Vater will nun auch seine Hose ausziehen, wenn er kein Hemd hat. Alles in Ordnung?“ Stirnrunzlend trat er dann doch ins Zimmer und betrachtete die junge Frau mit einem Anflug von Sorge. Jovane hatte diesen regungs- und gefühllosen Zustand schon einmal miterlebt, damals hatte er rund drei Monate gedauert, und auch danach war sie längst nicht wieder zu der lachenden, scherzenden kleine Schwester geworden, die er kannte.

Als ob diese sich vom Grund des Meeres an die Oberfläche kämpfen müsste, blinzelte diese, atmete mehrmals tief durch und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase, während sie das Pergament in ihre Rocktasche stopfte. „Jaaaah.“ erwiderte sie zwar etwas lahm dennoch sehr zur Erleichterung des Mannes, der schon mit seinem Narretei treibenden Vater draußen überfordert gewesen ist. Was hätte er mit einer Schwester anfangen sollen, die aus welchen Gründen auch immer urplötzlich wieder in ihren alten Trauerzustand gefallen war. Er hätte es wohl Aidan gesagt, nein, er musste es ihm sogar sagen ... Aber einstweilen war Seán das Problem, das Gespräch mit Aidan würde er gleich im Anschluss führen. Oder erstmal einen Schlucken Wein trinken. Oder ein Stück Ochse essen ... Cahira erhob sich schwerfällig. „Dann wollen wir mal zurück in die Küche gehen ...“

Kaum das Cahira durch die Tür auf den Gang getreten war und der Aufgabe entgegensah, ihren Vater manierlich zu kleiden, hatte sie der Fluß des Lebens wieder. Singen, lachen, tanzen, Kindergeplärre, der Duft von angebratenem Fleisch, knarzende Dielenböden, schrille Stimmen, das Wiehern der Pferde, die es nicht gewohnt waren, einer solchen Lärmbarriere ausgesetzt zu sein, flackernder Feuerschein, milder Wind, der den lieblichen Geruch des Frühlings mit sich brachte, linderten den Schmerz der Trauer. Es war Fluch und Segen zugleich in einem Haus zu wohnen, welches auch zwischen den einzelnen Familienzusammenkünften 16 Menschen, bald 17 nach der Niederkunft von Jonathans Frau, beherbergte. Man war nie alleine, hatte immer etwas zu tun, keine Zeit, die Gedanken in trübe Gewässer gleiten zu lassen.

Später an diesem Abend entschied Cahira, die das festliche Treiben dann eher als Zaungast beobachtet und sich von ihrer Sippe wie auch von Aidan ferngehalten hatte, ihr Vater könnte die doppelte Dosis des beruhigendenTees vertragen. Und vielleicht trank sie auch gleich einen mit. Sie fühlte sich innerlich zerschunden und fürchtete, sie könne jeden Moment wieder in Tränen ausbrechen. Außerdem musste sie um jeden Preis verhindern, dass ihr Vater mit runtergelassener Hose vor den Kleinkönig trat. Sie hatte die Kräuter schon aufgebraucht und musste das Rezept bemühen, welches Aidan aufgeschrieben hatte. Mit dem Anflug eines Lächelns betrachtete sie den kühnen Linienschwung der Buchstaben. Die Großbuchstaben hatte alle so einen typischen Kringel, das „M“ besonders ausgeprägt.

... Melisse ...
... Mord ...
... Minze ...
... Mendoza ...


Sie fuhr mit der Hand in ihre andere Rocktasche und schlug die Verlautbarung zu Kyrons Hinrichtung auseinander. Das war doch ... unmöglich. Aber doch, sie sah es ja vor sich: Das Rezept von vor wenigen Tage, vor ihren Augen geschrieben, und die Bekanntmachung aus Amhran, mehr als zwei Jahre alt waren in der selben Handschrift verfasst!

Aidan?
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#4
Sie stapfte ziemlich kopflos zu Aidans Hütte nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Lionel in einem Knäul müder Kinder wohlig schlief, und sie ihren Verlobten nirgends hatte finden können. Auch Aidans Söhne lagen in diesem Haufen und schnarchten.
„Das ist nur ein Missverständnis .... ein Zufall!“ hatte sie mit jedem ihrer Schritte gemurmelt, als ob sie dadurch Wahrheit hätte herauf beschwören können. Nach einem tiefen, kraftschöpfenden Atemzug war sie in die Hütte getreten, nachdem sie Feuerschein im Inneren hatte ausmachen können.

Aidan stand vor dem Kamin, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Er blickte noch nicht einmal hinter sich, als er leise feststellte, wer da in sein Heim und seine Wirkungsstätte gedrungen war. „Cahira. Nach dem Gespräch mit Jovane wusste ich, dass du kommen würdest. Früher oder später.“ Feuerschein zuckte über die Theke, über die einfachen Schemel und die Liege, über das Regal mit seiner Ausrüstung. Trotz der Wärme im Raum lief ein Schauer über ihren Rücken. „Kannst Du mir das erklären?“ Mit dann zusammengepressten Lippen legte sie die aufgefalteten Pergamente - Verlautbarung und Rezept - auf die Theke. „Sag mir bitte, dass es nur ein ... Zufall ist.“

Erst dachte sie, er würde sich gar nicht mehr bewegen, dann drehte er sich zum Tisch um, nahm beide Pergamente in die Hand, betrachtete sie eingehend und als er aufblickte, umspielte ein eisiges Lächeln seine Lippen. „Der alte Narr hätte diese Bekanntmachung verbrennen sollen. Schade eigentlich, ich habe mir solche Mühe damit gegeben.“ Ehe Cahira es hätte verhindern können, landeten beiden Aufzeichnungen in den verzehrenden Flammen des Kaminfeuers. „Du .. leugnest es nicht .. wie .. warum?“ stammelte sie kopfschüttelnd. Vor Unglauben erschlaffte ihre ganze Gestalt, der Raum begann sich langsam aber sicher um die eigene Achse zu drehen.

Der Mann, der drei Schritte vor ihr stand, hatte so gar nichts mehr mit ihrem Aidan gemeinsam. Er glich eher einem Raubtier, welches seine Beute belauerte. In seinen sonst so sanften Augen glänzte ungesunder Wahn, die Falten in seinem Gesicht schienen sich tiefer in die Haut gegraben haben, seine Stimme war kalt wie ein zugefrorener See im Winter. „Ich leugne nicht, dir alles genommen zu haben, was dir wichtig gewesen ist. Ich habe Korporal Mendoza getötet, habe dir deine Kameraden und Freunde genommen und zum Schluß noch Kyron. Und dann habe ich diese Leere mit meiner Freundlichkeit und Zuneigung gefüllt, bis du bereit gewesen bist, mich zu heiraten. ICH HABE ES AUF DIE GUTE WEISE VERSUCHT!“ brüllte er unvermittelt und trat um die Theke herum, während Cahira zur entgegengesetzten Seite zu kreisen begann, um so den Abstand zwischen sich und diesem plötzlich Unbekannten zu wahren.

„Dann war alles eine Lüge?“ fragte Cahira leise und versuchte ihn zum weitersprechen zu animieren. Einerseits es war eine beinahe perverse Neugierde auf das, was Aidan zu berichten hatte, auf der anderen Seite versuchte sie so Zeit zu schinden, bis ihr eingefallen war, wie und vor allem womit sie auf diese unerwartete Situation reagieren konnte.

„Ich musste ja mein Geld verdienen und trieb mich in den unterschiedlichsten Heilerhäusern herum, immer in der Nähe von Ärger und Gewalt. Und ihr mit eurer kleinen ... Unternehmung ... nenne ich das mal so, habt eine Menge Gewalt mit euch gebracht. War es ein Zufall, das dein Vater seine Überfahrt nach Svesur verpasst hatte, weil er einen alten Bekannten getroffen und sich bei mehreren Humpen Bier verplappert hat, war es ein Zufall, das Lionel so krank geworden ist, dass dein Vater vor Verzweiflung einen Heiler aufsuchen musste, und dabei ausgerechnet auf seine zerfetze, sterbende Tochter traf? Ich glaube nicht an Zufälle! Ohjah, gestorben wärst Du, wenn ich dich den fähigen Händen meiner Kollegen anvertraut hätte.“ spie er verachtend aus.

Wie Seán nun einmal war, hatte er Aidan sein Leid geklagt, nachdem dieser sich als williger Zuhörer für die Sorgen eines Vaters empfohlen hatten. Seine Tochter, eine Soldatin. Immer diesen Gefahren ausgesetzt. Und was würde dann aus Lionel werden, wenn sie sterben würde? Seinem Schwiegersohn war doch nicht zu trauen, der säuft sich durch ganz Amhran. Am liebsten hätte er gehabt, wenn sie ein normales Leben führen würde, fernab von Krieg, diesem zigarrenrauchenden Hauptmann, eine eigene Familie gründen und ihm eine ganze Horde Enkel schenken würde. Aber er wusste, das würde sie nicht. Sollte sie diesen neuerlichen Verletzungen nicht erliegen, würde sie, sobald sie wieder einigermaßen aufrecht stehen konnte, zu diesem vermaledeiten Soldatenhaufen zurückrennen und sich hackenschlagend zurück zum Dienst melden. Aber dagegen können wir doch etwas tun, hatte Aidan jovial geantwortet.

„ICH habe dafür gesorgt, dass Soldat Cahira Mendoza als verstorben galt - nicht schwer im Angesicht deiner Verletzungen. ICH habe dich nach Svesur geschafft. ICH habe dir den Keim der Gewissheit eingepflanzt, die einzige Überlebende eines einzigartigen brutalen Gemetzels zu sein. Aber der Keim hätte nicht gedeihen können, hättest du nicht tief in deinem Inneren daran geglaubt. Es muss wirklich aussichtslos gewesen sein, als dein Hauptmann dich nach Verstärkung geschickt hat, nicht wahr? Und das in all‘ den Jahren nicht ein einziger deiner geliebten Truppe kam, um dich zu suchen, hatte das Ganze natürlich ungemein erleichtert.“

Cahira stolperte rückwärtig über den keinen Schemel, den Aidan bei der letzten Kreisrunde unbemerkt hinter der Theke in ihre Trittrichtung geschoben hatte, rappelte sich wieder auf, aber da war er schon bei ihr und drängte sie mit dem ganzen Gewicht seines Körpers an die Wand. Sie versteifte sich, wehrte sich gegen seinen festen Griff, der sich unbarmherzig um ihre Handgelenke spannte. Den Kopf so weit möglich von seinem Gesicht abgewandt, konnte sie den unangenehmen Atem seiner leisen, giftigen Worte auf ihrer Wange spüren.

„Um unser Vorhaben, dich in Svesur endgültig zu binden, musste natürlich auch Kyron sterben. Ich wusste nicht, ob du von seinem kleinen Aufenthalt im Gefängnis gewusst hast, aber auch taten deine innersten Ängste um deinen Ehemann, die Befürchtung, dass es einmal so kommen musste, mir einen großen Gefallen. Aber keine Sorge, wärst du nicht so schwach vom Blutverlust deiner Wunden gewesen, hätte zumindest dieser Schwindel nie gelingen können. Dein Vater jedoch zögerte. Er konnte sich mit Kyron zwar nicht anfreunden, aber er wusste, dass dich dieser Verlust töten könnte. Als ich ihm erklärte, das es sein müsse und wir dieses Risiko eingehen mussten, drohte er mir, dass er zu dir gehen und alles erzählen würde.“ Aidan lachte bösartig auf. „Und da musste ich ihn auch ... beeinflussen. Leider entglitt mir die Kontrolle, da seine Abneigung gegen Kyron wohl nicht so tief verwurzelt war wie der Widerwille, dass seine Tochter einen Mann wie mich heiraten würde. Und dieses bevorstehende Fest, Seáns innerliche Zerrissenheit, seine Aufregung, diese ganzen Leute, ich konnte mich nicht richtig konzentrieren.“

Auch bei ihr musst er aufpassen; immer die richtige Dosis an Tee, Kräutern, Mixturen, Freundlichkeiten, Worten um den Keim des Wissens um den Verlust ihrer vorherigen Existenz am Leben zu halten, stetig zu nähren. Und sie erinnerte sich daran, wie sie von ihm eigentlich immer etwas zu trinken in die Hand gedrückt bekam: Säfte, heißer Wein mit Kräutern, Wasser, welches irgendwie einen komischen Geschmack gehabt hatte, er dies aber abgetan hatte, dass galatianisches Wasser eben so schmecken würde ... Etwas zu viel nur hier oder davon, dann hätte er den ihr ureigenen Instinkt geweckt, dass es immer Hoffnung gab.

Cahira schluckte hart und lauschte. Irgendwie musste sie sich doch aus seinem Griff befreien können. Seine Stimme war nun schon einen geraumen Moment verstummt und langsam, vorsichtig drehte sie ihren Kopf zur Seite, um sich Auge in Auge mit ihrem Angreifer zu sehen. Wispernd und bedauernd seine Worte nun: „Und das schlimmste ist, ich habe dich wirklich gern, Cahira. Ich habe gehofft, in dir erneut eine starke Partnerin zu finden, so wie es meine vorherige Frau gewesen ist. Sie hatte mich verstanden, meine Ambitionen unterstütz.“ Da war er wieder, der Aidan, der ihr Freund gewesen war. Also war nicht alles eine Lüge gewesen; ein gebrochenes Herz konnte man nicht vortäuschen. Sie war irgendwie froh, das er tatsächlich ein Herz zu haben schien.

„Dann ging es dir um eine Hochzeit und Familie? Hättest du das nicht einfacher mit einer anderen Frau haben können?“ Laut auflachend ließ er sie unvermittelt los, trat beinahe taumelnd ein paar Schritte zurück und hielt sich die Stirn.
„Du hast es nicht begriffen. Keiner begreift es. Keiner sieht es. Es ging mir um Lionel, immer um Lionel!“
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
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#5
Lionel war ein gerade mal vierjähriger, stiller kleiner Junge, der am liebsten in seiner Ecke mit seinem Holzpferdchen spielte. Er hatte die graublauen Augen seines Vaters und dessen dunkles Haar. Das Cahira schwanger geworden war, war für Kyron sowie für Cahira eine große, zum damaligen Zeitpunkt etwas unbequeme Tatsache; jedoch keine, über die sich die junge Frau nicht unbändig gefreut hätte. Cahira war noch nicht lange bei der Infanterie und sie wusste auch gar nicht, wie sie das Leben einer Soldatin mit dem einer Mutter vereinbaren sollte. Ließe sich das überhaupt vereinbaren? „Ich hätte nicht gedacht, das ich überhaupt ... bei dem ganzen Zeug, das ich ...“ hatte Kyron sich den Kopf reibend gemurmelt, als seine frisch angetraute Ehefrau ihm die frohe Botschaft mitteilte. Kordian hatte zunächst auch keine Worte finden können, als ihm sein Leutnant und Soldatin davon berichtete, was sie in den nächsten Monaten erwarten würde - und das sollte schon etwas heißen.

„... Lionel ... ?“ ächzte Cahira, die sich ihre Handgelenke reibend wieder einen Abstand zu Aidan gesichert hatte. „Er ist ein kleines Kind. Was willst Du von ihm?“ Sie konnte wohl damit leben, wenn jemand ihr etwas zu leide tun wollte und auch diese ganze Geschichte zuvor hätte sie irgendwie verarbeiten können, aber wenn er nun ihren kleinen, arglosen, unschuldigen Sohn in diese ganze Sache mit hineinziehen würde, würde sie zornig werden.

„Er brennt so hell, das mir beinahe der Kopf zerborsten ist, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Er hat es. Die Magie, die Macht. Die Kraft. Wie auch immer du es nennen willst. Und zwar so gewaltig und stark, wie ich das noch nie erlebt hatte. Selbst mein geliebter Sohn, der mir mit meiner Frau genommen worden ist, war im Vergleich zu diesem kleinen Knirps nur ein Teelicht. Und die beiden anderen sind Holzköpfe, mit denen ich nichts anfangen kann.“

„... Lionel ... ?“ sie konnte sich nur wiederholen. Ihr Sohn, magisch begabt? „Nein, du musst dich irren!“ behaarte Cahira nun. Doch Aidan schüttelt felsenfest von seinen Worten überzeugt den Kopf. „Es gibt keine Zufälle, das habe ich dir doch gesagt. Glaubst du nicht, dass es eine göttliche Fügung war, dass eine Bauerstochter aus Silendir mit einem Vagabunden aus sonst wo zusammen kommt. Die Götter haben euch schwere Prüfungen auferlegt und dann, ja, dann haben sie euch ein unmögliches Kind geschenkt und ihm die Magie in die Wiege gelegt. Und,“ fügte er listig hinzu, „du weißt, welche Schicksalsgötter ihm die Druiden geweissagt haben.“

Aidan hatte Lionels Stiefvater werden und ihn unter seine Fittiche nehmen wollen. Als Freund der Familie und letztendlich als Verlobter und Ehemann hatte er sich ohne Aufsehen zu erregen in der Nähe von Lionel aufhalten können. Die gute Weise, wie er es genannt hatte. Er hätte sich den Jungen auch schnappen und Cahira sterben lassen können. Der alte Mann wäre auch nur ein geringes Problem gewesen. Aber Lionel hatte in seinem zarten Alter eine Mutter gebraucht und auch Aidan war nur ein einsamer Mann nach dem Tod seiner Frau. „Deine Haare, diese Locken. Sie haben mich an meine Eris erinnert.“ Er hatte wohl gehofft, das Cahira es irgendwann verstehen und akzeptieren würde. Falls nicht, wäre es ab einem bestimmten Zeitpunkt gleichgültig gewesen, dann hätte er Lionel zu seinem treuen Schüler und Gefolgsmann gemacht. Und dann?

„Ja, erkennst du denn nicht die Möglichkeiten? Mit solcher Macht in den Händen könnte man die Welt verändern!“ „Du bist doch ... wahnsinnig ...!“ „Man kann sich alles nehmen, was man will. Alles erreichen. Der Krieg in Indharim, vorbei. Niemand müsste mehr für König und Vaterland sein Leben lassen. Nahrungsknappheit in Galatia, vergessen ...“
Cahira wurde das ganze allmählich zu viel. Sie fühlte sich so eingelullt von seinen Worten, die auf ihre verdrehte, verquere Weise so logisch und wahr klangen, dass sie fürchtete, sie würden ihnen allmählich auch Glauben schenkten. Wer weiß, vielleicht war er auch gerade dabei, wieder irgendeinen Zauber zu wirken. „Aber falls dies stimmen sollte, soll mein Sohn sich aus freien Stücken für diesen Weg entscheiden und ganz sicher nicht zu deiner Marionette werden. Du bekommst ihn nicht. Nur über meine Leiche!“

Sie hatte keine Waffe, keine Rüstung, keinen Plan.

„Ich hatte befürchtet, dass du das sagen würdest!“
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#6
Ohne Halt trudelte sie gegen das Regal gefüllt mit all' den Phiolen und Schälchen unbekannten Inhalts und knickte ein, einen Arm schützend über ihren Kopf haltend, um den Sturz des auf sie fallenden Behältnisses von Aidans Heilerutensilien wenigstens etwas abzumildern. Ihren anderen Arm drückte sie gegen ihre Brust, während Schmerz wellenförmig mit dem galoppierenden Schlag ihres Herzens durch ihren Körper pulste. Er war verdammt noch mal zu gut in Form für einen Heiler, wie hatte sie das nur übersehen können. Sie verfluchte sich jetzt dafür, dass sie nicht wenigstens in einfaches Leder geschlüpft war, bevor sie Aidan zur Rede gestellt hatte, oder einen kleinen Dolch in ihrem Stiefel hatte verschwinden lassen. Tja, sie musste sich wohl eingestehen dass sie in den vergangenen Jahren mehr und mehr zur Hausfrau geworden war.

Er wusste natürlich ganz genau, wohin er zielgerichtet schlagen musste, um ihr wirklich weh zu tun. Er hatte ihre Wunden versorgt, sie gepflegt, als sie bewusstlos gewesen war, und kannte jede einzelne Narbe, jede Schwachstelle. Der einfache Stoff ihres Kleides trug auch so gut wie nichts dazu bei, seine Hiebe abzumildern.

Unnatürlicher Rauch war aus dem Kamin gestiegen und füllte den kleinen Raum mit dunstigen Schleiern, die in ihren Augen brannten. Die Türschlösser hatten sich mit einem lauten Schließgeräusch verriegelt. Es gab kein Entkommen, dafür hatte Aidan gesorgt. Er schien überall und nirgends zu sein. Ihm schien der Rauch nichts auszumachen und er wirbelte plötzlich daraus hervor, versetzte ihr mal nur einen neckenden, sie verhöhnenden Klaps, dann wieder einen harten Hieb oder einen Tritt gegen ihre Beine.

Einige dieser Attacken konnte sie abwehren, ganz so vergessen waren die Lektionen in waffenlosen Kampf doch nicht, aber die meisten Angriffen fanden ihr Ziel und ließen Cahira durch den Raum kreiseln. Sie glaubte auch nicht, das er so schnell damit aufhören würde. Seine ganze Frustration, dass sein lang angelegter Plan im Grunde genommen umsonst gewesen war und es letztendlich doch auf eine einfache Entführung hinauslaufen würde, musste sich ja irgendwo kanalisieren.

Das Regal kippte entgegen ihrer Erwartung nicht um, sondern entleerte auf ihr nur einige Flaschen und Bandagen, kam dann langsam wieder in den aufrechten Stand. Noch am Boden kauernd, tastete sie nach einer dieser Phiolen und schlug sie hart auf den Boden. Sie zersprang mit einem klirrenden Geräusch, stäubte rotes Pulver in die ohnehin schon vom Rauch verpestete Luft. Als sie hörte, wie sich seine Schritte wieder ihrer Position nährten, schoss ihr Arm dem Nebel entgegen, die scharfen Zacken voran. Ein überrascht, knurrender Laut und Blut auf ihrem Handschuh ließen sie befriedigt feststellen, das ihre kleine Attacke von Erfolg gekrönt gewesen war. „Schön, schön ... aber auch wenn du den gesamten Inhalt des Regals auf mich wirfst, wissen wir beide, wie das hier ausgehen wird.“ tönte seine Stimme aus dem Rauch.

Jenes Regal war schon immer Lionels bevorzugte Stelle im ganzen Raum. Er entdeckte immer wieder neue, spannende Sachen und Aidan hatte ihn gewähren lassen, wenn er Bandage um Bandage entrollte oder mit seinen kleinen dicken Fingern eine der bunten Flaschen begrabbelte. Die mit dem blauen Pulver schien besonders interessant zu sein. Cahira hatte ihrem neugierigen Sohn die Phiole entwendet und mit einem entsetzen Aufkeuchen nach einem Blick auf das Etikett das Behältnis außer Reichweite auf einen hohen Regalboden geschoben. „Wozu hast du dieses Zeug hier?“ „Du kennst es?“ hatte Aidan überrascht gefragt. Natürlich kannte Cahira Sandast, verstand nur nicht, warum Aidan eine ziemlich große Abfüllung davon in seinem Vorrat hatte. Einen so großen Vorrat für den jeder Süchtige auch noch sein letztes Fünkchen Selbstachtung verkaufen würde. Oder schlimmeres. „Wenn Du todkrank wärst, nicht mehr zu retten, unerträgliche Schmerzen ... dann würdest du dir doch auch Linderung wünschen? Es wirkt schnell, wenn es mit einem Messer ins Fleisch geschnitten wird und nimmt jegliche Gefühle. Keine Schmerzen, keinen Hunger, keinen Durst. Sofort süchtig machend, aber das ist in solcher Situation dann gleichgültig.“

Du hattest recht, Aidan. Es gibt keine Zufälle.

Wenn sie Glück hatte, stand die Glasflasche noch oben im Regal. Ächzend zog sie sich hoch. Sie konnte kaum etwas erkennen, der Rauch und ihre brennenden Augen taten ihr übriges. Doch dann, erleichtert erkannte sie den blauen Schimmer des verhassten Pulvers. Ihre Hand schloss sich schnell um die Phiole, sie tauchte wieder unter und robbte unbeholfen so rasch und leise es ihr eben möglich war, in die rechte Zimmerecke.

Keinen Moment zu spät. Aidan donnerte gegen das Regal, welches nun wirklich umfiel. Er konnte sich nur mit Mühe und unter Flüchen davor bewahren nicht selber unter dem schweren Möbelstück begraben zu werden. Das Sandast, welches sie gegen ihre Brust presste, wäre nun wohl verloren gewesen. Die so hart geführte Offensive deutete Cahira an, dass Aidan es wohl langsam satt hatte, mit ihr zu spielen. Er wollte zu einem Ende kommen, aber das war ihr auch recht so. Sie spürte ihren Arm kaum mehr, ihr Bein wollte ihr auch nicht mehr gehorchen. Sie konnte nur hoffen das Aidan noch immer nicht die Lust daran verloren hatte, den letzten Lebensfunken aus ihr heraus zu prügeln.

Durch ihren Tanz durch das Zimmer hatten sie einige Bandagen Richtung Kamin getreten und diese hatten sich entzündet. Sie brannten fröhlich vor sich hin. Als das Feuer die Bandagen verzehrt hat, fraß es sich durch den Holzboden, nährte sich an den verschiedenen Mixturen der aus dem Regal getrudelten, zersprungenen und zertretenen Behältnissen. Durch den Rauch bekam Cahira das im ersten Moment gar nicht mir, nur dass irgendwas zischte und ab und zu verpuffte.

Sie presste ihren Rücken gegen die Wand, schob sich schnaufend hoch und vermied es diesmal nicht, diese Geräusche zu unterdrücken. Er sollte ganz genau wissen, wo sich befand. Und tatsächlich prallte nur einen Wimpernschlag später ein hart geführter Schlag Richtung ihres Gesichts. Durch eine schnelle Drehung ihres Kopfes streifte die Faust, und das auch so schmerzhaft genug, ihre Wange und hämmerte gegen die Wand. „Habe ich dich.“ keuchte Aidan, der sie mit Hilfe seines hochgezogenen Knies in ihrem Unterleib und seinem ganzen Gewicht eisern gegen die Mauer presste. Und seine Hände schlossen sich um ihren Hals ...

Da er nun damit beschäftigt war, sie mit ernsthafter Innbrunst zu erwürgen, konnte Cahira ihren brauchbaren Arm irgendwie befreien und mit einem letzten Aufwallen von Kraft zerschmetterte sie das Glasgefäss genau auf seinem Gesicht. Selber versuchte sie die Luft anzuhalten, gar nicht einfach, wenn man zuvor gewürgt worden und der erste Impuls doch das Atemholen war, und die Augen zusammenzupressen; sie hatte keine Lust, mit diesem Pulver in Berührung zu kommen, auch wenn es ja hieß, nur über Blut setzte die verheerende Wirkung ein.

Sie hatte ganz sicher nicht an eine lähmende Wirkung geglaubt. Sie hatte aber gehofft, dass der Mann für einige Momente geschockt genug war, um aus dem Tritt gebracht zu werden, wenn er befürchten musste, welche gefährliche Substanz sich eventuell mit seinem Blut mischte. Aidan taumelte zurück. Das Glas hatte ihm das Gesicht zerschnitten; keine Verletzungen, die tödlich waren, aber sie konnten die ein oder andere unschöne Narbe hinterlassen. Das blaue Pulver hatte sich auf seine Augen, in seine Nasenhöhlen und seinen Mund verteilt und vermischte sich mit seinen blutenden Wunden im Antlitz.

„Was, was hast Du getan?“ fragte er ungläubig und wischte sich mit seinen Händen im Gesicht herum. Dann starrte er seine blauen Pulverhände an. Cahira hatte noch immer den Kopf der Flasche in ihrer Hand, es klebte noch immer Pulver an den Schnittstellen und im Flaschenhals. Sie zuckte vor und zerschnitt ihm sein Wams und drückte weiter, bis sie spürte, wie sich das gezackte Glas in sein Fleisch bohrte. Wenn er nicht eine ordentliche Portion Sandast durch die Wunden in seinem Gesicht abbekommen hatte, dann wohl jetzt. Er schien den Schmerz auch gar nicht mehr wahrzunehmen. Kein Laut kaum über seine Lippen, er zuckte noch nicht einmal. Sein Blick war leer. Ohne Mühe konnte sie Aidan mit einem Stoß ihrer Schulter Richtung Kamin schubsen.

Er brach überraschenderweise am Kamin zusammen und kaum, dass er da ausgestreckt zum Liegen kam, sprangen die Türschlösser wieder auf. Der Rauch lichtete sich jedoch kaum und die Hitze hatte während ihres letzten Gefechts stark zugenommen. Die hungrigen Flammen fanden den am Boden liegenden, mit Pulver bestäubten Leib und nahmen ihn viel zu rasch für sich ein.

Irrsinnigerweise zögerte Cahira statt gleich das Weite zu suchen und sich vor dem sicheren Flammentot in der Hütte zu bewahren. Ihr erster Impuls war es, zu dem Mann zu laufen, die Flammen notdürftig auszuklopfen, um dann zu versuchen, ihn hier rauszuschleifen. “Lauf, du dumme Gans” murmelte Aidan. “Du kannst nicht alle retten.” Ganz abgesehen davon, dass ihr körperlicher Zustand es wahrscheinlich gar nicht erlaubt hätte, den schweren Körper nach draußen zu schaffen, bliebe er doch wohl noch immer ein hinterlistiges Subjekt, welches ihrem Sohn schaden wollte. Dieser Gedanke ließ sie herumfahren.

Sie humpelte zur Tür, hinaus in die nun eisige Nachtluft. Es tat gut nach der stickigen Hütte tiefe Züge frischer Luft in ihre Lungen zu saugen; die Kälte brachte ihr zum Teil ihre Lebensgeister zurück. Hinter ihr brannte die Hütte nun lichterloh und die Flammen leckten gen Himmel. Beobachter, deren Blicke Richtung Küste wanderten, nahmen wohl an, dass es sich dabei um ein weiteres Lagerfeuer am Vorabend zu Ceílil handeln musste. Cahira schaute nicht zurück und schleifte ihren geprügelten Körper immer weiter den altbekannten Weg Richtung Hof ihrer Sippe.
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#7
Am nächsten Morgen, sie wusste gar nicht mehr, wie sie in ihr Bett gekommen ist noch dass sie sich notdürftig gewaschen und sich ihr Nachtkleid übergestreift hatte, wurde sie von einer äußerst erschüttert drein blickenden Cousine geweckt. "Du musst schnell kommen. Es ist etwas schreckliches passiert!" Cahira konnte sich ziemlich genau denken, um was es ging, rollte sich aber dennoch stöhnend aus dem Bett und deckte Lionel, der wohl Nachts zu ihr gekrochen war, wieder vorsichtig mit der Decke zu.

Sie fühlte sich erschlagen, wund, alle Knochen taten ihr weh und sie hatte einige sehr imposante blaue Flecken. Zum Glück konnte sie diese unter ihrem frisch aus ihrer Wäschetruhe hervor gezogenen Kleid und einer leichten Stola verdeckten. Nur die Schramme in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen. Nun ja, würde sie wohl erklären müssen, dass sie hingefallen war oder ähnliches - gerade bei so ausschweifenden Feierlichkeiten bei denen Alkohol in Strömen floss und wild getanzt wurde, Familien, die ein Jahr lang nichts miteinander zu tun hatten, unter ein Dach gepfercht wurden, waren Risse, Schrammen, blaue Flecken nichts ungewöhnliches

Und gerade dann war ein Heiler von Nöten, welcher die körperlichen Wehwehchen behandelte und auch so manchen Sippenzwist zu beseitigen wusste durch gutes Zureden, Zuhören und Beschwichtigungen. Doch zu großer Überraschung und Bestürzung der ersten Heilbedürftigen war Aidans Hütte nur noch ein verkohltes Gerippe ihrer selbst. Natürlich hatte man dann nach dem Mann gesucht, aber er war verschwunden geblieben.

Jovanes Bericht, der wohl als letztes mit dem Heiler gesprochen hatte, bestätigten die schlimmsten Vermutungen: Aidan war noch mitten im Fest aufgebrochen, um eine beruhigende Kräutermixtur für die angespannten Nerven seiner Verlobten zu mischen. Dabei musste wohl irgendein Unfall passiert und die Hütte mitsamt seines Bewohners niedergebrannt sein. Zum Glück schliefen die beiden Söhne des Heilers nicht zu Hause, sondern befanden sich in der Obhut der Familie der Verlobten.

Cahira nahm den Bericht der Ältesten nahezu reglos hin. Sie hätte sicherlich einige sehr interessante Details dieser Geschichte hinzufügen können. All' die Personen, die ihr gestern Abend noch überschwänglich Glückwünsche zur ihrer Hochzeit angetragen haben, machten ihr nun - weniger enthusiastisch - Bleileidsbekundigungen. Aidans Söhne saßen wie zwei nasse junge Hunde neben ihr auf der Bank und hörten vom plötzlichen Tod ihres Vaters. Was auch immer er gewesen sein mochte und obwohl er die beiden als "Holzköpfe" bezeichnet hatte, er war ein guter Vater gewesen.

"Wo sollen wir denn nun bleiben?" fragte der Ältere, pragmatisch wie Kinder nun einmal waren. "Ihr bleibt selbstverständlich bei uns." hatte Cahira entschieden und nicht erst die Zustimmung von Seán oder ihrem Onkel eingeholt, die schließlich die Ältesten ihrer Sippe waren und über das Geschick der Familie bestimmten. Sie wusste, dass ihr Vater genau so handeln würde.

Als sie schließlich alleine in der kalten Wohnküche saß, die Stola um ihre Schultern gewickelt und die Hoffnung, die seit gestern Abend statt des Verlustes in ihr zu wachsen begonnen hatte, allmählich wieder zulassen konnte, kam ihr Vater zu ihr, setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand. "Es tut mir so leid, Kätzchen. Ich habe erst jetzt begriffen, was ich Dir angetan habe ..." Aidans Bann war mit seinem Tod aufgelöst. "Schon gut. Ich würde auch alles tun, um Lionel vor einem schweren Schicksal, Schmerz oder Tod zu bewahren." Cahira hatte ihren Kopf an das schütter gewordene Haar ihres Vaters gelegt und einträchtig hatten sie eine geraume Weile zusammen gesessen.

"Aber du weißt, was ich nun tun muss, Papa? Du weißt, wohin ich zurück kehren muss?" "Ich weiß, Kätzchen. Ich weiß." "Lionel und die beiden Jungs lasse ich bei Dir. Drei Jahre sind eine lange Zeit."

***

"Hast Du das schon gehört, das aus Svesur, vom letzten Ceílil?"
"Nein, lass hören."
"Ein junges Pärchen, eine Nacht vor ihrer Hochzeit. Da soll der Bräutigam sich selber umgebracht haben ..."
"Erzähl' nicht so einen Quatsch. Dem ist die Hütte abgebrannt!"
"Dann eben so. Aber sie, die Braut, hat schon ihren vorherigen Ehemann getötet .. "
"Der war ein Mörder!"
"Erzähle ich jetzt hier die Geschichte, oder was?"
"Bitte."
"Also ... wo war ich? Ahjah. Die Hütte ist abgebrannt. Er war wohl drin. Oder nicht? Denn Knochen sollen wohl keine gefunden worden sein."
"Ach, was. Verbrennen die nicht auch?"
"Als das Haus meiner Großtante dritten Grades mütterlicherseits abgebrannt ist - wir haben ihr immer gesagt, keine Pfeifen im Bett - wurden ihre Knochen aus der Asche geholt ..."
"Deine Tante ist verbrannt, wann denn das?"
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#8
Der Raum war schlicht, weiß gekalkt. Ein Fenster mit Blick auf einige karge Gemüsebeete. Eine kleine Kommode, Nacht - und Waschtisch aus wurmstichigem Holz, die Schüssel mit einigen Sprüngen komplettieren auch schon die einfache Einrichtung. Er hatte sich einen Schemel an ihr Bett gezogen und betrachtete gedankenverloren die braunen Locken, die im Fieberschweiß an Wangen und Stirn klebten, während er eine silberne Münze spielerisch durch seine schlanken Finger gleiten ließ. Die Bettdecke hob und senkte sich mit ihren tiefen, unregelmässigen Atemzügen; der bandagierte Arm lag lose über ihrer Brust. Aber der Arm war nicht das Problem. Es waren vielmehr die Wunden am Bein, die einfach nicht heilen wollten und auch wenn er es schaffen sollte, diesem beständigen Geschwür aus Eiter und Wundbrand endlich Herr zu werden, war es wohl fraglich, ob sie es jemals wieder benutzen können würde ...

Aidan seufzte schwer und schrak zusammen, als der rundliche Schatten in der Tür sich mit einem gleichsam erfreuten wie auch gezierten Aufquieken zur Gestalt von einer Cahiras zahlreichen Cousinen manifestierte. Auf ihrer Hüfte trug sie einen kleinen Jungen, der emsig an seinem Daumen lutschte und seinen dunklen Schopf an ihre Schulter gelehnt hielt, die Augen halb geschlossen. Der Mann erschauderte. Zum einen stellte dieses Mädchen ihm ungeniert nach - was er verabscheute - zum anderen war dies heute in der Tat nur ein spontaner Besuch und er hatte sich nicht geschützt. Er würde sich keine fünf Lidschläge in der Anwesenheit des Jungen befinden können, ohne dass er das Gefühl hatte, dass Ameisen unter seiner Haut krochen. Zehn Lidschläge und helle Punkte würden vor seinen Augen tanzen, ihn blind und dumpf machen. Zwanzig Lidschläge und der Junge würde mit seiner ungerichteten Gabe sicher seinen Verstand weggebrannt haben.

“Wie bist Du denn hier herein gekommen?”, flötete die junge Frau in so hohem Tone, dass selbst Cahira auf ihrem Krankenlager kurz aufzustöhnen schien. “Ich dachte, ich bringe Lionel mal ein bisschen zu seiner Mutter. Das wird sie sicher aufmuntern.”

Er rollte die Augen. Fraglich, ob Cahira das in ihrem komatösen Dämmerzustand überhaupt mitbekommen würde, aber er wollte sich auf keine Diskussion einlassen - seine Haut begann bereits zu jucken - erhob sich geschmeidig von seinem Platz und ließ die Münze dabei in seine Tasche gleiten.
“Durch die Tür, Liebes. Und dorthin verschwinde ich nun auch wieder.” Er verpackte die Abfuhr in die samtige Watte seiner Stimme und strebte gen Flur, die Cousine ratlos blinzelnd zurücklassen.

Er hätte die Hintertreppe nehmen sollen, die geradewegs auf einen kleinen Hof führte, in dem Wäsche aufgehangen wurde und gackernde Hühner sich tummelten. Die Chancen hätten gut gestanden, sich ungesehen davon machen zu können. Eine der Eigenarten des Teahanischen Haushaltes war es, dass man niemals alleine war und auch wenn keiner der Sippe körperlich anwesend war, man hörte sie, man roch sie, man spürte sie. Er verglich sie insgeheim mit Schaben, die unter jedem Stein hockten.

Doch da stand er schon mitten in der großen Wohnküche des Hauses. Am Feuer saß Cahiras Vater und schnitzte, wie eigentlich immer, an irgendeinem kleinen Holzstück herum. Die Zwillingsbrüder, einer Dicker, einer Kleiner, gossen sich gerade Apfelmost in einen Becher und als sie ihn sahen, schoben sie ihm ungefragt einen dritten Becher hinüber. Im Hintergrund klapperten die Stricknadeln von drei Frauen der Familie, deren Namen er sich und nimmer würde merken können.

“Wie geht es denn meinem Kätzchen?”, fragte der Alte vom Feuer her und Aidan hasste diesen hoffnungsvollen Ausdruck in den Augen, der ihn regelrecht anflehte, irgendetwas positives zu prophezeien wie Wird schon wieder!, was sich aber in vielen Fällen nicht bewahrheitete und in welchen er dann als Lügner oder Schlimmeres galt. Vermutlich erklärte dieser Unmut gepaart mit seinen noch immer empfindlichen Sinnen die harschen Worte, während er den Becher an die Lippen führte:

“Hrm. Vielleicht suchst Du Dir einen größeren Ast, damit Du ihr ein Holzbein schnitzen kannst…  oder einen Krückstock…  oder gleich einen Sarg!” - ein Fehler, den er keine zwei Herzschläge später auch schon bereute. Dies war sicher nicht die richtige Art und Weise, sich bei der Familie beliebt zu machen um in der Nähe dieses außergewöhnlichen Kindes zu bleiben.

Entsetzte Totenstille herrschte im Raum. Selbst das Feuer schien sein Knistern eingestellt zu haben. Die Frauen hatten die Stricknadeln sinken lassen, starrten ihm entgegen. Séan hatte eine Hand zum Herzen gerissen und sah aus, als hätte ihn geradewegs der Schlag getroffen und Dick und Klein maßen seine Gestalt wie eines ihrer zum Schlachten angedachten Schweine.

Vorsichtig stellte er den Mostbecher ab, als würde jener höchst explosiven Inhalt beinhalten, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und ging langsam rückwärts Richtung Tür, die Meute nicht aus den Augen lassend. Mit recht trockenem Mund murmelt er: “Das war doch nur .. also .. das Fieber ja … ich stöbere mal durch meine Bücher, was ich da machen kann, bis … dahin!” Sich so schnell wie möglich davon zu machen erschien ihm in dieser Situation die beste Lösung zu sein und später war dieser Vorfall sicher schon vergessen; vor allem wenn er dann eine Heilkur parat haben würde.

Draußen atmete er tief die klare Luft ein. Er fühlte sich als sei er dem Tode durch einen Lynchmob gerade noch so entkommen und wandte sich Richtung Küstenweg. Seine Finger versicherten sich der Münze in der Tasche und er rieb, sich selber beruhigend, mit dem Daumen über die feine Ziselierung am Rand. Mit einem Male fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er beschleunigte seine Schritte.
“Natürlich, der Tod ist die Lösung!”
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#9
Mit schnellen Schritten eilte er den Küstenweg entlang und ließ andere Passanten mit verwunderten Blicken hinter sich zurück. Er schien der Lösung seines Problems so nahe zu sein, dass er keine Zeit hatte für belanglose Konversation über das Wetter oder Hühneraugen.

Als er bei seiner Hütte angekommen war, flatterte sein Atem mehr ob der Erregung als von der körperlichen Anstrengung beinahe im Laufschritt nach Hause gerannt zu sein und er lehnte sich von Innen einige Momente gegen die Haustüre, um wieder einen klaren, ruhigen Verstand zu bekommen. Seine Söhne waren bei Nachbarn untergekommen und er drehte den Schlüssel zwei Mal kräftig im Schloß herum, damit niemand unversehens durch die Tür brechen konnte, und zog die verblichenen Vorhänge vor die Fenster. (Erst später, als er beschlossen hatte, Cahira zu einem festen Teil seines Lebens zu machen, hielt Gemütlichkeit in der kleinen Hütte, welche er von seinem Vorgänger klaglos übernommen hatte, in Form von bunten Flickendecken, Vasen mit Blumen der Saison oder duftigen Stoffen vor den Fenstern Einzug.)

Er konnte nun wirklich keine neugierigen Augen gebrauchen. Vor allem nicht, als er eine Holzdiele vor dem Kamin löste und aus dem Hohlraum darunter ein abgegriffenes Lederbuch hervor holte. Aidan pustet Staub in die schummrige Stube und legte das hinlänglich gesäuberte Buch vorsichtig auf den Tisch.

Es war das Buch seines Meisters gewesen und dessen Meister davor, der sich der dunklen Seite der Kunst verschrieben hatte. Er glaubte nicht, das viele dieser Bücher existierten und wenn, waren sie wohl alle anders beschaffen: eine Sammlung von Sprüchen und Rezepten, von den verschiedenen Besitzern des Buches aufgeschrieben und weitergegeben. Doch aus Angst vor Entdeckung und auch aus albernem Konkurrenzdenken heraus - Hexer waren von Natur aus argwöhnisch -  hielt man solche Bücher klammheimlich und eifersüchtig unter Verschluss.

Der Einband war alt, zerbrochen, einmal goldene Titellettern waren kaum mehr zu entziffern. Er musste vorsichtig sein, als er die spinnenwebsdünnen Seiten umblätterte, die knisterten und ächzten wie trockene Blätter im Herbst, bei der Suche nach dem Rezept, welches ihm auf der Flucht vor dem Teahanischen Lynchmob urplötzlich in den Geist gesprungen war.


... wir müssen sie bestrafen … verwende mich, benutze mich … Schmerzen, unvorstellbare Schmerzen … Qualen … ich bin hier … hier ...

Einige glaubten natürlich, dass Hexerei im Allgmeinen böse sei’, aber Aidan hatte genügend Kräuterweibchen kennengelernt, die außer ein paar Kröten, welche sie in Vollmondnächten in einen Kessel rührten um Überbeine zu lindern, niemanden etwas zu Leide taten. Einige der Flüche, Bannsprüche und Rezepte in jenem Buch jedoch trugen eindeutig die Zeichen wahrer Niedertracht und Tücke und ein Grund, weswegen sein Meister ihm das Buch vermacht hatte, war seine Widerstandsfähigkeit gegenüber der Verführung, sie willenlos anzuwenden. Er ignorierte die andauernde Betörung und konzentrierte sich auf das Wesentliche: Das Geheimnis um rund der Münze endlich zu lüften.

Er hatte das Siberstück in einem Kästchen neben Cahiras Bett gefunden, als er einmal Nachtwache am Bett seiner Patientin gehalten und vor Langweile die karge Einrichtung studierte hatte. Das Kästchen an sich enthielt wohl vielgeliebte Erinnerungen: Ein paar verblichene Briefe in geübter Beamtenschrift, vertrocknete Blütenblätter, Teile einer gerissenen Kette mit trüben Bernsteinen und dann am Grund die Münze unbekannter Prägung. Aidan hatte sofort gespürt, dass ein Bannspruch auf ihr lag und dies hatte seine schläfrigen Sinne geweckt. An Cahira hatte er die Gabe bislang noch nicht entdecken können und der Junge war zu jung, um einen gerichteten Fluch auszusprechen. Also hatte jemand anders die Münze mit dem Spruch belegt, aber wer und aus welchem Grund?

Aidan hatte in der Zwischenzeit zwar herausgefunden, dass der Fluch bewirkte, dass der Träger der Münze zu einer bestimmten Person hingezogen werden sollte, aber wer diese Person war oder wo sie sich befand, blieb bisher im Nebel verborge. Jegliche Ortungssprüche verpufften wirkungslos, das Pendel, welches ihm auf einer groben Weltkarte den ungefähren Aufenthaltsort des Verursachers zeigen wollte, blieb müde in der Luft hängen, selbst die Kristallkugel, die er nur ungern zur Hilfe nahm und die ihm eigentlich ein Gesicht zeigen sollte, zumindest eine Gestalt, blieb trübe. Er begann an seinen Fähigkeiten zu zweifeln und diese Unsicherheit schlug ihm aufs Gemüt.

Als er nun die einfachen Zutaten zusammenrührte, welche das Rezept aufführten, fragte er sich, warum er nicht eher darauf gekommen war. Seine Erregung wuchs wieder, als er die Münze in das unappetitlich aussehende Gebräu von erbsengrüner Farbe legte. Er musste sich einige Augenblicke gedulden … die Momente verstrichen, ohne dass etwas geschah, er hörte die Möwen draußen schreien ... Und dann, endlich, nachdem seine Hoffnung schon wieder zu schwinden begann, begann die Flüssigkeit zu blubbern, änderte ihre Farbe von grün zu schwarz und stieg eine dicke Rauchfahne empor, die sich zu einem plastischen Totenschädel formte.

Aidan seufzte, einerseits erleichtert, andererseits enttäuscht, und wedelte das dunkle Zeichen mit einer lässigen Handbewegung fort. Er hatte nun die Gewissheit, dass der Verursacher des Fluches tot war und deswegen waren seine vorherigen Bemühungen, ihn ausfindig zu machen, ins Leere gelaufen. Doch wie gerne hätte er mehr über die Gründe erfahren, die dazu geführt hatten, die Münze zu verfluchen und es war unwahrscheinlich, dass Cahira davon wusste … (Aidan ahnte es zu diesem Zeitpunkt nicht, dass die Münze, welche eine besondere Bedeutung für die Mendozas hatte, vom Erzfeind der jungen Frau, Kyrthon Dureth, mit dem Fluch belegt worden war und jener, zumindest zu der Zeit, als Cahira getrennt von Ehemann und Kameraden auf Svesur gelebt hatte, von Kordian in den Abyss geschickt worden war ...)

Er trocknete die Münze ab, den Rest des Sudes schüttete er achtlos aus einem rasch geöffneten Fenster. Meeresluft vertrieb den Dunst, der sich in der Heilerstube gesammelt hatte und Aidan atmete tief durch. Eher aus einer Laune heraus hob er die Münze zu seinen Lippen und murmelte eine Beschwörungsformel, die den alten Fluch überdeckte - der Tote benötigte ihn wohl kaum mehr - und ihn zum Nutznießer vom Aufenthaltsort der Münze und somit wohl auch Cahira und Lionel machte. Natürlich wollte er den Jungen mit diesen außergewöhnlichen Fähigkeiten im Auge behalten, im günstigsten Falle viel mehr sogar als das, und da schien ihm die Mutter ein guter Zugang … noch besser, wenn Cahira ihm gegenüber Zuneigung fassen sollte … Er schnitt sich mit einem kleinen, scharfen Messer in den Daumen und vermischte das hervorquellende Blut mit einigen Kräutern und rieb das Silberstück damit sorgfältig ein.

… was ist, wenn sie die Münze verliert? .. oder verschenkt? Du musst sie bestrafen .. und den, der die Münze fordert … Qualen … verwende mich .. verwende uns … nur ein paar Worte, Aidan … nur ein paar …


Und Aidan zögerte, lauschend ….
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#10
Ravinsthal, Gegenwart

Die Münze hatte in einem kleinen Kästchen mit einer fein gebundenen Schleife auf dem Kopfkissen ihres Bettes gelegen. Ein Ritter in Guldenach hatte sie ihr geschenkt und sie wurde im Laufe der Jahre ein Symbol für die schweren, wechselhaften Zeiten, welche die Mendozas durchlitten hatten. Sie hatte angenommen, dass sie das Silberstück verloren oder ihr Vater auf Svesur verkauft hatte - sicher hätte er dafür einen Sack Mehl, eine fette Sau oder Saatgut erhalten; mit Lionel und ihr zählte die Sippe noch zwei Köpfe mehr, die versorgt werden wollten. Doch Cahira hatte nicht den Mut gehabt, in ihr Erinnerungskästchen zu schauen und dann, als sie wieder mit Ehemann und Kameraden vereint gewesen war, war die kleine Truhe ganz nach hinten in ihren Wäscheschrank gewandert und hatte mehrere Umzüge überlebt.

Es war ungefähr zur Zeit gewesen, als sie entdeckt hatte, zum dritten Mal guter Hoffnung zu sein und wie selbstverständlich hatte sie gedacht, dass es ihr Ehemann gewesen war, der ihr dieses kleine, vergessene Präsent gemacht hatte, wie es nun einmal seine Art war, ohne groß Aufhebens darum zu machen. Ein Lederband war um die Münze geschlungen, so dass man sie wie ein Schmuckstück um den Hals tragen konnte. Cahira nahm das Band nie ab und es wurde zur Gewohnheit, das Silber, erwärmt von ihrer Haut, unter Hemd oder Lederkluft zu tragen.

Nichts, rein gar nichts, erregte den Verdacht, dass etwas mit der Münze nicht stimmen könnte … bis sie das Schmuckstück ablegte.

Zunächst war es die kurz aufzuckende, schreckhafte Sorge, so wie wenn man sich fragte, ob man die Türe verschlossen oder das Herdfeuer gelöscht hatte, doch im nächsten Moment beruhigten sich die aufgescheuchten Gedanken wieder und Cahira erinnerte sich, dass sie die Münze in Kyrons Hände gegeben hatte. Doch mehr und mehr verblasste die Erinnerung an jenen Abend in Hohenquell und es verblieb nur noch die quälende Frage, wo die Münze abgeblieben sein mochte. Dazu gesellten sich Alpträume, die sie keine Nacht ruhig durchschlafen ließen und das brennende Gefühl, mit dem Silberstück etwas sehr, sehr wichtiges verloren zu haben, was sie dringend wiederbeschaffen musste. Ein mahnender Ausschlag hatte sich dort gebildet, wo die Münze einst auf ihrer Haut ruhte, und sie kratzte sich diese Stelle blutig und verbarg sie unter ihrem üblichen Halstuch.

Und Cahira begann zu suchen. Sie stöberte zunächst recht unauffällig in den Schränken und Truhen zu Hause oder durchkämmte mit ihrer Mistgabel die Strohballen. Doch der Kreis, in welchem sie meinte, die Münze verloren zu haben oder vielleicht noch schlimmer, in dem man sie ihr gestohlen hatten - der Dieb wurde büßen! - breitete sich allmählich aus, die Nachforschungen wurden mit jedem Tag eifriger, manischer und die junge Frau immer verzweifelter. Um jeden Preis musste sie die Münze finden … um jeden Preis!
[Bild: Cahira-Sig.jpg]
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