Schwarzer Vogel
#1
Arm sein schmeckte nach Karotten. Sie kaute geistesabwesend an einem verblassten Exemplar, während sie zum fünften Mal an diesem Abend das Buch in ihrem Schoß zuschlug. Sie konnte sich nicht aufs Lesen konzentrieren. Es knirschte und knackte, das Gemüse wurde von unbarmherzigen Zähnen zerkleinert. Das Licht war fahl im Schlafsaal, ihre Kerze neigte sich dem Ende zu. Sie konnte sich nur minderwertige Kerzen leisten. Draußen die nachtfeuchte Stille eines Frühlingsabends, ab und zu durchbrochen vom Kreischen der monströsen Vogelfrauen am Pass. Georg und Dana unterhielten sich unterdrückt in der Gaststube, ein fernes Murmeln. Die Gaststube versprach Geselligkeit, aber Gwendolyn suchte keine. Hinunterzugehen hätte nur bedeutet, unter Menschen sein zu müssen.

Karotten. Es hatte eine Zeit gegeben, in der da ein Lager gewesen war, das vor Lebensmittel übergequollen war, eine Zeit, in der es einen Koch gegeben hatte, der die Familie versorgte. Es hatte niemandem an etwas gemangelt. Sie schämte sich, seinen Namen vergessen zu haben. Der nächste Bissen. Die Fasern ließen sich schwer zerbeißen. Sie hatten die Angewohnheit, zu einer pelzigen Masse im Mund zu werden. Der letzte Bissen. Erlösender Griff nach einem Wasserbecher. Spätestens in zwei Stunden würde sie wieder Hunger haben. Sie verbot sich, Georg um Hilfe zu bitten. Zu versessen darauf, sich vor sich selber zu beweisen, ertrug sie lieber das Magenknurren. Die Götter hatten sie auf einen Weg geschickt, der nicht nur eben und schön bepflanzt, sondern steinig war, also würde sie alles ertragen, was für sie vorgesehen war. Stolz und arm vertrug sich trotzdem schwer. Der Wunsch, es selbst zu schaffen, war größer als ihr Hunger. Sie behielt den letzten Schluck Wasser lange im Mund. Die vage Hoffnung, er werde die Pelzigkeit lindern, hielt sich nur bis zum Augenblick des Hinunterschluckens. Fast kamen ihr die Bissen wieder hoch. Sie kämpfte das Würgen nieder und dankte Amatheon.

Die Kälte war ihr verstohlen in die Glieder gefahren. Ein Zittern durchfuhr sie. Da half auch die schwarze Robe nichts. Man sah sie anders an, seitdem sie so gekleidet war. Die meisten Menschen schauten ihr nicht mehr zuerst ins Gesicht. Sie sahen das Schwarz und entschlossen sich zu Freundlichkeit oder Misstrauen. Und dann fragten sie nach Viktor.

Kein Schritt war in Servano möglich ohne den Schatten ihres Vetters. Der Waffenstillstand, der geschlossen worden war, war so fragil wie Eis, das sich beim ersten Frost bildet. Es brauchte nur eine unachtsam aufgesetzte Schuhspitze, um es zu brechen. Es war eine selten vertrackte Lage. Bedingungen wurden verhandelt. Natürlich wurden sie das. Wie sollten sie als Veltenbruchkinder das auch anders lösen. Zwei Kaufmannskinder saßen sich gegenüber und feuerten Forderungen über den Tisch, handelten Bedingungen aus. Eins saß in Rot da, das andere in Schwarz. Er hatte diese unangenehme Argumentationsstärke, die sie ständig in Verteidigungshaltungen brachte, in die sie gar nicht zu sein brauchte.

„Vor den Menschen in unserer Gemeinde werden wir kein schlechtes Wort übereinander verlieren. Und wenn es welche zu verlieren gäbe, so verlieren wir sie voreinander.“

Stockfisch. „Ich will, dass du dich in regelmäßigen Abständen mit mir an einen Tisch setzt und ein Mahl teilst.“ Es muss dir ja nicht gefallen.

„Ihr werdet mich begleiten, sollte ich auf eine Feier eingeladen sein und anders herum.“

„Behandle mich nicht wie ein Kind. Schon gar nicht in der Öffentlichkeit.“ Du bist nicht mein Vater. Du bist 13 Tage älter als ich. Das Recht, über mich zu urteilen, hast du nicht. 13 Tage!

Sie hatten nur noch einander. Man dreht seinem einzigen Blutsverwandten nicht den Rücken zu, vor allem dann nicht, wenn ihm das einen Vorteil verschaffen könnte.
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#2
Eine Frau stieg den Weg zum Schrein hinauf. Sie schaute sich nicht um, sie hatte keinen Grund dazu. Ihr Blick war starr auf ihren Weg gerichtet. Es war kein langer Weg. Sie zertrat unterwegs sieben Ameisen, drei Marienkäfer und einen Wurm. Opfer müssen gebracht werden.

Eine Frau stieg den Weg zum Schrein hinauf. Sie hatte eine Aufgabe. Sie setzte bloße Füße ins lange Gras, sie trug kein Schuhwerk. Eine Frau trug eine Robe, die das fahle Tageslicht, das Sulis den Sterblichen noch gelassen hatte, in sich aufsog wie gierige Zicklein ihre Milch. Sie raschelte sich vorwärts.

Eine Frau stieg den Weg zum Schrein hinauf. Kleine Steine bohrten sich in ihre Fußsohlen, aber das war der Lauf der Dinge. Von ferne kreischten Vogelfrauen und sie wandte sich nicht um.

Eine Frau stieg den Weg zum Schrein hinauf und grub ein Loch in die Erde, wie sie es gelernt hatte. Eine Frau krallte die Hände ins Erdreich, stach sich in den Finger und gab ihr Blut. Eine Frau fand das gerecht.

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#3
Sulis war sparsam mit ihrer Gunst an diesem Morgen. Die Sonne schien fahl, der Himmel war bedeckt von düsteren, grauen Wolkenfetzen. Im Druidenviertel regte sich nichts. Ob in den zahlreichen kleinen Höhlen der Raben schon jemand die Augen geöffnet hatte? Im Schülerhaus saß jemand, ein graues Wollstoffbündel. Auch dieser Jemand regte sich nicht, aber seine Belladonnaaugen waren groß ins scheinbare Nichts gerichtet und verloren sich in einer der Steinwände, aus denen das Schülerhaus gebaut worden war. Schon eine Weile lang verharrte besagter Jemand am Rand der Holzplattform, die vom Haus der Schüler in einen kleinen Teich führte. Er saß mit dem Rücken zur Wasseroberfläche. Die Decke sank auf die Schultern, das Stoffbündel entpuppte sich als Gwendolyn.

Hinter ihr träges Plätschern, vor ihr die dichte Stille eines Hauses, die nur in Steinhäusern so besonders gewichtig ist, zäh wie Sirup, schwer wie ein Alptraumdruck auf der Brust. Es hätte draußen kaum ruhiger sein können, aber in ihr peitschte eine Sturmflut gegen den Damm der Selbstkontrolle. Sie spürte jeden der neun Schläge, die auf ihren drahtigen Körper niedergegangen waren. Kein Fingerbreit ihrer Haut würde vergessen. Das Fleisch erinnert sich auf seine eigene Art, ganz ohne Zutun des Kopfes. Sie rief bessere Erinnerungen in sich wach, um der garstigen Konkurrenz zu machen. Ein Händedruck von Gotmar. Eldas Umarmung. Theresia, wie sie ihr stolz die Wange tätschelte. Ein Kuss auf der Handinnenfläche. Korens Hand in ihrem Nacken.

Sie hatte Viktor nicht mehr angesehen, nachdem er den Knüppel ergriffen hatte. Die rote Schlange musste ihm eingeredet haben, es selbst zu tun. Es war klüger, ihn nicht anzuschauen, nicht nur, weil sie ihren Stolz bewahren wollte. Hätte sie ihm in die Augen gesehen, wäre die Beherrschtheit nicht mehr aufrechtzuerhalten gewesen. Dann hätte die Schlange Lisbeth sie doch noch in den Kerker werfen lassen können. Da hätte auch das Wort eines Ritters nicht mehr ausgereicht.

Die Druidenschülerin ließ die graue Decke von den Schultern sinken, in die sie sich eingewickelt hatte. Sie zwang sich zur Langsamkeit, zur Stille, zur Ruhe. Nur noch ein bisschen, bevor sie nachschaute, prüfte. Im Jurensitz ruhend, zog sie den Stoff über die bloßen Beine, hob den Kopf an, schloss die Augen und presste die Hände auf das raue Holz. Sie fühlte sich wachsen, sie streckte sich durch. Sie stellte sich vor, wie Galates hinter ihr stand, ihren Kopf stützte und ihr stumm half, gerade zu bleiben und aufrecht. Wie Sulis‘ Gruß ihr Kraft einflößte. Fast meinte sie, ihre wärmenden Sonnenstrahlen am Rücken zu spüren. Doch ihre Augen blieben sanft geschlossen, es reichte ihr völlig, die Anwesenheit der Göttin zu fühlen. Sie brauchte keinen Beweis. Taranis würde einen Windstoß schicken, der ihren Zorn über die Ungerechtigkeit der Welt forttrug. Sie beschwor ein Bild von Anu herauf, die ihr über die Wange streichelte, die Anspannung von ihrem Gesicht wischte.

Die Oberschenkel schmerzten schon von der Anstrengung, die die Muskeln nicht gewohnt waren, aber das machte nichts. Ihr Rücken war stark und ungebeugt. Niemand würde das ändern. Kein Mensch. Sie unterwarf sich nur den Göttern, und ihnen alleine. Die Fingernägel schabten über das ausgebleichte Holz. Sie drückte die Knie gegen den Boden. Es war wichtig, sich selber zu spüren. Sie hatte die Kontrolle, daran änderte kein Knüppel etwas. Dann löste sie die Haltung, ließ die Knie fallen, wohin sie wollten und wartete, bis die Muskeln sich entspannten.

Nun war sie bereit für einen Blick.

Entschlossen drehte den Kopf so weit wie möglich zur Seite und betrachtete das Spiegelbild ihres Rückens in dem stillen Teich. Keine blauen Flecken, kein Indiz der Gewalt mehr, die ihn zuvor gezeichnet hatten. Die Wunden der letzten Nacht waren verheilt, kraft der Macht der Götter. Vishayas Hände hatten ihr heilsames Werk auf Gwendolyns Rücken vollzogen. Mit freiem Auge konnte sie nichts ausmachen. Nicht die kleinste Verfärbung. Der Blick verlor sich lediglich irgendwo zwischen den Sommersprossennestern und den Blutspuren auf der blassen Haut. Die Gabe musste förmlich sprudeln in der Seele ihrer mächtigen, jurischen Meisterin. Nur das Blut hatte sie Vishaya nicht abwischen lassen. Das gehörte ihr. Es war auf ihrem Rücken eingetrocknet und zog hässliche, unregelmäßige Muster. Und sie würde es einzusetzen wissen.

Der Teich lag dunkel und unbewegt vor dem Haus der Schüler. Ein natürlich geformtes Becken. Eine Zuflucht. Wenn sie an den Schoß des Rabenkreises dachte, dann war es nicht der imposante, uralte Steinkreis oben, nicht der Blutstein mit den fein eingemeißelten Linien, nicht die Zirkelhalle, die als Bild hervortraten. Es war dieses unergründliche Gewässer. Das hier musste der Schoß der Erde sein, wo Cranus herrschte, aber Anus Wirken spürbar war, wenn man es schaffte, zum Grund des Gewässers zu tauchen. Sie fand es nicht seltsam, ausgerechnet hier den größten Trost zu empfinden. Im Wasser der Mütter wuchsen die Menschen zu Wesen. Im Wasser fühlten sie sich heimisch und umsorgt – und am Leben.

Sie warf die Decke ganz ab und stand kontrolliert auf. Dieser Morgen gehörte ihr und ihren Göttern ganz allein. Der Herbst hatte Einzug gehalten, die ersten Blätter dümpelten auf der spiegelglatten Oberfläche, die zu stören sie im Begriff war. Das Weinfest stand bevor. Es war klirrend kalt, zu kalt für ein Bad. Das nahm sie hin. Sie war zu erfüllt von der Stimmung des Ortes, dem Rauschen in ihrem Kopf, um darauf zu achten. War das der Weg zum göttlichen Rausch, von dem ihre Meisterin gesprochen hatte? Vishayas Worte, Stunden vor der Bestrafung ausgesprochen, waren zu einer Prophezeiung geworden: „Sich den Göttern geben ist das größte Geschenk, das man ihnen machen kann.“

„Ihr habt mir Kraft gegeben. Ich gebe euch mein Blut.“ Das war für das Pantheon.

Die Worte waren schlicht, aber sie brauchte sie nicht weiter verzieren. Jedes davon war an seinem Platz. Ihre Götter kannten die Antwort, die Viktor begehrt hatte. Alle Antworten. „Warum, Gwendolyn?“ Weil die rote Schlange den Glauben beleidigt hatte, der Gwendolyn hell und rauschhaft erfüllte. Weil sie es nicht hinnehmen konnte, wie die Priester ihre unselige Macht demonstrierten. Weil sie lieber ihre Stockschläge in Kauf nahm, als zu katzbuckeln. „Dass Ihr, abyssverflucht, nicht in der Lage seid, zu lernen!“ Ich lerne, Vetter. Ich lerne, an der Gabe zu wachsen. Ich spüre sie größer werden. Doch davon ahnst du nichts in deiner Blindheit. Du hast verlernt, hinzusehen. Du willst nur die Ordnung sehen und stößt dich an jeder Kleinigkeit. Auf der Suche nach blasphemischem Tun tastest du dich durch die Welt wie ein Blinder, der nicht zu deuten weiß, was andere klar sehen.

Die Fäuste geballt, brüllte sie die lange aufgestaute Wut gegen die moosbedeckten Steine, fühlte sich erlöster, streckte sich und sprang. Das war für sie.

Die Kälte schoss ihr wie Eispfeile durch die Glieder, als die Fingerspitzen ins Wasser glitten und sie eintauchte. Ihre Ohren pochten, als das eiskalte Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug. Es war zu dunkel, um viel zu sehen. Sie merkte, wie das verkrustete Blut am Rücken sich auflöste. Das war ihr Element. Ihr Morgen.
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#4
Invictus

Out of the night that covers me,
Black as the Pit from pole to pole,
I thank whatever gods may be
For my unconquerable soul.

In the fell clutch of circumstance
I have not winced nor cried aloud.
Under the bludgeonings of chance
My head is bloody, but unbowed.

Beyond this place of wrath and tears
Looms but the Horror of the shade,
And yet the menace of the years
Finds, and shall find, me unafraid.

It matters not how strait the gate,
How charged with punishments the scroll.
I am the master of my fate:
I am the captain of my soul.

William Ernest Henley


Als sie ihr den rettenden Strohhalm boten, haderte sie einen Moment mit sich. Es gab noch einen Ausweg. Es war nicht ihr Schicksal, sich den Kopf scheren lassen zu müssen und den Gang über die Kohlen anzutreten. Es war Viktor, der die Frage stellte. Das kam nicht überraschend. Von Albert erwartete sie derlei nicht mehr.

„Ich frage gerade heraus: Zieht Ihr daraus eine Lehre oder werdet ihr Euch weiter aufführen, als gehöre Euch die Welt und alle ihre Bewohner und Gesetze seien nur Spielzeuge?“

Sie konnte um Vergebung bitten, winseln, sie habe einen Fehler begangen und ihnen nach dem Mund reden. Es wäre einfacher. Es wäre schmerzloser. Und es wäre feig, es wäre gelogen und es wäre so falsch. Sie hatte eine Gläubige sprechen wollen, mehr nicht, und Albert konnte hundertmal geifern, Thalia wäre nichts mehr als abyssalischer Abschaum – sie blieb Gwendolyns Gläubige, bis sie dort draußen auf dem Platz in Flammen aufgehen würde, ihre Seele zerfiel und deren Einzelteile zu den Göttern zurückkehrten. Man hätte der Gefangenen in der Nachbarzelle diese letzte Gnade zukommen lassen können.

Sie war im Recht. Es gab kein Zurück. Es gab keine Umkehr. Schweigen hieße, zuzustimmen.

„Ich habe nichts Falsches getan.“

Sie kam zu mir. Sie wollte meine Hilfe. Sie gab ihr Blut für die Götter. Es war nicht falsch. Vier Sätze. Für alles andere hatte sie keine Verwendung mehr. Alles andere schob sie beiseite, so wie sie Farn im Wald beiseiteschob, der sie an ihrem Weg hinderte, wenn sie ein Kraut an einem schattigen Platz entdeckt hatte. Die Roben der beiden, so vertraut und fremd zugleich. Wann hatten sie zuletzt ein Gewand getragen, die nicht das tiefe, blutige Rot aufwiesen? Den übereifrigen Novizen, der ihnen förmlich die Stiefel leckte. Die Schere, unbarmherzig in ihrem Werk. Ihr Haar auf dem kalten Boden, wie Schlangen, kleine, rote Nattern. Sie wünschte, sie würden den braven Novizen in die Knöchel beißen.

Sie kam zu mir. Sie wollte meine Hilfe. Sie gab ihr Blut für die Götter. Es war nicht falsch.

„Beginne deinen Weg, Gwendolyn Veltenbruch.“

Was ist aus euch geworden? Wer hat euch diese Bösartigkeiten eingepflanzt? Glaubt ihr wirklich, euch die Menschheit durch Foltermethoden gewogen machen zu können? Wann seid ihr von Verwandten zu Kerkermeistern geworden? Zu viele Fragen. Zu viel Farn.

Glühende Kohlen, bald erlösende Leere. Sie fiel dankbar hinein.

OOC
Special thanks to Kyrons Geschichten, an denen ich die Gedichte ebenso toll find wie die Erzählungen selbst. Hab mich da mal inspirieren lassen..Pirsch
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#5
„Zwei Schlüssel öffnen dir jedes Herz, zwei niedliche, kleine, blanke.
Gib Acht, dass du sie nicht verlierst. Sie heißen Bitte und Danke.“


Mit der bürgerlichen Erziehung ist es so eine Sache. Sind ihre Samen einmal gesät, wuchert sie hinterhältig in einem Kind wie borstiges Unkraut im gepflegten Blumenbeet. Die Eltern wissen allzugut, oft aus eigener Erfahrung, dass im Leben nur aufsteigen kann, wer eine gute Kinderstube genossen hat und auf dem glatten Parkett der Gesellschaft nicht ausrutscht. In jungen Jahren wird dem kindlichen Ohr beständig eingeträufelt, was sich gehört und wie gutes Benehmen aussieht. Im klar umgrenzten Kleinstaat von Stube, Schlafzimmer, Garten will man dem Kind beibringen, brav zu sein, weil es dadurch elterliches Wohlwollen erntet. Der Nachwuchs wird unablässig gedrillt, Bitte und Danke zu sagen, weil er andernfalls Missfallen erregt. Man gibt den Kleinen einen Klaps, wenn sie Erwachsenen die Zunge zeigen. All dies dient als Vorbereitung für später. Die wohlmeinenden Eltern ebnen ihren Sprösslingen so den Weg in die Welt. Im behaglichen Nest wird geübt, was draußen auf weiter Flur beherrscht werden muss. Wer durch die Straßen zieht und Schläge verteilt, erntet selten Liebe. Wer sich durch Unhöflichkeit auszeichnet, macht sich keine Freunde. Wer frech zu Höherstehenden ist, mag sich im Pranger wiederfinden.

Sich später dieses Verhalten wieder auszurupfen, ist eine rechte Plage. Es hat das Beet längst erobert. Und immer ist da eine Stimme, die einem einflüstert: „Es mag dir nicht gefallen, aber es gehört sich so.“ Nicht jeder erkennt das Unkraut als das, was es ist. Es braucht jemanden, der sagt: „Das wuchernde Kraut hier brauchst du nicht. Es verstellt dir nur den Blick auf das Wesentliche.“ Gärtnern will gelernt sein.

***

Ja, sie schätzte den Abstand. Durch die Ferne lief sie nicht Gefahr, sich zu einem weiteren Ausbruch hinreißen zu lassen. Mondelang hatte sie ihn nicht gesprochen und damit gelebt, dass er niemals klar sehen würde. Es war nicht an ihr, ihm die Einsicht einzuprügeln. Das sagte sie sich immer. Es war an ihr, ihn um jeden Preis zu vermeiden. Doch nun waren die Karten neu gemischt worden.

Das nagende Gefühl, sie sollte dem Vetter selbst sagen, was zu tun sie im Begriff war, hatte sich seit Wochen in ihr breitgemacht. Warum? Weil sie seine Reaktion lieber selbst abfing. Aber wie? „Ich werde Koren zum Mann nehmen.“ Zu stumpf. „Dein erklärter Feind wird mich ehelichen.“ Zu formell. „Ich lege den Namen unserer Familie ab.“ Zu hämisch. Jemandem wie Viktor konnte man nicht die absolute Wahrheit sagen, geschweige denn schreiben. Er würde sie nicht verstehen. So viel Erziehung, so viel Gelehrtheit, Schriftwissen, und doch fehlte ihm der Zugang zu einem der machtvollsten Gefühle, das die Menschen umtrieb. Die Wahrheit behielt sie für sich: „Ihn zum Mann zu nehmen ist unausweichlich. Heirat ist ein schwaches Wort, ein viel zu blasses. Es ist viel ursprünglicher. Es ist uns vorbestimmt. Es ist das Unbändige an ihm, nach dem es mich verlangt. Das, was sich nicht zähmen lässt, nicht zivilisieren lässt, nicht niederkämpfen lässt. Es ist seine Bereitschaft, alles auf eine Karte zu setzen. Es ist das Feuer in ihm, das ihn alleine in Feindesland marschieren lässt. Er offenbarte sich mir, als er gar nicht hoffen konnte, dass seine Worte Gehör finden würden. Wenn er bei mir liegt, vergesse ich, wo er aufhört und ich anfange. Ich will seine Frau werden, weil es seine Bestimmung ist, mein Mann zu werden. Es ist der Wille der Götter. Es ist unser beider Schicksal.“ Es würde immer bei Worthülsen bleiben müssen.

So hatte sie abgewartet, war starr und untätig wie das Häschen im sicheren Bau geblieben. Unklug. Und dann war der Bote gekommen. Er hatte sie oben am Schrein gefunden, wo er sich offenbar erst nach einem halben Stundenlauf hin getraut hatte. Zweiundvierzig Augen sehen mehr als zwei, aber Ravinsthaler Augen sind schärfer als alle vierundvierzig zusammen, wenn jemand aus der Hauptstadt mit einem Brief anmarschiert kommt. Das verdutzte Gesicht des Boten sprach Bände. Es kam nicht jeden Tag vor, dass die Adressatin eines Briefes aus dem Tempel sich als ein spindeldürres Geschöpf mit Bärenfell um die Schultern entpuppte, das zwei halbverhungerte Hasen vor sich sitzen hatte, die es nur durch die Kraft seiner machtvollen Worte dazu brachte, aufzuquieken. Aber jeder fängt einmal klein an und Übung macht immerhin den Meister. Sie nahm dem Burschen den Brief aus der Hand und schickte ihn in die Küche.

Freundlich waren Viktors Worte nicht zu nennen. Die Spitzen waren allzu offensichtlich, die Stacheln an der verkümmerten Gratulationsrose klar zu sehen. Er kam ungelegen, dieser Brief. Zu sehr hatte sie sich eingerichtet in der sicheren Distanz zwischen sich und dem Tempel, der sie eher als ein Mausoleum erinnerte als an eine Stätte des Glaubens. Dort war der letzte, kümmerliche Rest ihrer Familie verblieben. In den Kellern lag der letzte, kümmerliche Rest Hoffnung begraben, der vor ein paar Monden noch vital und greifbar gewesen sein mochte. Manche Leichen lässt man besser, wo sie sind. Gwendolyn hatte sich im Schweigen eingerichtet. Ignorierte sie diesen Brief, konnte ihr das allerdings leicht als weiterer Affront ausgelegt werden. Er hatte ein Talent darin, ihr einen Strick aus derlei zu drehen.

War es nur das? Nicht, wenn sie ehrlich war. Das schlechte Gewissen, Viktor die Höflichkeit schuldig zu sein, fraß sich in ihren Gedanken fest. Wenn man einen Brief bekam, der einem freundliche Wünsche übermittelte, so bedankte man sich, gleich von wem er kam. „Schuldest du denn einem Mann Höflichkeit, der dich ruchlos über Kohlen geschickt hat?! Du kannst es einfach nicht lassen, törichtes Gör.“ Die Stimme der Vernunft hatte frappante Ähnlichkeit mit Shaes gutturalem Inselgalatisch. „Ich bin besser als er.“ Darauf lief es immer hinaus. Der Impuls, nach Löwenstein zu wandern und für klare Verhältnisse zu sorgen, pochte ihr in den Schläfen wie eine Melodie, die sich in den Gedanken festgenagt. Blieb sie in Ravinsthal, wirkte es, als hätte sie sich versteckt.

„Wollt ihr Kinder?“
„Wer wünscht sich keine Nachkommen?“
„Drei.“

Vishayas Prophezeiung, die schwer wie ein Stein ins Wasser gefallen war, rauschte ihr noch in den Ohren. Für ihre Lehrmeisterin war die Verbindung zwischen der Druidenschülerin und dem Wächter keine bloße Romanze. Die Vatin offenbarte ihnen in klaren Worten, was sie erwartete. Die Gabe war ihnen beiden durch die Gnade des Pantheons geschenkt worden. Kinder, die aus diesem Bund erwachsen würden, wären mit recht großer Wahrscheinlichkeit ebenso damit gesegnet. Vishayas Blick war sengend und durchdringend gewesen, als sie eröffnete, dass sie nichts zwischen das Paar geraten lassen würde, weder Uneinigkeit untereinander noch Gefahr von außen. „Ich werde jeden zerstören, der diese Zukunft gefährdet.“ Gwendolyn glaubte ihr jedes Wort. Nie war Vishaya mehr als die berechnende Schamanin eines wilden, ungezügelten Volkes erschienen, das sich nicht um Konventionen oder Lehensgesetze scherte. So sehr die Jurin zuweilen als Ratsjüngste im Zirkel salbungsvolle Mittlerin sein musste, weil ihre Position ihr das aufzwang, so unverkennbar lauerte hinter der Maske an Diplomatie die gnadenlose, göttergesegnete Seherin, die rücksichtslos hinwegfegte, was ihr und ihren Plänen im Wege stand. Ihre Worte waren ein Versprechen und eine Drohgebärde gleichzeitig, daran gab es nichts zu deuteln.

Vielleicht war es Zeit, die Angriffsfläche zu verringern. Ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, bevor der Kessel ein weiteres Mal überkochte. Er hatte bewiesen, welches Unheil er unter dem Deckmantel der Läuterung imstande war, über sie zu bringen. Oh, er würde jederzeit versichern, es wäre nur zu ihrem Besten gewesen. Es war gesünder, ihn in der Distanz zu wissen, aber das reichte nicht. Sie wollte ihn beschwichtigt in der Distanz wissen. Eingelullt und weit entfernt. Die Zukunft war zu kostbar geworden und sie durch Untätigkeit zu gefährden keine Option.

Sie würde gehen.
[Bild: Gwendolyn-Signatur.png]
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