Das Lied der Klinge
#1
Eine Straße, egal in welcher Stadt, oder in welchem Landstrich, ob oben im Norden oder tief im Süden, wo die Heiden ihre häretischen Manngötter anbeten, hat Charakter. Anfangs, wenn sie geboren wird, ist es das Gefühl von harten, kantigen, kindskopfgroßen Steinen unter den Stiefeln. Man stolpert oft, wenn man müde ist, oder betrunken, und wenn man stürzt, ist eine Verletzung unvermeidlich. Ob es nur die Handballen sind, die aufgeschürft werden, oder ob man sich gar einen Bluterguss oder einen Bruch holt, hängt lediglich vom Glück und von der Agilität des Stürzenden ab.
Umso älter eine Straße aber wird, umso schrulliger wird sie. Einige Steine sinken ab, manche tief genug, dass sich Mist und Staub darin sammeln und ihn ausschwärzen wie eine Zahnlücke im Gesicht eines alten Seemanns. Einige Steine verbleiben wo sie waren, Inseln im Strom des täglichen Fußmarschs, die instinktiv von Mensch und Tier gemieden werden, und selbst nach Jahrzehnten noch in heller Sauberkeit erscheinen.
Sandstein reibt sich so schnell ab, dass die eisenbereiften Räder der Karren tiefe, fast mit dem Lineal gezogene Spuren in ihnen hinterlassen, die sich nach jedem Regenguss in kleine Bäche verwandeln. Tränken für die Ratten, Hunde und Katzen, die den Sandstein mit ihrem Kot und Mist düngen, und der von Sonne, Moos und Flechten nur all zu bald in einen grünschimmernden Belag verwandelt werden, dort wo die Karren und Füße ihn nicht abtragen können.
Granitstraßen glitzern in der Sommerhitze, als habe man feinste Metallflinsel oder Glasscherben darauf verteilt. Edel, zuverlässig und von gleichmässiger Struktur, gleichwohl aber stabil und witterungsfest, so ist die Granitstraße jene, die erst nachgibt, wenn der Untergrund es tut. Im Winter aber, vor allem da, wo es bitterlich kalt wird, da zerspringen die großen Steine gerne, und hinterlassen eine feine Kiesschicht in den Ritzen und Zwischenräumen.
Basaltpflaster ist schwarz, und im Winter wie von Zauberhand vom Schnee befreit. Im Sommer aber erhitzt er sich, dass einem die Kettenrüstung vom Körper schmelzen mag, und hält nackte Füße, Straßenköter, Katzen und selbst Ratten fern, sodass die Vögel sich ohne der Konkurrenz zu erliegen an den verschütteten Resten vorbeiziehender Händlerwagen gütlich tun können.
Gneis schließlich ist rutschig bei Regen, glatt, ob Sommer oder Winter darauf niederprasseln mag, glitzernd und voller scharfer Kanten, die weiche Sohlen, tiefhängende Gewänder oder Pfoten schmerzlich schlitzen können.
Straßen haben, egal wo man ist, einen Charakter. Genügend Eigenheiten, um sie selbst mit geschlossenen Augen und in stockfinsterer Nacht noch wieder erkennen zu können.
Man muss ihnen nur zuhören.


~~*~~

Der alte Hafen bei Nacht war kein guter Ort, vor allem nicht mit geschlossenen Augen.
Es war nicht der nimmertrocknende Schlamm, der an Kyrons Stiefeln sog, und auch nicht der Gestank nach Morast, menschlichen Ausscheidungen, faulendem Fisch und schimmelnden Netzen, der ihn davon überzeugt hatte, nein. Eher schon war es das ab und an hörbare Geräusch von Füßen, die ihm folgten, und das Wispern hinter der letzten Ecke, um die er gekommen war, von dem die Urheber wohl glaubten, es sei leise genug, um über das Klimpern seiner Rüstung nicht hörbar zu sein.
Vor gut zehn Minuten hatte er noch überlegt, ob es vielleicht vernünftiger gewesen wäre, die Uniform der Stadtwache aus den Tiefen seines Seesacks zu kramen, wo er sie damals vor Jahren verstaut hatte, aber das würde hier niemanden von einem Überfall abhalten. Es hätte wohl eher dazu geführt, dass er zu diesem Zeitpunkt mehr als diese zwei Zecken an sich gehabt hätte. In Zeiten wie diesen hing an der purpurnen Uniform kaum mehr als nur der Ruf, die Nase in die Geschäfte Anderer zu stecken.
Langsam öffnete er die Augen, und warf einen Blick gen' Himmel. Im Sommer waren Löwensteins Nächte beinahe auszuhalten, - wenn man keinen Geruchssinn hatte, - denn im Sommer konnten die unzähligen Schornsteine den Himmel nicht verdunkeln und die Sterne verdecken. Im Winter aber, selbst im Spätwinter, schien er stets bewölkt und verdunkelt, deprimierend auf seine eigene, unpersönliche und ungnädige Art. Nun im Tauwetter war es etwas besser, aber immer noch nicht mit einer Sommernacht zu vergleichen. Wäre der Mond voll gewesen, hätte er sich seinen Verfolgern gestellt, aber obwohl die Sterne hell schienen war der Himmel gräulich und Mond nicht mehr als eine schmale Sichel, und die Welt um ihn herum kaum mehr als Schemen in schwarz.
Aus dem einfachen Vorhaben sich in aller Ruhe zu betrinken war ein Katz' und Maus Spiel geworden, das Kyron sich gerne erspart hätte. Früher war er die Katze gewesen, zumindest für Geld, das er nur zu gerne in Schnaps investiert hatte. Nun aber war er die Maus, ins graue Fellkostüm gesteckt von genau den Gesetzen und der Moral, die er sich vor Monaten noch zurück in sein Leben gewünscht hatte. Welch ein ausgezeichneter Plan das gewesen war!
Natürlich hätte er sich in morbider Todesverachtung den Angreifern stellen können, und nach alter Tradition eine Prügelei anfangen können, um wenigstens einen der Angreifer für den Verlust von Hab und Gut seinerseits auch bluten zu lassen, aber die Nachteile dieses Vorgehens waren ihm schmerzlich bewusst – wer niemanden auf seiner Seite hatte, der hielt die Füße still, oder wurde eines Tages zu einer weiteren Leiche in der Gosse.
Mit einem leisen Brummeln zog Kyron die Stiefel aus dem uringetränkten Matsch, und marschierte weiter. Solange er nicht losrannte, oder übermäßig auffällig über seine Schulter blickte, konnte er vielleicht auch die Beutelschneider abschütteln, die ihm wie hungrige, aber unentschlossene Wölfe hinterher schlichen.
Wenn er nur-

Die einzige Vorwarnung war ein gezischtes "Los!" hinter ihm, dann rammte ihn ein Körper und riss ihn von den Beinen und in den Dreck. Dass die zwei Beutelschneider sich so dicht an ihn heran geschoben hatten, ließ Kyron sich selbst im Stillen heftig verfluchen, aber nun konnte man daran nichts mehr ändern.
Es schien auch nicht ihr erster Ritt zu sein, denn während der Eine auf Kyrons rüstungsbeschwertem Rücken sitzen blieb, machte der Zweite sich unter heftigem, gedämpftem Streit daran, seine Taschen auszuräumen. "Mach, mach, schneller!" - "Halts Maul oder machs selbst, ich tu so schnell ich kann!" - "Los, hol dir die Stiefel!"
Als der eifrig Kramende allerdings an seine Stiefel ging, gab es einen Tritt. Bei nacktem Fußwerk zog selbst ein überwältigter Mann die Grenze, vor allem bei all dem Dreck und den Scherben in diesem Viertel.
Zu seinem Glück schien es die zwei Ratten auch nicht allzu sehr nach Schuhwerk zu gieren, denn kaum dass seine Gegenwehr einsetzte, machten sie sich flink wie ihre Namensvettern in die Dunkelheit auf.

Mit einem angestrengten Keuchen rappelte Kyron sich aus dem Dreck hoch, fluchte leise vor sich hin und tastete über seine Taschen. Das Geld war weg, ebenso sein Trinkschlauch, sein Speisemesser und ein Päckchen Trockenfleisch. Ein frustrierender, aber geringer Preis dafür, dass ähnliche Auseinandersetzungen früher in Fleischwunden geendet hatten.
Vielleicht war an dem ruhigeren Lebensweg ja doch etwas dran. Lebe ruhig, lebe länger. Laufe schmutzig durch die Stadt. Vielleicht auch nicht.

An der Tränke des Stalls in der Altstadt wusch er den gröbsten Dreck von sich ab, und konnte sich im letzten Moment noch davon abhalten, nach alter Gewohnheit in die Taverne gleich gegenüber einzukehren. Nicht nur war ihm sein Brotgeld für den Tag geraubt worden, auch sein sauberes Wasser war hinfort, aber ein Gang in die Taverne würde das wohl kaum ungeschehen machen. 'Denk daran, ein besserer Mensch werden.' Stattdessen trottete er - nun durchgehend unterm Atem fluchend - weiter gen' Hafen. Eine weitere Nacht in der Kälte einer unbeheizten Scheune war nicht sein Traum gewesen, als er am Morgen aufgestanden war.
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#2
Geschichte wird von Siegern geschrieben. Es ist weniger der Drang nach Verfälschung dessen, was geschah, als eher die schlichte Wahrheit, dass ein Mensch nur schreiben kann, was er selbst weiß. Stärker noch wird dieses Ungleichgewicht dort, wo der Adel gegen den Pöbel kämpft, und die Mittel der Gelehrten, also Tinte, Feder und die Fähigkeit sie zu benutzen, nur einer Seite zur Verfügung steht.
Kaum ein Bauernaufstand findet jemals seine Erwähnung in den Annalen eines Lehens, denn um eine so alltägliche Angelegenheit einer Niederschrift wert zu befinden, muss schon ein großes Unglück geschehen. Zumeist will ein Lehensherr vermeiden, dass solcherlei banale Dinge wie der Aufstand zorniger Freier zu einem allgemeinen Gesprächsthema werden, und solange es sich vermeiden lässt, wird kein Federstrich je davon zeugen.
Die Geschichte wieder ist das Werkzeug der Gelehrten, eine Wiederholung von unerfreulichen Ereignissen durch die Art ihrer Schilderung zu verhindern.
Geschichte, so ist es der Fakt, wird eben von Siegern geschrieben.


~~*~~

Kyron erwachte mit dem übelsten Geschmack der Welt im Mund. Die Mischung aus Abortgeruch, dem Schweißodeur von alten Socken und der pelzigen Schicht auf Wangeninnenseiten und Zunge ließ ihn mit verzerrter Miene schmatzen, und zügig zur Seite hin ausspucken.
Die Erkenntnis, dass er auf einem weichen, warmen Fell lag, und das in einem Raum der zwar übel roch, aber trotzdem ein gewisses Maß an Sauberkeit aufwies, ließ ihn für einen kurzen Moment die Stirn runzeln, und mit ähnlich zäher Mühe durch sein schmerzpochendes Gehirn wühlen. Wie war er hierher gekommen, wo war er, und warum schmerzte sein Gesicht?
Ein altbekanntes, gefürchtetes Gesicht huschte durch seine verkaterten Gedanken, und sorgte dafür dass er sich zu rasch aufsetzte. Kordian, schoß es ihm durch den schmerzenden Kopf. Ein hastiger Blick in den Raum ließ allerdings keine Hinweise auf den Geist zu, an den er sich zu erinnern meinte, obwohl sein Herz weiter den Schreckensrythmus gegen seine Rippen klopfte.
Kyron hatte seinen Hauptmann das letzte Mal vor mehr als zwei Jahren gesehen, und es war keine schöne Erinnerung. Die letzte Kerkerhaft war eine zuviel gewesen, und die letzten getauschten Worte waren jene zum Thema des ‚Lernens auf dem harten Weg‘ gewesen, bevor die Gittertore zwischen ihnen zugefallen und Kyron seinem eigenen Elend überlassen worden war. Ab davon, dass er sich sehr sicher darüber war, Kordian tatsächlich gesehen zu haben, stellte sich nun allerdings die Frage, wie jemand, der eigentlich auf der anderen Seite der Weltscheibe sein sollte, eines Abends plötzlich in Löwenstein stehen konnte.
Mit einem mühevollen Ächzen zog er sich an der Wand des Kaminraums hoch. Die Frage danach, wo genau er nach seinem viertägigen Dauerrausch gelandet sein könnte, war bereits mit einem Blick in den Raum beantwortet; es war das Armenhaus im Armenviertel, ein Ort den er bereits zuvor ab und zu aufgesucht hatte, wenn er sich sicher sein konnte nicht zu betrunken zu sein und damit nicht die Hausregeln zu brechen. Wie Kordian ihn in das Gebäude bekommen hatte, wo er sich kaum noch an den gestrigen Abend erinnern konnte, war ihm ein Rätsel, aber eines, das er nicht auflösen wollte. Einem geschenkten Gaul schaute man eben nicht ins Maul.
Außerdem war der Drang, in eine Flasche zu schauen bis er den Boden entdeckte, einmal mehr stärker als jeder andere Gedanke, ein Zustand, den Kyron nur zu wohl kannte. Alle guten Vorsätze waren bereits wenige Wochen in Freiheit wieder den Bach runter gegangen, und da all jene Menschen fort waren, die ihn früher mit ihren strafenden Blicken, den harten Worten und den manchmal unumgänglichen Kopfnüssen oder Prügeln davon abgehalten hatten, sich dauerhaft im Alkohol zu begraben, hatte die Lust am Trinken für Monate kein Ende gefunden. Mal mehr, mal weniger betrunken war er zu einer der vielen Gestalten in der Stadt geworden, welche die Abflüsse, verdreckten Ecken und verlassenen Hauseingänge bevölkerten wie die Ratten.
Und wozu auch nüchtern bleiben? Seine alten Kameraden waren höchstwahrscheinlich tot, oder aber in Gefangenschaft irgendwo auf der anderen Seite des Ozeans, denn einen anderen Grund konnte es nicht dafür geben, dass Kordian alleine war, und von nichts als Ketten auf hoher See noch wusste. Keiner ihres Freischärler-Regiments hätte den Hauptmann jemals sich selbst überlassen, ohne alle Hebel in Bewegung zu setzen um ihn zu retten. Dass seine Ehefrau und sein drei... nein vierjähriger Sohn ebenfalls zu diesen Kameraden zählten, verdrängte er so gut es ging.
Dass auch das Reich nicht mehr viel Spielraum für die alten Freischärler des Nordens ließ, hatte ihm bereits bei seiner Entlassung aus dem Kerker den Rest gegeben. Nun wo die Aufstände in Nortgard und Hohenmarschen endgültig und insofern Geschichte waren, dass keiner mehr darüber sprach, waren all jene Freischärler, die früher auf Seiten der Fürsten oder aber auf Seiten der Einwohner gekämpft hatten, kaum mehr als gesichtslose, ungeliebte Rebellen, die als mahnendes Beispiel für reichsverräterisches Verhalten heran gezogen und ebenso zügig zwangsweise aufgelöst wurden. Dies war der Dank für das vergossene Blut, die durchwachten Nächte, und die Wochen im Dreck gewesen, den er im Namen seines Regiments erhalten hatte, abgestempelt und verpönt als Rebell gegen die Ordnung, die der verhasste Sonnengott proklamierte.
Es war nur schwer vorstellbar, welche Art von Ingrimm und Hass Kordian auf jene rückgratlosen Würmer empfand, für die er früher sein Blut vergossen hatte. Kyron selbst hatte seine einsame Enttäuschung bisher erfolgreich im Alkohol ertränkt, aber nun wo da jemand war, der sie mit ihm teilen konnte, gar seine eigene Wut anzufachen vermochte, da war es nur schwer möglich, den Knoten aus kaltem Hass in seiner Brust zu unterdrücken. Gwynn mochte wissen, wie lange er sich wie einer jener deprimierten, gefallenen Männer verhalten hätte, wäre Kordian nicht aufgetaucht.
Die Kleidung klebte ihm unangenehm am Leibe, als er die Treppe hinunter wankte, und mit einem letzten, schleimigen Husten hinaus in die kühle Morgenluft trat. Normalerweise hätte sein erster Weg nun vor die nächstbeste Kneipe geführt, um Gäste um Getränke oder ein paar Heller anzubetteln, und vielleicht die eine oder andere Prügelei mit frecheren Gesellen zu provozieren, aber an diesem Morgen erschien ihm ein solches Verhalten plötzlich als würdelos.
Nicht dass es zuvor nicht würdelos gewesen war, nein. Es hatte ihn nur schlicht nicht interessiert, wie er sich verhielt.
Nun allerdings schien es, als spüre er immer noch Kordians stechenden Blick zwischen seinen Schulterblättern, und der schiere Gedanke mit einem Krug Schnaps in der Hand erwischt zu werden ließ ihn sich unwohl schütteln. Noch gab es die Möglichkeit, den gestrigen Abend als eine Art unglücklichen Zufall darzustellen, und seine monatelange Saufrunde stillschweigend zu beenden. Um diese wundersame Fügung allerdings zu bewerkstelligen, würde erst einmal ein Bad und die Pflege der schändlich vernachlässigten Ausrüstung notwendig sein.
Mit geübten Fingern zupfte Kyron den kleinen Stoffbeutel mit den letzten, nussblattgestreckten Tabakbröseln aus der Gürteltasche, wickelte sie in ein Stück dreckverkrustetes Papier und entzündete sie an der Fackel nahe dem Armenhaustor.
Ein neuer Tag, eine neue Welt. Zeit, eine neue Geschichtsschreibung zu beginnen.
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#3
Es mochte auf den ersten Blick so erscheinen, als sei die Kampfschule am Marktplatz der beste Ort, um die so lange ignorierte Kompetenz der Einwohner ohne allzu viel des Aufdrängens ins Auge zu fassen, aber Kyron fand recht schnell heraus, dass der Ort verlassener als eine sechzigjährige Konkubine war. Anderthalb Tage des Herumstehens und Beobachtens waren genug, um das recht zweifelsfrei festzustellen, und so war es nötig, einen neuen Spähposten ausfindig zu machen.
Nun stand er in der feuchten Frühlingskälte, eingehüllt vom Geruch nach Pferdedung, verschwitztem Fell und Lederseife, umgab sich mit der üblichen Wolke aus Tabak- und Nussblattrauch, und beglückwünschte sich im Stillen zum Kauf der Handschuhe, die endlich gegen die immer noch aufdringliche Kühle schützten.
Der Stalleingang neben dem Taxidermisten, oder Trophäenhändler, wie man den Kerl benennen wollte, erwies sich als weitaus fruchtbarerer Ort für Beobachtungen, auch wenn nur wenige Menschen sich aus der stetigen Menge an vorbeiziehendem Volk heraus taten. Solange er in der Schnapsflasche gelebt hatte, waren ihm andere Menschen auf eine solche Art zuwider gewesen, dass er sich keine große Mühe dazu gegeben hatte, sie genauer zu mustern. Nun aber, wo es nicht mehr darum ging, sich in ein frühes Grab zu saufen, sondern eher darum, sich und alle die er je gekannt hatte aus dem frühen Grab heraus zu schaufeln, erschien die Welt plötzlich als Ort voller Möglichkeiten.
Nicht, dass Kyron jemals geschickt mit Menschen gewesen wäre, aber darum ging es glücklicherweise nicht. Jene Interaktionen, die für seinen Späherposten von Bedeutung waren - schauen, merken, einschätzen - erforderten zumindest keine nette Persönlichkeit.
Vermutlich war sein schmeichelhaftes Auftreten auch mit der Auslöser dafür, dass sich in sonst recht phlegmatischen Menschen die ersten Funken von tatsächlichem Leben offenbarten. Es war schwer, einen abgewrackten, gerüsteten, rauchenden Maulhelden zu ignorieren, wenn man gerade von einer erfolgreichen Jagd zurück gekehrt war, besonders dort, wo es nach Ross, Dung und dem Schweiß harter Arbeit roch.
Am Vortag noch hatte seine plumpe Art, Dinge beim Namen zu nennen, zu einer äußerst befriedigenden - wenn auch unemotionalen - Prügelei am Turnierplatz geführt, die ihn zwar entspannt und gut gelaunt zurück gelassen hatte, aber gleichzeitig nichts gegen den Hunger Gwynns in seinen Adern auszurichten vermochte.
An diesem Tage jedoch erschien es, als habe er die furchtsamsten Menschen Löwensteins gefunden, und zeitweilig war es ihm, als sei selbst die Arbeit sich von der Wand fort zu drücken zuviel des Einsatzes.

Die Menschen Löwensteins waren ängstlich, faul, selbstversichert und herrisch geworden. Oder immer schon gewesen? Zweitere Vermutung hing wie ein finsteres Henkersschwert über Kyrons Kopf, als er den namenlosen Mann mit seinem Ross fortreiten sah. Keine fünf Augenblicke zuvor hatte er noch mit Gesetzen, Wache und Verboten gedroht, statt der Aufforderung des Kriegers zu folgen und einfach sein Pferd auf die Seite zu stellen, und nun - mit der schieren Bewusstheit dass ein Wächter des Gesetzes neben ihnen stand - schien der Mann alle Einsprüche und Beschwerden vergessen zu haben.
Kyron grinste matt, und vollendete das nächste Tabakröllchen mit einem schmalen Band aus Speichel an der Papierkante. Früher oder später würde er mit dem Spiel nahe dem Trophäenhändler aufhören müssen, aber vorerst schien es fast so, als vermisse so mancher Krieger beim Betreten der Stadttore plötzlich sein Rückgrat. Es wäre vermessen gewesen, sein Tun als wohltätig zu bezeichnen, denn wenn er ehrlich war schien einfach alles unterhaltsamer als ein reibungsloses Leben zu führen, aber dennoch... eines Tages würde einer der Menschen beschließen, sich nicht mehr ducken zu wollen, und Kyron würde dort sein, und Abzeichen verteilen.
So wie es früher gewesen war, so sollte es erneut werden. Es war nur eine Frage der Zeit.
[Bild: spxyfrht.png]

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#4
„Schweigen soll der Sterbliche,
dessen Schwertarm nicht die Kraft hat
um die Wahrheit Gwynn`s unter die Ungläubigen zu bringen.

Schweigen soll er fortan,
sich dem Unvermeidlichen ergeben
und Gwynn`s Klingen auf Erden fürchten.

Kämpfen soll der Sterbliche,
dessen Schwertarm die Kraft in sich führt
um das Schlachtenglück zu lenken.

Kämpfen soll er fortan
um zu preisen die Glorie die ihm zuteil geworden ist damit,
Gwynn`s Augenmerk auf sich zu richten."

~~*~~

Warum waren die nächsten Morgen eigentlich jedes Mal soviel schlimmer als die erwähnenswerten Abende? Mit einem raspelnden Ächzen rollte Kyron sich auf den Rücken, verzog das Gesicht schmerzerfüllt, und schälte mühsam ein Auge auf, um seinen Arm zu betrachten.
Der Verband daran hatte sich mit etwas Schlaf nicht in Wohlgefallen aufgelöst. Genauso wenig waren die Prellungen an seinem restlichen Körper verschwunden, wie er mit einem Grunzen feststellte, als er versuchte sich aufzusetzen. Die erste Prügelei war noch zu verkraften gewesen, immerhin hatte er es darauf angelegt, aber spätestens die zweite Runde war nicht mehr nur mit Jux und Tollerei zu erklären. Warum mussten die Rotröcke Mithras' auch so schrecklich verbissen sein?

Mit der Hilfe einer Hand, zweier Füße und eines äußerst stabilen Tischs zog Kyron sich von den Fellen hoch, und mit etwas Schmerzen und Fluchen landete er schließlich auf den Beinen. Er war schon lange nicht mehr so schnell und für so wenige Worte mit dem Kerker bedroht worden, aber andererseits hatte er auch schon lange nicht mehr mit der Sonnenlegion zutun gehabt. Dieser Novize hatte ganz schönen Rumms am Ärmel bewiesen!
Vorsichtig und prüfend bewegte er die Finger an der verletzten Seite. Am Vorabend war der ganze Arm entweder taub und lahm oder von überaus farbigen Schmerzen erfüllt gewesen, aber dieses Mal ließen sich die Finger und das Handgelenk wieder bewegen. Es tat weh wie eine Steißgeburt, aber nichts war gebrochen. Verdammter Morgenstern.
Ein Glück war er nicht alleine im Armenviertel gewesen, denn in dem Fall wäre er vermutlich nun fünf Fuß unter der Sonnenfestung in einer schmalen Zelle, mit wenig Aussicht auf baldige Freisetzung, und guten Aussichten auf nähere Bekanntschaft mit gängigen Erziehungsmaßnahmen.
Weniger erfreulich war für ihn der Gedanke daran, diesem grünäugigen Wesen mit den vielen Dolchen nun seine Freiheit zu schulden.

Mit gepresstem Atem und weiteren halblauten Fluchlauten humpelte Kyron die Treppe des Armenhauses hinab, durch die Türe und hinaus in die frühlingshaft nasse Morgenluft. Es war, als habe sein Körper sich in der verkrüppelten Position verspannt, in der er eingeschlafen war, und jeder Versuch sich in irgendeiner Form zu strecken wurde mit einer neuen Welle des Schmerzprotests beantwortet.
Entsprechend mies gelaunt betrachtete er die schlammige Zeltlandschaft. Für einen Moment drängte sich ihm die stille Frage auf, ob die zwei Spießgesellen soviel Schmerzen denn überhaupt wert waren. Dann aber musste er grinsen, und humpelte mit einem heiseren, lungenputzenden Husten gen' Badehaus.
Was für eine Frage... Natürlich waren sie es wert. Jedes verdammte Staubkorn, das ihn dazu brachte die Waffe zu heben, war es wert. Besonders dann, wenn sich die Wehwehchen zum Gutteil mit einem heißen Bad beheben ließen. Nunja, bis auf den Arm.
Der Hauptmann wird mich umbringen. Keine Woche im Dienst und schon dienstuntauglich.
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#5
Es gibt Tage, da kann man machen was man möchte und am Ende steht man dennoch im Regen. Die Sonne war schon seit Stunden verschwunden und es würde noch etwas dauern bis die Morgenröte Einzug hielt. Sowas Ähnliches wie Ruhe hatte sich auf die Gassen dieses Molochs genannt Löwenstein gelegt. Die paar Stunden Schlaf, die er nach dem Abend gefunden hatte, konnte man an einer Hand abzählen und es wären noch immer Finger übrig. Langsam ließ er den Rauch aus seinem Mundwinkel entweichen, nur eine weitere Note die sich in das Miasma im Armenviertel einreihte. Ein schattiges Plätzchen in einer verrufenen Gegend. Entweder achtete niemand auf ihn oder es war ihnen schlichtweg egal, dass der mehr oder minder Gerüstete fast reglos neben der heruntergekommenen Arena stand. Was er dort suchte, war er sich selbst nicht so ganz im Klaren. Wachen oder Lauern? Schützen oder Jagen? Erneut glimmte das langsam abbrennende Kraut in seinem Mundwinkel auf, für den Bruchteil eines Herzschlages die Konturen seines Gesichtes in der Dunkelheit erleuchtend.

Es waren einige interessante Tage gewesen und sie gewannen langsam eine gewisse Eigendynamik. Zuerst das Wiedersehen mit Kyron, die neuen Bekanntschaften und eine gewisse Struktur die sich im Aufbau zeigte. Alles Dinge die man, so man gewillt war, auf der Haben-Seite verbuchen konnte. Andererseits gab es auch jene Individuen, die in seiner Auffassung ein gewisses Ärgernis darstellten. Noch eine gute Stufe entfernt davon sie als ein Problem zu bezeichnen und dennoch lästig genug, dass er über sie nachdachte. Ein undefinierbarer Knurrlaut entsprang seiner Kehle als er an die letzten Stunden dachte, mit mühseligen Debatten verbracht, in dem Versuch sich anzupassen.
Zumindest konnte er in seiner eigenen Definition eines Gewissens sagen, dass er es versucht hatte.

Langsam ließ er mit einem leisen Seufzen den Kopf nach hinten gegen die Bretterwand sinken, für einen kurzen Augenblick die Augen vom Feuer lösend und den Wolken behangenen Sternenhimmel musternd. Es gab Dinge, die erledigt werden mussten, es gab Pläne, die endlich auf den Weg zu bringen waren. Immer gab es irgendwas zu tun und es wäre einfach nicht richtig diese Dinge unerledigt zu lassen. Wenn es der Weg war, den der stählernen Feldherr so für ihn bestimmt hatte, wer war er schon daran zu zweifeln und sich dem entgegen zu stellen? Sollte es einen Mittelweg geben zwischen dem Soldaten und dem Mann, dann würde es sich irgendwann zeigen. Sollte es diesen nicht geben, dann war die Entscheidung eh schon vor vielen Jahren gefallen und da gab es kein zurück.

Mit einem leisen Zischen fiel ein Tropfen auf die Glut seines Rauchkrauts, es genauso schnell abtötend wie Finger, die einen Docht ersticken. Der zweite landete auf seiner Wange, der Schwerkraft folgend seinen Weg nach unten suchend. Ein kleines Schmunzeln legte sich auf seine Züge, als Tropfen um Tropfen gen Erde anfingen zu prasseln und der Frühlingsregen sich über das Armenviertel Löwensteins ergoss.

"War ja nicht anders zu erwarten... wenn schon dann richtig... ", raunte er zu sich selbst
Lernen durch Schmerz
Motivation durch Entsetzen
Festigung durch Wiederholung
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#6
Der beste Plan scheitert beim ersten Feindkontakt.

~*~

Mit schiefem Blick betrachtete Kyron die Abschrift der Prangerverkündigung, bevor er sie mit einem dumpfen Schnauben in die matschige Güllepfütze zwischen seinen Füßen segeln ließ. Manchmal war es nicht die eigene Beherrschungsfähigkeit sondern die zügellose Aufdringlichkeit anderer, die es verdammt schwer machen konnte, die Regel der Maßhaltung zu beachten. Hätte Kordian Avinia getötet als sie ihn darum angefleht hatte, oder hätte er ihr schon bei der ersten von vielen Lügen das Genick gebrochen, dann wäre nun vermutlich alles anders.
Es war im Nachhinein sogar schwer, Avinias Auswüchse noch in irgendeine Form von Ordnung zu bringen. Zuerst hatte sie behauptet Kyron hätte mit ihr in der Taverne wilden Beischlaf gepflegt, dann hatte sie behauptet Kordian wolle mit ihr schlafen, hatte ihn angefleht sie zu töten und dann mit einer dieser Sprengflaschen auf ihn geworfen, dann war da noch die Sache damit, dass irgendeiner von der lila Bande doch tatsächlich behauptet hatte, sie würden Aki vergewaltigen wollen, mit der Absicht, Geld von Kordian zu erpressen, und dann... ja, dann hatten sie Kordian in den Pranger gesteckt.
Wie sollte man da noch länger zusehen?
Für die Genugtuung, die er dadurch erhalten hatte dieser verlogenen Elster den verdienten linken Schwinger zu verpassen, waren zwölf Hiebe ein Preis, den er zu zahlen gewillt war. Warum Avinia ihn dennoch tagtäglich vorbei ziehen ließ und ihm Drohungen und Spottsätze nachrief statt ihn zu verhaften - oder Verstärkung zu rufen -, das mochten die Götter verstehen. Vermutlich waren Kirschsaft und Kekse wichtiger als Gesetz. Oder sie hatte einen Funken Vernunft wiedergefunden.
Mit einem schleimigen Räuspern schob Kyron einen Fuß näher zum prasselnden Lagerfeuer, in der Hoffnung die Kälte aus den Zehen zu vertreiben.
Unglücklicherweise stellte Avinia sich nicht als sein einziges Problem heraus. Vielleicht waren es die Jahre an Zwangspause, oder aber er hatte einfach sein Gefühl für Menschen verloren, aber jeder Rekrut den Kordian anschleppte versetzte Kyron auf seine eigene Art in stille Rage. Nicht dass die stetig in ihm kochende Wut nicht sowieso genug Potenzial für Gewalt bereit gehalten hätte. Früher war es so einfach erschienen mit den Rekrutierungen. Männer und Frauen waren gekommen, hatten ihr Interesse gezeigt, hatten sich bemüht und von der besten Seite gezeigt, ihren Teil geleistet, und waren dann aufgenommen worden.
Inzwischen schien es eher so, als würde der Hauch von Interesse ausreichen, um ihnen den Wappenrock über den Kopf zu ziehen und sie in die Reihe zu schubsen. Kordian hatte damit kein Problem, das wusste Kyron. Aber Kordian war auch der gesellschaftstaugliche, verträglichere von Beiden, und Kyron der Mann fürs Grobe, der sich nur wenig Sympathien durch seine Arbeit oder Persönlichkeit erarbeiten konnte.
Noch dazu sollte er die Rekruten eigentlich mit ausbilden, ihnen Gehorsam und Dienstbeflissenheit beibringen - eine Position, die er wohl kaum ausüben konnte, wenn den Rekruten jegliches grenzwertiges Verhalten durchgehen gelassen wurde, nur um die Reihen nicht auszudünnen.
Vielleicht war er aber auch einfach nur zu engstirnig und verwöhnt von den Erinnerungen an die Truppen, wie sie früher gewesen waren. Vielleicht war er das Problem?

Mit einem leisen Knurren warf er den Rest des schimmligen Brotes - das heute morgen beim Kauf definitiv noch nicht grünlich bepelzt gewesen war, verdammter Händler! - in die Glut des Feuers, und rappelte sich auf. Der beste Weg war jener, die Stadt erst einmal zu verlassen, vielleicht die eine oder andere Bestie zu töten, sich in Zweitürmen umzusehen und noch einmal darüber nachzudenken, warum gerade Aki ihn so aufbrachte.
Und natürlich zu überlegen, wie er den Ärger am besten abschütteln konnte. Kyron war nichts, wenn nicht abgebrüht und praktisch denkend.
[Bild: spxyfrht.png]

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#7
Ein Traum

Es dämmerte, als Kyron schweissgebadet zusammenzuckte und die Augen öffnete. Die Wirkung des Sandast begann langsam wieder abzuflauen, die Phase zwischen dem Ende der Wirkung und dem Beginn der Entzugserscheinungen schien erst vor kurzem begonnen zu haben, denn nicht nur der Schmerz der Wunden, sondern auch wilde, von dumpfem Schrecken erfüllte Träume hatten ihm schlussendlich den totengleichen Erschöpfungsschlaf geraubt. Eine kalte Brise umfasste seinen erhitzten Leib, liess ihn schaudern, als er die Finger an die Schläfen presste und versuchte, die Nachklänge der Alpträume zu verdrängen.

Spoiler Gewaltwarnung, FSK 18
Da hing sie in Ketten, Cahira, ihr unschuldiges Gesicht vor Angst und Schmerz verzogen. Sie rief um Hilfe, flehte ihn an ihr zu helfen, doch er konnte sich nicht bewegen, konnte nicht zu ihr gelangen, so sehr er es auch versuchte. Eine Hand mit einem Dolch näherte sich ihr, und als die Spitze sich flach unter ihre Haut schob, sie vom Fleisch löste wie eine Tasche, hallten ihre spitzen Schreie durch das Tal.
Noch während er sich gegen seine unsichtbaren Fesseln warf und ihren Namen brüllte, heulte, verwandelte sich das zarte, unschuldige Gesicht in den leiderfüllten, unendlich traurigen Ausdruck Isabelle's. Anklagende, trauernde Augen starrten ihm entgegen, als die folternde Hand das Emblem des Vielgehörnten unter die gelöste Haut schoben, die Wunde verheilen ließen...

Kyron begann zu zittern, zog sich vorsichtig unter der Decke hervor um Cahira nicht zu wecken, und schob sich zwei Schritt weit weg, bevor er die Arme um den Oberkörper schlang und verhalten ächzte. Einige Momente würde er es noch ertragen können, bevor er wieder zu der Droge greifen musste, doch diese Momente wollte er auskosten. Nur ein wenig...
Schritte tönten auf der Treppe, ein Schatten erschien am Gitter. Er blickte auf, erkannte die Umrisse, presste einen Moment hart die Lippen aufeinander. Isabelle. Wie nicht anders zu erwarten, sein Schicksal holte ihn ein wie die Vergangenheit.
Sie gebot im leise aufzustehen, forderte dass er seine Hände durch das Gitter zwängte sodass sie ihn fesseln konnte, und er kam ihrem Wunsch nach. Sie zog ihn aus der Zelle, schleppte ihn zu dem Pfahl an dem Blut vergangener Verhöre klebte, und auch diesmal kam er wortlos und fügsam ihrem Wunsch nach und hob die Arme, sodass sie die Eisenmanschetten um seine Handgelenke schliessen konnte. Einen Moment lang musste er das Beben der Gier nach dem Sandast unterdrücken, doch dann kehrte die Restwirkung zurück und ließ ihn sich beruhigen.
Isabelle wirkte gefasst, vielleicht ein wenig enttäuscht, auf jeden Fall schien der Wahn der sie vor einigen Wochen noch so gepeinigt hatte wie weggewischt. Er kannte dieses Phänomen von sich selber, und dennoch war er erleichtert zu sehen dass ihr Geist wieder klar war.
„Du weisst dass der Kult Cahira niemals geholt hätte, wenn du nicht so töricht gewesen wärst?“
Schuldzuweisungen. Er hasste es, es lief immer darauf hinaus wer schuld hatte. Er wollte es nicht hören, er hasste den bloßen Gedanken an eine Möglichkeit seiner Schuld. Doch Isabelle war nicht zu bremsen, und doch so kühl, sachlich, erklärend, dass ihre Worte eigentlich nur die Wahrheit sein konnten.
„Ich hatte dir gesagt du sollst dich verstecken. Du hast sie gewarnt, Weigori hat sie gewarnt, ich habe es dir prophezeit. Was hast du anderes erwartet? Im Prinzip ist sie doch selbst schuld an allem und zieht dich nur tiefer. Du könntest ihr all dies ersparen, Kyron.“ Ihre Hände legten sich an das Gitter der Zelle, in welcher Cahira ihren unnatürlich tiefen Schlaf schlief, und gedankenvoll fragte sie: „Soll ich sie für dich töten?“

Götter im Himmel bitte bringt sie zum Schweigen.. bevor ich wahnsinnig werde!

Er schwieg, nicht fähig zu antworten. Was konnte man auf so eine Frage schon sagen? Es war richtig, grausam wahr, dass ihr Tod sie vor so vielem Elend bewahren würde, aber andererseits, war es Kyrons Recht über ihr Leben oder ihren Tod zu entscheiden?
„Dein Zögern deute ich als ja, Kyron.“ Ihr Schmunzeln hätte eine ganze Lawine ins Rutschen bringen können, so ölig und boshaft war es.
Mechanisch schüttelte er den Kopf, flüsterte leise "hör auf", das Letzte was er herausbrachte, bevor die Wirkung des Sandast endgültig verflog und eine Welle des Zorns gestärkt durch die schmerzende Gier seines Körpers ihn überrollte.
„Ich verabscheue dich, und ich verabscheue Cahira! Ihr Weiber bringt nichts als Qual und Pein, ihr seid mir alle zusammen völlig egal! Es ist ihre Schuld dass sie da ist, und sollte sie zum Kult überlaufen werde ich sie ebenso töten wie dich!“
Eine ganze Reihe von boshaftesten Beschimpfungen dröhnten durch den Zellentrakt, entlockten Isabelle ein zufriedenes, belustigtes Schmunzeln, und als er innehielt, von Krämpfen gebeutelt, säuselte sie „So gefällst du mir besser, dieser Zorn ist viel echter als diese ständige Unberührtheit und Kälte.“
Einen Moment schwieg sie, dann forderte sie das Sandast ein und nahm es ihm nach kurzer Durchsuchung ab. Seine Augen folgten dem Beutel lauernd, als sie ihn vor seiner Nase schwenkte, und er ahnte bereits was kommen würde noch bevor sie die Frage laut stellte.
„Was würdest du tun damit ich es dir zurückgebe?“

Sandast... Ogmas Segen...

Er keuchte auf, dann ließ er den Kopf hängen. Wozu noch Gegenwehr, sie hatten doch alles was er wollte, wonach er sich sehnte, was er brauchte... Cahira, das Sandast, Gesellschaft... Und schliesslich würgte er die Antwort heraus, vor Scham kaum fähig sie anzusehen.
„Alles... Alles.“
„Würdest du Cahira dafür töten?“ Erneut klang sie so schrecklich belustigt, interessiert.
„Nein, niemals!“ seine Antwort klang überzeugter als er selbst es war, wie er zu seinem tiefen Schrecken feststellen musste. Natürlich wäre er irgendwann bereit für nur ein Quäntchen Erlösung und Schutz selbst seinen Lebensfunken zu töten. Irgendwann...
Isabelle nickte, als hätte er ihr damit etwas bestätigt, und schliesslich war sie bereit ihm den Schnitt zu setzen, das Pulver hineinzustreuen.
„Du solltest Cahira auch etwas davon geben...“ Er hatte geahnt dass sie sich auch diese Spitze nicht verkneifen können würde, doch die Antwort kannte er schon lange. „Niemals.“
Schritte ertönten weiter unten, durchbrachen ihr Gespräch, welches sich mehr und mehr um Vertraulichkeiten zu ranken begann, metallische Schritte die Kyron wohl wenige Momente zuvor noch hätten vor Panik erzittern lassen. Dorkalon erschien an der Treppe, warf ihnen beiden einen knappen, eisigen Blick zu, dann herrschte er: „Akolythin, bindet ihn los und nehmt ihn mit euch.“

~*~

Mit einem gepressten Keuchen fuhr Kyron aus dem Schlaf. Die Finger schlossen sich schneller um den Dolchgriff unter dem Kopfkissen, als er die Augen öffnen konnte, und für einen Augenblick glaubte er, die schweren, metallisch klirrenden Schritte jenes Mannes zu hören, der ihn damals in den Untergang gerissen hatte.
Mit stockendem, rasselndem Atem und weiten Augen starrte er durch die Finsternis, während der Dolchgriff von Angstschweiß durchtränkt wurde. Die Türe zu der kleinen Hütte schwang auf, und für einen Moment glaubte er, sein Herz würde ihm aus der Brust springen. Der Dolch war schon halb unter dem Kissen hervor gewandert, als Kordian gepresst aufhustete, wohl scheiternd darin niemanden zu wecken.
Der Drang zu lachen oder etwas zu sagen war für einen Herzschlag beinahe übermächtig, aber Kyron verbiss ihn sich eisern. Kordian lebte in glücklicher Unwissenheit über die Dinge, die Kyron erlebt hatte, und selbst Cahira kannte nur kleine Teile, Ausschnitte, nicht das gesamte Bild. Keiner von ihnen hatte jemals gefragt, warum er manchmal Nachts aufsprang und das Haus verließ, keiner hatte jemals gefragt, woher die Narben an seinem Körper stammten, und keiner hatte jemals an ihm herum genörgelt, wenn er einmal die Nacht wachend und auf den Beinen verbrachte. So wollte er es, und so sollte es sein.
Keiner würde die Bedeutung all der kleinen Dinge erfahren, die Kyron am Leibe trug, sagte, oder sah wenn er Nachts aufwachte, und er betete täglich zu Gwynn darum, dass jene, die es wussten, niemals wieder auftauchen würden. Hoffte im Stillen, dass dieser Traum kein Omen war, als er die Augen schloss und den festen Schlaf mimte, während der Leutnant sich in seine Liege wuchtete, begleitet von den üblichen kleinen Flüchen.
'Aber Ärger besteht aus drei Schwestern', erinnerte sein Verstand ihn. Und der Traum, der war nur die erste Schwester. Solange keine weiteren folgten, war alles gut.
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(Life - Charlie Crews)
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#8
Lugh heißt er, dem die Macht gebührt,
Metalle mit Naturgewalt zu speisen.
Sein Hammer saust, von starker Hand geführt,
hernieder auf das glühendheiße Eisen,

die Rache ist’s, die ihn zum Amboss rief…


- Unbekannt

~*~

Ruß, Asche und beißender Rauch füllten den trüben Wandelmond-Abend mit ihren schwärzenden Fingern, und fügten sich mit schmutzigem Ingrimm in das wankelmütige Wetter ein. Das scharfe, metallische Kreischen eines Hammers auf Stahl erfüllte den zwielichtigen Abend, und mit jedem Schlag sprangen die Funken gegen glasierte Backsteinwände, und Schlacke brach in feinen Flocken vom glühenden Metall, um den steinernen Boden zu bedecken.
Es war eine befriedigende Arbeit, seinen Ingrimm an dem mattglühenden Metall auszulassen, befand Kyron. Hin und wieder brannte ein Funke ein zischendes, winziges Loch in seinen Wappenrock, aber der schwere Stoff mochte darüber hinaus kein Feuer fangen, zu vollgesogen mit den kalten Dämpfen des temperamentvollen Wandelmondwetters war er. Und dass er den Hammer früher oder später wieder schwingen müssen würde, das hatte er geahnt.
Die Kunst am heißen Eisen war es nicht, die ihn verlockte sich in das Maul des Drachen zu stellen, und Kunstwerke würden es wahrlich nicht sein, die aus seinen Händen erschaffen wurden. Es fehlte ihm an Kreativität, an Innovation, an der Euphorie für die äscherne Luft, die seine Lungen mit jedem Atemzug füllte, an Lüsternheit für den bitter-chemischen Geschmack von glühendem Metall auf seinem Gaumen. Der Geruch ließ seinen Geist wandern, seine Aufmerksamkeit erlahmen, und den Krieg in seiner Brust vergessen. Nein, dies wollte er wahrlich nicht. Der Frieden erschreckte ihn wie nichts sonst.
Aber des Krieges Waffen mussten geschärft sein, der Schlachten' Rüstung wollte ausgehämmert werden, und des Mordes kleiner Bruder wurde geboren aus den Schlägen eines Hammers auf glühendes Erz. Tat er es nicht, wer tat es dann?
Eine Hand berührte seine Schulter, ungefährlich wie er wusste. Des Hauptmanns fahle Gestalt stand ihm gegenüber, und er konnte gelassenes Wiedererkennen in den Augen des blonden Jünglings sehen.
"Kyron," sprach der Leutnant, Kordian, hinter ihm, aber da war etwas in seiner Stimme. Über den blutigen Geschmack der Schmiedekunst hinweg und durch den Rauch der Glut stolperte Kyrons Verstand träge und desinteressiert über den Tonfall, der einer Begräbnisrede glich. Die Esse rief, der Hammer zuckte in seiner Hand, 'schlag es in Eisen, schlag es in Eisen', und für einen Moment war er gewillt, alles über den Klang der Schläge hinweg zu vergessen.
Die Hand jedoch blieb, packte seine Schulter, drehte ihn. "Kyron," sprach der Mann erneut, der sein Vater sein hätte können. Im Zwielicht des bewölkten Tages, an dem nur eine Linie über dem Horizont von Licht berührt schien, und unter dem gekrümmten, geschwärzten Dach der Schmiede erschien Kordians Gesicht wie das eines Wiedergängers, blass mit schwarzen Akzenten, Schatten dort wo das Alter den Platz schuf.
Der Zauber der Schmiede wollte sich noch nicht von seinem Geiste lösen, als der Leutnant ihn gen' der Pferde drehte, auf die Konturen einer Gestalt hinter dem silberbraunen Fell wies, ihn nach vorne schob, leise Worte sprach die er nicht verstand.
Mächtige, ungerührte Pferdeleibe bewegten sich auf ihrer desinteressierten Suche nach essbaren Blumendekorationen, und gaben den Blick frei auf eine Gestalt mit lockigen Haaren, gekleidet in die grüne Kluft der Reisenden, betan mit einem gar lächerlichen Hut auf dem Kopf.
Kurz, ja kurz huschte eine amüsierte, fahle Stimme durch sein Gedächtnis, wispernd, 'sie hat ja gar keine Rüstung an,' dann fiel ihm der Hammer aus der Hand, brach ihm eine Zehe und ließ ihn beinahe mit der tastend nach Halt suchenden Hand in die Esse fallen. Der Zauber der Schmiede war ein zweischneidiges Schwert, bereit im ersten Moment dem Zauberlehrling die Seele aus dem Leib zu reißen, sobald sein Geist davon wanderte.
Die zweite Schwester des Ärgers war erschienen.
"Cahira?"
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#9
I found your soul smashed on these stairs
Right or wrong?
Lament stands backed in corners
(It's all a mistake)
You know you're sorry, you're sorry, you're sorry, your soul...
(It's all a mistake)
Put our loved ones in the oceans
(It's all a mistake)
We've spent our loving on the cold steps
But one of these days


Spectre (Love is Dead) - Christian Death

~*~

Es war, als würde sie dort stehen, und gleichzeitig an einem anderen Ort sein. Der zwielichtgraue Hintergrund verschwamm, veränderte sich zu tausend anderen Situationen in denen er sie angesehen hatte. Ein Schlachtfeld, der Boden aufgewühlt und mit frischem Regenwasser durchtränkt wie ein Schlammfeld der Hohenmarschen. Hier und dort Körperteile, oder ganze Körper, reglos auf dem Boden, für ewig ein Teil der Erde. Eine kalte, feucht-glitschige Steinwand, schwarz gefärbt vom Ruß, den Flechten und den Algen, die sich in Kolonien daran angeheftet hatten. In Ketten an einem Pfahl, hinterlegt von Kyrthon Dureths grinsender Totenkopfmiene, wie sie hinter Dorkalons massiger Gestalt verschwand. Vor brennenden Bauernhütten, mit Rußflecken im Gesicht und einem schiefen Grinsen auf den Lippen, während sie die Hand eines kleinen Buben hielt, der angesengt aber unverletzt war.
Sie trat näher, und für einen Moment schnürte Kyrons Hals sich von ganz alleine zu. 'Keine Rüstung, keine Waffe, in einer Stadt wie Löwenstein', sagte sein Verstand, und erinnerte ihn an die vielen kleinen Momente der letzten Wochen, die seine letzten hätten sein können. All das blühte nun auch noch ihr, und für die Dauer von sieben Herzschlägen wünschte er sie wo anders hin, an einen anderen Ort, weit, weit weg von Kordian und der Infanterie.
Die Schmiedeglut warf Schatten, und ein jedes Zucken in ihrer Nähe trieb sein Herz an, schneller zu schlagen. Was, wenn jetzt schon jemand auf sie lauerte? Was, wenn jemand sie schief ansah, oder ihm fortnahm, wie es schon in der Vergangenheit geschehen war? Was sollte er dieses Mal verkaufen, nun wo seine Seele schon verloren war? Er war mittelloser als der ärmste Mann auf der Irdischen, wenn es zu Dingen kam die ein Menschenleben wert waren.
Mit zwei großen Schritten war er bei ihr, schlang die Arme um sie und spähte dabei panikerfüllt über ihre Schultern, während sie einen Regenguss an Tränen auf seinen Wappenrock niedergehen ließ. Immer noch änderte sich der Anblick der Umgebung mit jeder schaudererregenden Erinnerung, die ihn heimsuchte. Der Hohenmarschener Sumpf, Cahira auf einem Pferd, Kordian mit dem gepanzerten Fuß im Maul eines der Sumpfkrokodile. Eine Axt, ein Schlag, Blut, Blut überall, während der abgetrennte Kiefer des Krokodils Beiß- und Rissbewegungen vollzog wie ein finsteres Echo. Die einzelnen abgebrochenen Zähne, die hernach aus Kordians Bein geschnitten werden mussten, Cahiras konzentrierte, gerunzelte Stirn als sie das Messer führte. Jemand würde sie stehlen, jemand stahl sie immer, aber dieses Mal würde er gefasst sein, gewappnet, bereit.
Wenn er nur jeden Winkel im Auge behielt, wenn er nur jedem Menschen zuvor kam, zuvor darin, sich Cahira zu nähern, wenn er nur jeden auf Armeslänge hielt, dann würde es dieses Mal, dieses Mal, endlich gut gehen. Dann würde er vielleicht glücklich sein. Sein Herz klopfte schmerzhaft gegen die Rippen.
Selbst Arthars und Kordians Anwesenheit war zuviel für seine Nerven. Ein dummer Kommentar von Arthar, und die Götter wussten davon hatte der Hauptmann für jede Situation genügend, und er würde Kordian endlich einen Grund geben, ihn wirklich zu degradieren. Wie er sie fort bekam war ihm egal, für das Abwägen von Konsequenzen war keine Zeit. Ein Anblaffen musste reichen, und das tat es auch. Mit unauffälligen Bewegungen tastete Kyron Cahira auf Verletzungen ab, fand aber zu seiner Erleichterung keine. Sie sprach und schniefte und erzählte, und Kyron hatte größte Mühe, den Worten zu lauschen während sein Blut vor Eifer kochte.
Ein Beutel blauen Pulvers, das Pulver das die Welt in Watte und Wolle packte, und selbst die Flammen in seiner Brust ersticken ließ. Unzählige, dutzende blaue Linien an seinen Armen, dort wo er sich geschnitten hatte um es ins Blut zu bringen, manche sehr hell, fast weiß, manche hellblau wie der Himmel, andere tiefblau oder dunkelviolett, wo das Blut das Blau verfälschte. Cahira's Gesicht, verzweifelt darum bemüht ihre Abscheu zu verbergen, das leichte Vertrauen in ihrer Stimme, mit dem sie ihm versicherte, dass sie darauf baue dass er wisse was er tue. Das Bewusstsein, dass es eine Lüge war. Eine große, gewaltige Lüge, die er nicht berichtigte, denn es fehlten die Schuldgefühle. Das Sandast hatte sie fortgewaschen, gemeinsam mit allen anderen Emotionen und allem, was ihn an die Irdische band.

Kyrons Kopf pulsierte, als er das Schwert vom Amboss nahm und in die Scheide am Gürtel schob. Er konnte unmöglich mit blanker Waffe durch die Stadt gehen, nicht wenn Cahira dabei war. Eine blanke Waffe wäre für seine Nerven eine Einladung gewesen, jeden Passanten notfalls mit blutiger Gewalt fort zu treiben. Seine Finger schlossen sich eisern um den Griff der Waffe, hart genug dass das dicke Leder der Handpanzerungen sich schmerzhaft in die weiche Haut rund um die Gelenke biss. Klares Denken war ihm fern, ein fremder Hauch den sein zitterndes Hirn nicht einsortieren konnte. Instinkt sagte ihm, dass er Kordian finden musste, dass Kordian nicht von den Bildern geplagt sein würde, dass dieser planen und entscheiden können würde. Dinge veranlassen würde, die nichts mit einem Blutbad in den Gassen zutun hatten. Er musste es nur bis zu Kordian schaffen, ohne sie zu verlieren, und ohne dass jemand sie entführte. Seine Hand schloss sich krampfend um die ihre, und sie wanderten los. 'Lauf! Lauf endlich!' rief er ihrer mit Spuren der Misshandlung gezeichneten Form hinterher, während er sich klirrend in die Ketten warf. 'Das ist keine Zeit für Heldentum! Helden sterben, und dann besingt man sie! Ich will dass du lebst!'
Sie rannte, wie der Wind so schnell. Hinfort in die krüppeligen Bäume, nach Westen, immer nach Westen, und Kyron sackte zurück in die Ketten, die ihn an den Pfahl banden. Sein Ziel war erreicht, die Frau die er liebte frei von den Peinigern, die sein Untergang sein würden. Sie hatte nicht verstanden was er getan hatte, hatte nicht verstanden welchen Teil von sich er für ihre Freiheit verkauft hatte. So und nicht anders sollte es bleiben, es war mehr als genug wenn sein Geist sich mit der monumentalen Sünde beschäftigen musste, die er damit begangen hatte. Cahira war frei, und würde frei bleiben, das war alles was wichtig war. Mit einem leisen, kehligen Knurren entspannte er sich, und ergab sich seinem Schicksal.

Der Weg durch die Stadt war eine Folter, die ihresgleichen suchte. Kyron wäre gerne gerannt statt gegangen, aber das hätte einer Erklärung bedurft, die er Cahira nicht geben konnte. Wer bedrohte sie? Niemand... noch. Wo befand sich die Gefahr? Nirgendwo... noch. Waren diese Menschen gefährlich, denen sie begegneten? Nicht wirklich... noch. Also beließ er es bei einem entschlossenen, zügigen Marsch, der vor allem durch Cahiras gemächlichen, neugierigen Schlenderschritt und Kyrons ständige Wache in alle Richtungen verlangsamt wurde. Erst als sie Kordian und Arthar nahe am Tor zum Armenviertel erreichten, schlug ihm das Herz weniger hart gegen die Rippen, und der Schweiß unter der Rüstung wurde zu einer kühlen, unangenehmen Schicht.
Wusste der Hauptmann was in Kyrons Kopf vorging? Vermutlich nicht, aber sein Anblick, die Faust um den Schwertgriff, die nackte, gewaltbereite Angst in seiner Miene und die stetigen Blicke zu Cahira, um sich derer Anwesenheit zu versichern, waren wohl genug des Hinweises. Kordian ließ den Panischen gewähren, deeskalierte und sorgte dafür, dass das Schwert niemals die Scheide verließ. Umschlossen von den Wänden der roten Katz' besserte sich der Wahnzustand etwas, und für einige Momente wagte Kyron sogar sich zu setzen. Die Bilder aber, sie verschwanden nicht. Es war eine Reise ohne einen Schritt tun zu müssen, von Ort zu Ort, Zeit zu Zeit, Zustand zu Zustand. Tavernen in Guldenach, Lilienbruch, Hammerhall, Biertische in Feldlagern, in privaten Bleiben, eine nach der anderen, lebensecht, mitreißend, schneller und schneller.
Irgendwo in dem Strudel an Panik musste er wohl eine Schankmaid bedroht haben, und es war Grund genug für Kordian, einzuschreiten. Seine Stimme war wie eine Lebenslinie, an der Kyron sich entlang hangeln konnte, der Docht der in der Dunkelheit eine winzige Insel Licht schenkte. Legionäre kamen, ihre roten Wappenröcke wie blutige Lätze. Sein Instinkt sagte ihm, dass er nun die Waffe nutzen musste, sie ziehen, den Stahl befreien, die Schneide singen lassen sollte, aber er vertraute seinem Instinkt nicht. Stattdessen konzentrierte er sich auf Kordians Stimme, Cahiras Anblick auf der Bank, und lauschte, lauschte angestrengt auf Befehle. Befehle zu befolgen war einfach, und erforderte keine Meinung und keine Abschätzung, kein Abwägen. Er war ein Blinder mit einem Mordwerkzeug, und Kordian seine Augen.
Da war keine Erleichterung als der Befehl zum Ausrücken kam, keine Gram über den verpassten Kampf. Cahira und Arthar folgten Kordian, Kyron sicherte den Rückzug mit wirr zuckenden Pupillen. Legionäre, Kultisten, Legionäre, Kultisten, sagten sie, lockten ihn die Waffe doch noch zu ziehen, und wurden ignoriert. Und immer noch schien Kordian zu ahnen, was in Kyrons Kopf vorging. Ohne weiteres Vorspiel wurde der Marsch nach Zweitürmen angetreten, und endlich, endlich konnte Kyron den harten Griff um das Schwert lockern.
Als die Mühle in den Blick kam, da grinste er plötzlich. Cahira war da. Cahira war zurück. Was kümmerte ihn der Rest? Alles würde gut werden.
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Let pain clear your mind of all thought
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(Life - Charlie Crews)
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#10
Now the people, they all dream
Of an Ireland free and green
Where nowhere can be heard the battle-cry
The fighting's gone too long
And it just drags on and on
I'd like to know some peace before I die


Free and Green - David Kincaid



Wieso sollte es denn auch irgendwann mal besser werden? Es änderten sich nur Namen. Die Namen der Menschen, die Namen der Landstriche. Silendir, Guldenach, Hohenmarschen, Löwenstein, Flüsterwald, Zweitürmen. Namen und noch mehr Namen, inzwischen mehr als er gewillt war sich über die Jahre zu merken. Und immer das selbe Schema. Ein Auftrag, Befehle, Konflikte, Bündnisse. Kämpfe, Verletzte und Tote. Es zog sich wie ein roter Faden durch seine Lebensgeschichte. Ein tropfender roter Faden, wenn man diese blumige Metapher zulassen wollte. Und wieder zeichneten sich die selben Schemata ab, die er schon so oft erlebt hatte. Jemand wollte etwas erledigt haben. Jemand hatte Pläne im Kopf. Jemand, der keine Ahnung davon hatte was es bedeutete diese Pläne wirklich umzusetzen. Und selbst wenn er die richtigen Worte gefunden hätte um ihnen die Komplexität eines Einsatzes dieser Art zu erklären, würden sie es dennoch nicht verstehen und an dem simplen Gedankenkonstrukt ihrer eigenen Einbildung festhalten. Es war als ob man ihm befehlen würde ein Loch zu graben und wenn er nach dem Werkzeug fragte, würde man ihm einen Besen reichen. Natürlich würde das Loch auch so irgendwann fertig werden, aber es wäre eben alles andere als angenehm den Auftrag auszuführen.

Ein gepresstes Knurren - tief, animalisch und nur schwerlich kontrolliert - entsprang seiner Kehle als er mit einem Anflug des aufgestauten Zorns die zusammengeknüllte Schärpe quer durch den Raum warf. Sich im Flug entfaltend, blieb sie provokant über dem Rüstungsständer mit seiner Wehr hängen. Als ob sich jemand einen schlechten Scherz erlauben würde und nichts als Spott für seinen Zorn hätte, baumelte sie im sachten Flackern des Kerzenlichts über einer der Schulterplatten. Das Herz pochte in seiner Brust, das Blut raste durch den Körper als er sich wie vom Donner gerührt das rote Rangabzeichen eines Leutnants besah. Es war schon fast körperlich schmerzhaft sich zur Ruhe zu rufen, die Atmung abzuflachen und die sorgsam einstudierten Übungen zur Kontrolle seines Zorn durchzuexerzieren. Anouk. Sie konnten nichts dafür, sie wussten es nicht besser. Wahrscheinlich hatten sie noch nichtmal eine Vorstellung davon, was diese Art von blindem Abwarten für Konsequenzen haben konnte. Wald. Er hatte Verantwortung übernommen. Kein Schwur, keine Bindung, nur seine eigene freie Entscheidung. Sternenhimmel. Langsam fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht. Er zwang die Atmung zurück in geregelte Bahnen. Die schwere Tür mit den vielen Ketten vor seinem inneren Tier schloss sich Stück für Stück. Es würde die Zeit kommen, in der die Ketten abgelegt werden würden, in der er ohne Angst um seine Taten Gwynn und Gerehan dienen würde. Es kam immer die Zeit.

Leise entwich ihm ein Seufzen als seine Aufmerksamkeit endlich von dem Rangabzeichen gelöst wurde und zu einem der kleinen Fenster wanderte. Es war dunkel, die Nacht war hereingebrochen. Die Lieder der Vögel waren inzwischen fast gänzlich verstummt und auch die anderen Geräusche des geschäftigen Treibens der Bewohner waren einer seltsamen Stille gewichen. Ohne grosses Zutun seinerseits wanderten die Gedanken zu der Galatierin. Zu diesem ruhenden Pol, an dem er sich zumindest für wenige Stunden keine Sorgen machen musste über Befehle, Verantwortung und Verpflichtung. Konnte es etwas Falsches sein, sich dem Gedanken hinzugeben - irgendwann bevor Morrigù ihn holte - Frieden zu finden? War Frieden etwas womit er zurechtkommen würde? Gedankenverloren stützte er die Hände an der Fensterbank ab. Da war es wieder, dieses kleine undeutbare Lächeln, das sich die letzte Zeit immer auf seine Züge schlich, wenn er an sie dachte. Sie würde ihm folgen wohin auch immer er ging. War er ein Narr diesen Worten soviel Bedeutung beizumessen? Hatte er sie nicht ähnlich schon früher gehört? Er würde es nie herausfinden ohne sich einem Risiko auszusetzen. Aber gerade Risiken waren etwas, womit er sich gut auskannte. Und was sollte es bringen alles im Voraus zu wissen? Sollten sich die Götter mit diesem Wissen belasten, er genoss dieses Gefühl an jemanden denken zu können, der sich allem Anschein nach die Zeit genommen hatte einen längeren Blick auf ihn zu werfen - abseits der Uniform und der Herkunft - und entschieden hatte, dass er es wert wäre.

Mit einem Ruck des Kopfes, ein unschönes Knacken der Nackenwirbel verursachend, wendete er sich von dem Fenster ab. Nicht minder schwer war es Anouk aus seinen Gedanken zu verbannen und sich wieder den Karten und Unterlagen auf dem Tisch zuzuwenden. Er hatte den Befehl bekommen über den Einsatz. Es war nicht der erste und so der Stählerne mit ihm war auch nicht der letzte dieser Art. Aufklärung und Sichtung. Rein und raus ohne großes Drumherum. Vielleicht noch ein oder zwei Stunden Konzentration. Dann würde er die Kerzen löschen und Grollbringer satteln. Wer weiß - vielleicht war ihm das Glück heute gewogen und er würde sie sehen..

Nur die Namen änderten sich, sonst blieb alles gleich. Und diesmal war der Name eben Ravinsthal...
Lernen durch Schmerz
Motivation durch Entsetzen
Festigung durch Wiederholung
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