Die Nacht zieht auf
#1
Part I - Aufstieg

Der finsterste, der abgelegenste, der menschenverlassenste und gottbeseelteste Schrein musste es sein. Und wo wäre man Galates näher als am einsamsten Flecken Ravinsthals, dem Lehen, das eben erst wieder im Namen der Götter geweiht worden war, wo der Glaube an die 21 stärker denn je erblühte? Nicht einmal einen Mondlauf war es her, als Mondwächter aller Lehen zusammenkamen und den Göttern huldigten, dort unten, im Herzen Ravinsthals. Der Ort, den sie aufzusuchen gedachte, hatte mit einem Herz wenig gemein. Er war die äußerste Fingerspitze des Lehens, isoliert und exponiert.

Schon der Weg zum Schrein war ein Opfer für sich, jeder mühselige Schritt hinauf über den Hügel ein verbissener Beweis dafür, wie ernst es Gwendolyn Veltenbruch wirklich war. Die Schneedecke war unten auf der Straße noch leidlich zertrampelt gewesen, aber hier oben, auf diesem Hügel, dieser Halbinsel, die ins Winkelmeer hinausragte, suchte man diese Zeichen von Zivilisation, diese Spuren von Menschen aus Fleisch und Blut, vergebens. Es war ein menschenfeindlicher Ort, den Elementen völlig ausgeliefert, und darum geeignet. Der Weg wand sich über Trampelpfade langgezogen den Hügel hinauf – Trampelpfade, die schon im Sommer gerade schmal genug für Rehe waren. Jetzt im Winter war es das Gedächtnis der Kräuterkundigen, das sich mit der Zeit die auffälligsten Bäume und Steine einprägt, das ihr half, überhaupt bis an die Spitze zu finden.

Längst waren ihre Füße durchweicht, da halfen auch keine dicken Wollwickel und Stiefel. Die Schneedecke war einen Schritt tief und sie schob sich eher vorwärts wie eine unbeirrbare, dick eingepackte, schwarze Walze, als dass man guten Gewissens sagen hätte können, sie ging den Weg hinauf. Aus der Ferne betrachtet ähnelte sie einem buckligen Kräuterweiblein, das auf der Suche nach abfallendem Geäst im Wald herumkreucht und schon von sich aus einen gebückten Gang eingenommen hat, weil es die Last im Rücken so gewohnt ist. Die Hände, verborgen in Lammfell, hielten die ledernen Gurte fest, die ihrerseits an einem Korb mit schwerem Weidengeflecht befestigt waren. Geduckt arbeitete die Vatin sich voran, die schwere Last auf ihrem Rücken tragend, sich dem Wind und den Naturgewalten entgegenstemmend.

Die Sonne senkte sich langsam ab. Und mit den letzten fahlen Strahlen erreichte Gwendolyn Veltenbruch die Spitze. Die Nacht begann, und mit ihr Galates‘ Reich. Das vertraute Gefühl, das sie jedesmal an Schreinen ereilte, stellte sich fast sofort ein. Der Schleier zwischen den Göttern und den Druiden war hier so dünn, man vermochte fast hindurchzublicken. Es ergriff sie hier schneller als an anderen Schreinen, so als hätte etwas oder jemand nur darauf gewartet, endlich ein Werkzeug in die Hand nehmen zu dürfen. Sie war gerne das Werkzeug.

Der Schnee fing mit einem dumpfen Geräusch ihren Buckelkorb auf. Das einzige Geräusch, das von außerhalb verursacht wurde. Hier oben war sonst nichts als Wind, grollendes Meer, nachtschwarzer Himmel – und, nun – sie. Eine Fackel erhellte die Finsternis. Mit den behandschuhten Händen fegte die Wanderin den pudrigen Schnee zur Seite, bis ein Kreis von etwa drei Schritt entstanden war.

Ihre Handgriffe waren bewusst gesetzt, ruhig und kontrolliert. Sie zögerte nicht und dachte nicht nach. Zu oft war sie in Gedanken durchgegangen, wie es zu machen sei. Der Schein der Fackel leuchtete den Kreis aus Schnee aus. Dem Weidenkorb entnahm sie Holzscheit um Holzscheit, bis ein veritabler Holzstoß entstanden war, den die Fackel nun entfachte.

Galates schätzte Riten, so hatte sie es von Vishaya einst gelernt. Er, der verschwiegenste aller Götter, der Herr über Nacht und Geheimnis, verstand auch das Unausgesprochene und das nur Gedachte. Ja, Gwendolyn war sicher, dass alles zu laut Geäußerte, gar Gekreischte, Galates sogar abstieß. Er verbarg sich im Unerklärlichen, im Ungesagten. Der Herr der Nacht sieht alles und verrät nichts, weil kein Mund in seinem Antlitz wohnt. Sein Wohlwollen war für die Pläne der Druidin unabdingbar.

Der Aufstieg hatte wohl eine Stunde gedauert und sie war gleichermaßen durchfroren und durchnässt. Nichts, was Überraschung brachte. Das Feuer loderte in den Himmel und spendete willkommene Wärme. Wer den Göttern nah sein will, sollte abstreifen, was nur Tand und Hüllen sind. Schicht um Schicht entledigte die Vatin sich der feuchten Kleider, bis sie vor den Göttern stand, wie sie geschaffen worden war. Dürr, über und über mit hellen Malen besetzt, stur und entschlossen. In einer bronzenen Ritualschüssel, deren Inneres den Sichelmond zeigte, schmolz sie etwas Schnee und begann, sich zu waschen. Lautlos glitten Tropfen in den Schnee, bis die Vatin endlich zufrieden war und etwas aus dem Korb zog, das sie in ein schwarzes Leinentuch eingeschlagen hatte. Mit beiden Händen schlug sie es zurück und ein Fell, hell und strahlend weiß wie der Schnee, bildete einen Kontrast zu seinem rabenschwarzen Umschlag, der in den Augen schmerzte. Ein tiefes Einatmen störte die Stille. Es war so weit.

Als sie sich erhob, trug sie das Fell um die Schultern. Der Schädel des Wolfs thronte über ihrem eigenen, roten Schopf. Der Wolf sah seltsam zufrieden aus, selbst im Tod. Er schien gar zu grinsen, wenn man sich aus dem Fenster lehnen wollte mit der Spekulation. Sie schob das flammendrote Haar nach hinten, verbarg es im Nacken und wand das Fell mit einem Strick weiter um sich. Langsam wanderte sie um das Feuer und blickte den Hügel hinab.

Weiß und abweisend lag die Schneedecke da, verbarg alles Hässliche unter sich und verdeckte, was knorrig und verwachsen war, das alte Wurzelwerk, die faulen Herbstäpfel, die toten Kadaver von Tieren, die dem rasch hereinbrechenden Winter nicht rechtzeitig entkommen konnten. So viel Unberührtheit, so viel Reinheit. Sie würde sie schmelzen.

Es war Zeit, den Spieß umzudrehen. Es war Zeit, jemandem aufzulauern, der sich nicht schützen konnte, nicht im Traum, nicht des Nachts. Es war Zeit, die pure Angst an die Oberfläche zu zerren. Es war Zeit für die Jagd. Es war Zeit, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Yngvar Steins Zeit war gekommen.
[Bild: Gwendolyn-Signatur.png]
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#2
Der Thalwald lag nahezu schwarz in dieser Nacht. Galantes Auge hatte sich fast vollkommen geschlossen und so war die Gestalt den schwarzen Wolfes lediglich ein lautloser Schemen in der Umgebung.
Am Rande des Waldes steigt ihm der süße Duft in die Nase. Der Duft, den dürre kleine Vatinnen verströmen, wenn sie sein Reich betreten. Der Fährte folgend führt ihn sein federnder Gang immer tiefer in das Herz des dichten Waldes, bis er die Verursacherin entdeckt. Blaue, intelligente Augen mustern die kleine Gestalt. Wie sie das Feuer entfacht, Scheit um Scheit das Feuer füttert. Wie sie sich von ihren weltlichen Hüllen befreit. Wie sie das weiße Fell um sich schlingt. Wie sie um das Feuer geht. Wie sie den Hügel hinab sieht - direkt in seine Richtung, als wäre ihr die Anwesenheit des stillen Zuschauers nur allzu bewusst.
In dieser Nacht sollte die Vatin nichts in ihrem Zwiegespräch mit dem Stummen stören. Kein Tier wagte sich in ihre Nähe. Der Hain gehörte allein ihr und den Göttern.
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#3
Fernab des beschwerlichen Aufstiegs, den die Druidin hinter sich gebracht hatte, befand sich Yngvar Stein auf dem Heimweg in das kleine Haus, welches ihm und seinem Bruder durch Erzpriesterin Winkel als Unterkunft zugewiesen wurde. Es waren gute Zeiten, wenn man bedachte, dass die Kirche ihre eigenen Streiter auslagern musste, da der Nachwuchs in den Reihen der Legion so zahlreich war. Und überdies war es endlich einmal dazu gekommen, dass ein Abend ohne Zwischenfälle verlief. Die Erinnerung daran, wann der Sonnenlegionär das letzte mal frühzeitig abrücken und sich seinen eigenen Weisen widmen konnte, war bereits am Verblassen gewesen – bis der Streiter die Tür zu dem Haus in der Gantergasse aufschloss und die wohlige Wärme des Ofens, gepaart mit der diesem Haus so eigenen Stille den Krieger empfing. Yngvar legte sich bereitwillig in die Wiege, die das warme Anwesen in diesen Monden der Kälte für ihn darstellte und ließ seine Gedanken von der Geräuschlosigkeit der alten Wände und Holzbohlen bereits nach wenigen Schritten in die Ferne schaukeln.

Er selbst sprach keinen Ton als er seine Rüstung Stück für Stück in seiner Kammer aufschichtete. Der Streiter tat dies stehts in der gleichen Art und Weise, folgte einem System dass er seit seiner Anwartschaft gelernt hatte und nun, einer Programmierung gleich, ohne darüber nachzudenken, abspulte – ohne nachlässig zu sein und ohne etwas auch nur minimal anders zu machen, als sonst. Er war stets bedacht darauf, außerhalb des Tempels und seiner Kammern stets nur mit Rüstzeug gesehen zu werden. Die Rüstung und er – das sollten für das Volk zwei ineinandergeschmiedete Dinge sein, ein und dasselbe Konstrukt des Herrn, willens und bereit in seinem Namen zu streiten und zu vernichten. Hier aber, in der stillen Einsamkeit seiner Kammer, bedeckte Yngvars Leib nurmehr leichte Kleidung aus Leinen. Einem stoffgewebten Schleier gleich, zeichnete die leichte Kleidung den Körper des Kriegers auf perfekte Weise nach und ermöglichte ihm wenige Stunden eine Auskehr aus dem Leben als wandelnde Bronzestatue des Herrn, hier im Herzen eines Ortes, der für ihn Geborgenheit bedeutete.

Es würde noch etwas Zeit sein. Zeit, die Yngvar nutzen würde, um an einigen Schriftstücken zu arbeiten, die er bereits kurz nach dem Blutkonklave angelegt hatte. Er hatte, genau wie Ehrwürden Alveranth, erkannt, dass die Legion nicht vorbereitet genug gewesen war. Wissen, elementar und unabdingbar für weitere Konflikte mit Kreaturen, die keinen Platz im Assam haben, war nicht in ausreichender Weise vorhanden oder zu verstreut, um es sinnvoll einsetzen zu können.

Und so kam es, dass der Streiter mehrere Bücher, allesamt gespickt mit Notizen, Zeichnungen und Thesen auf dem Tisch im Untergeschoss ausbreitete. Zum Teil befanden sich einzelne Zettel zwischen den Seiten, auf denen widerum Anmerkungen enthalten waren um die hastigen Lettern der gebundenen Bücher in eine Ordnung zu zwingen. Wenngleich es von außen nicht so gewirkt haben dürfte, folgte der Krieger in dem Labyrinth seiner eigenen Gedanken tatsächlich einer festen Ordnung, einer Vorgehensweise, die sich nur schwer auf Papier bannen ließ. Vermutlich hätte es eine Bibliothekarin wie Fräulein Winter gebraucht, um den Gedanken die Form zu verleihen, die sie auf ein präsentierbares Maß reduziert hätten, doch stellte sich die Frage, inwieweit die Bücherverliebte überhaupt mit solcherlei Themen belastbar gewesen wäre, zumal es sich vermutlich ohnehin irgendwann um geheimes Kirchenwissen handeln würde.

Die Stunden zogen mit jeder neu geschriebenen Zeile, mit jeder Randnotiz und jeder Anmerkung unbarmherzig auf dem Rad der Zeit am Krieger vorbei und – als es bereits späte Nacht geworden war, hätte der Kontrast nicht deutlicher ausfallen können: Yngvar trank den letzten Schluck eines frisch gebrühten Kräutertees, ehe er sich, mit müden Gliedern und Schlaf in den Augen erhob, während die Druidin sich derweil fernab der Geborgenheit und Wärme, in der sich Yngvar gesonnt hatte, durch die Winterkälte geschleppt hatte.

Die Papiere wurden sorgsam wieder in die Büchlein gefaltet und das Schreibzeug abgeräumt, ehe die festen Schritte des Streiters auf dem Holz der Treppe den Weg zur Schlafstatt einleiteten. Die Schriftstücke fanden ihren Platz in einer Truhe neben dem Bett und dem Hermelin wurde noch ein kleines Stück Wildbret hingeworfen, bevor Yngvar noch eines der Fenster öffnete, um der frischen Nachtluft den Weg in seine Lungen zu ebnen. Der Krieger war noch nicht wieder beim Bett angekommen, als sich die erste Brise durch den Spalt des geöffneten Fensters stahl und, mit dem hintergründigen Duft von Meersalz und Kälte die frischen Verheißungen der endlosen See und all' der unbekannten Länder, die fernab des Kontinents liegen mochten in die kleine Kammer dringen ließen. Es war ein kalter Gruß von meerwärts, der bisweilen den küstennahen Winden des Nordens seiner Heimat glich und den Wunsch aufkeimen ließ, die Küste aufzusuchen und die Nacht am Ufer der endlosen See zu verbringen - eine Reminiszenz seiner langen Vergangenheit in Nortgard. Indes empfing das Bett den Krieger mit einem Knarzen, das an das sehnsuchtsvolle Seufzen eines Liebenden erinnerte. Die Bettwäsche, gepaart mit einigen Fellen an der Oberfläche, formte eine warme Enklave in der heraufziehenden Frische, die wie ein Verdurstender dem Wasser entgegenstrebte.

Gleichsam gierig sogen die Lungen des Kriegers die frische Luft ein und ließen den Leib mit jedem Atemzug tiefer in den Schlaf der Nacht absinken. Die Körperlichkeit begann Stück für Stück von Yngvar Stein zu weichen, bis am Ende der gesamte Raum im Zwiespiel des Schlafes der Realität entflossen war und am Ende nur die Traumwelt auf ihn wartete. Kurz bevor das Bewußtsein von Yngvar Stein sich dem Schlaf völlig unterstellte, dachte er für das Aufblitzen eines Augenblicks an die Vatin, die er vor wenigen Tagen getroffen hatte. Die Drohung, sie würde ihn im Schlaf heimsuchen, hatte sie nicht wahr gemacht – natürlich. Wo wilde Kräfte walten, herrscht niemals Gewiss- noch Verlässlichkeit. Und somit entschlief der Streiter der Wirklichkeit vollends, im Glauben, dass er von Gwendolyn Veltenbruch nichts zu befürchten hatte, außer ein paar Worten des Trotzes.
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#4
Dünne, langgliedrige Hände, schmal und flink wie Spinnenbeine, fassten in die weiße Asche als wäre sie eine Speise, nahmen die ausgekühlten Flocken auf und hoben sie an, als sollten sie den Göttern dargebracht werden. Das Feuer loderte weiter, nur eine Handbreit von den Händen der Vatin entfernt, während sie davor kniete und flammenblind in sein schreiend wütendes Zentrum schaute. Fest zog sie sich die aschebedeckten Finger über das helle Dreieck ihres Gesichts, erst abrupt, dann träger. Die, die aus ihr werden sollte, brauchte Gwendolyn Veltenbruchs Antlitz nicht.

Ihre Worte richtete sie stumm an den Schöpfer der Geheimnisse und vertraute darauf, ohne je die Stimme zu erheben, gehört zu werden.

„Galates, Herr der Nacht, eine Dienerin des Pantheons ruft dich an und erfleht deine Hilfe. Dein ist die Nacht, dein sind die Schatten, dein ist das Verborgene. Lass mich in dieser Nacht die Schwelle übertreten. Hilf mir, die Welt, in der wir sehen, spüren, schmecken, riechen und ahnen, zu überschreiten. Führe mich ins Reich der verzerrten Bilder, ins brodelnde Zentrum seiner schönen Träume und schlimmsten Alpträume, wo nichts von Dauer ist und Zeit kein Maßstab. Lass mich den verabscheuungswürdigen Ascheanbeter strafen, aufdass ihm heimgeleuchtet wird in seinem Irrglauben. Er soll die Macht der alten Götter am eigenen Leibe verspüren. Galates, zeig mir, wohin ich gehen soll. Weise mir den Weg in seinen Kopf.“

Aus den Flammen schälte sich ein Umriss heraus. Ob sie ihn selbst kraft ihres Willens rief oder Galates seine Gunst zeigte – wer weiß das schon? Erst zeigten sich die Linien nur fahl, erschienen blass und unkonkret. Doch wenn sie etwas mitgebracht hatte in dieser Nacht, so war es Geduld. Nach und nach brach hervor, wen die Umrisse verborgen hatten. Die Gestalt des Legionärs war es, die vor der Netzhaut der Vatin tanzte. Aye, das war er. Derjenige, dem sie ein Versprechen gegeben hatte. Der mit dem rasierten Schädel. Der, der meinte, in ihrem Rücken lauern zu können ohne bemerkt zu werden. Das Großmaul, das ihr angedroht hatte, sie zu ernten wie einen reifen Apfel. Ah, es war Zeit für ihn, mit seinen eigenen Worten gefüttert zu werden. Zeit, seine Nachtruhe und seinen Frieden zu stören. Und Zeit, ihren Geist vorzubereiten und zu öffnen.

Die Kräuterdämpfe, die ein paar Augenblicke später aus der bronzenen Schüssel mit dem Mondsymbol aufstiegen, windeten sich dem Feuer zu, als wären sie unsichtbar von seinem Rauch angezogen. Blicklos malten die grünen Augen ihre Spuren nach. Wie Apfelschalenkringel schälte sich der beißende Kräuterrauch empor. Eine nur allzu bereite Vatin atmete ihn ein. Und langsam, langsam wurde ihr Geist weiter und die Welt verschob sich. Du willst mich ernten, Yngvar Stein? Das gefällt mir. Du bist nicht zum Erntehelfer geschaffen. Ich bin der Rabe, der auf dem Baum hockt und dir die Augen aushackt, doch nicht die Frucht, die sich pflücken lässt. Du weißt nichts und verstehst nichts.

Die Welt verschwand und mit ihr die Vertrautheit des Bekannten. Fort war der finstere Hügel, fort das gleißend helle Feuer, fort der beißende Rauch. Fort die klirrende Kälte der Winternacht, fort die Dunkelheit. Sie tauchte ein ins Zwielicht. Eine fremde, beunruhigende Welt voller Schemen, eine Welt, in der Distanzen verschoben sind. Eine Welt, in der man Schritte behutsam setzt, weil sich nicht einschätzen lässt, ob der Fuß wieder festen Boden trifft, wenn er vorangesetzt wird. Alles ist verzogen, in graues, bleiches Licht getaucht. Es gelingt ihr nicht, sich zu sammeln. Das Auge sieht, als wäre es nur halb offen. Unter Schlägen auf die Ohren zuckt sie zusammen. Eine Attacke?

Sie findet sich auf einem Baumstumpf wieder, krallt die Hände in das tote Holz und japst nach Luft. Ein Gefühl wie Ertrinken. Wo ist unten, wo oben? Ruhe. Bis der Sturm sich legt und sie sich orientieren kann. So wartet sie ab, verharrt auf dem Stumpf, der ihr Anker ist, zwingt sich zur Ruhe, bis die Sinne sich sortieren, wie sie sollen. Es kostet Kraft, sich so zu zügeln. Sie schließt die Augen. Eins nach dem anderen. Erst auf das hören, was greifbar ist. Lärm. In Yngvar Steins Kopf herrscht ohrenbetäubender Lärm. Was für ein Lärm? Hinhören, nicht warten, bis einen die Kakophonie überrollt. Klirren. Klingen. Aye, Klingen. Klingen und Schreie in einer gutturalen Sprache. Aufwiegelndes Kriegergeschrei. Trommeln in der Ferne. Männerstimmen, hauptsächlich. Und dann, es trifft sie mitten ins Herz – Gesang. Sie muss nicht sehen, um zu wissen, wer da singt. Furien, Vatinnen, Kämpferinnen alter Zeiten, an vorderster Front einer Schlacht. Mit ihrem Kriegsgesang peitschen sie die wilden Horden auf, die die Macht der Götter hinter sich wissen. Und Gwendolyn gehört zu ihnen, hier, in dieser Schlacht. Und sie weiß, wen sie finden wird auf diesem Schlachtfeld. Einen Krieger, der auf der anderen Seite steht. Juble, Rachedurst, denn du wirst gestillt werden.

Der Baumstumpf wird verlassen, das Wäldchen ebenso. Sie tritt aus dem Schatten der Bäume. Vor ihr breitet sich ein Bild der Zerstörung aus. Zwei Heere. Menschen, die glänzen, selbst in dem fahlen Licht. Wie polierte Insektenkörper, hart und erbarmungslos, stürmen sie vorwärts. Dann andere auf der Gegenseite, dem Aufzug der Vatin ähnlicher. Sie tragen Felle, Lederrüstungen und wilde Kriegsbemalung. Eine Ebene, baumlos, ausgedörrt und kahl. Morrigú frohlockt, denn gefallen sind so viele. Anu’s Boden wurde getränkt mit dem Blut der Krieger. Sie, die Kriegerin der Götter ohne Namen, sie vergräbt die Hände in dem weißen Wolfsfell. Ein letztes Stoßgebet. Gib mir Kraft, Artio. Lass mich dein Wolf sein.
[Bild: Gwendolyn-Signatur.png]
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#5
Der Schlaf kam über Yngvar Stein wie ein wohltuender Balsam, der sich auf schmerzende Glieder legt, von denen man erst im Moment ihrer Versorgung wirklich erfährt, wie erschöpft sie zuvor noch gewesen sind. Sein gesamtes Bewusstsein sank durch das Bett hindurch, in die Tiefe seiner Traumwelt. Dies war, zumindest glaubte er das, sein Reich. Die Welt in seinem Kopf, die gegen äußere Einflüsse vollständig sicher war. Sein geheimes Seelenrefugium führte ihn stets in andere Winkel einer Welt, die nicht real, sondern stets Ausdruck seines Strebens nach einem Reich unter der vollständigen Herrschaft des Sonnengottes war.

Der Brustkorb des Kriegers hob sich, nur um kurz danach mit einem langen Ausatmen zu bekunden, dass sein Traum-Ich bereits voll verzückter Vorfreude war, welche Schlachten geschlagen und Abenteuer in diesem Winkel der eingedachten Unendlichkeit auf ihn warteten. Eine Schlacht – das war der letzte, verlockende und wundervolle Gedanke, den Yngvar Stein in seinem Restbewusstsein aufblitzen sah, bevor seine Sinne sich umkehrten und er feuchte Erde zu riechen begann, die nicht da war, genausowenig wie die Luft, die von Schweiß, Blut und Anstrengung bereits schwer war, ohne dass ein anderer Kämpfer die weite Ebene, karg und endlos, bereits betreten hatte.

Der Traum formte sich noch und Yngvar stand inmitten seiner eigenen Erstehung, noch lange bevor die Vatin in sein Reich eindringen und sich seiner geheimen Welt bemächtigen sollte. Der Streiter spürte indes die wohlige Schwere eines Vollpanzers an seinem Leib, der an jeder freien Stelle mit Sonnensymbolen und eingekerbten Flammenornamenten versehen war.

“Wo Mithras ist, der Befreier, die flammende Macht, die den Unglauben läutert, brauchen seine Diener keinen Helm, denn der Feind soll das Gesicht der gerechten Streiter sehen, die das Verderben über das Unvolk bringen.” Der Satz hallte in seinem Kopf / in seiner Traumwelt wider, ohne dass es einen Mund gegeben hätte, der dies hätte aussprechen können. Yngvar indes, reagierte, indem er seine Kapuze aufzog. Seine Hand hatte er kaum wieder abgesenkt, ehe er einen schweren Streithammer in seiner Hand spürte, viel zu mächtig und viel zu groß als dass ein Mensch ein solches Werkzeug in der Realität hätte führen können. Die Waffe besaß ihrerseits eine Vielzahl an Verzierungen, bis hinauf zum Schlagkolben, dessen gezackte Seiten in Form von stählernen, robentragenden Mithraspriestern durch den Traumschmied geformt worden waren.

Als der Krieger den schweren Streithammer mit beiden Händen packte, bereit damit für Licht und Ordnung im Namen des Herrn in der gedachten Welt zu sorgen, schien ein weiterer Reiz gesetzt, das Szenario für den Kämpfer zu formen: Das gleichförmige Marschieren einer schier endlosen Heerschar an Sonnenlegionären, die aus seinem Rücken anmarschierten, um ihm im Kampf beizustehen, ließ Yngvar Stein die Nackenhaare aus Vorfreude und Erregung aufstellen. Der Gleichschritt der Krieger, begleitet durch das stetige, über das Schlachtfeld hallende Tönen flammender Reden durch die hinzugedachte Priesterschaft ließ seinen ganzen Körper vibrieren. Bald würde es beginnen. Bald.

Sein gesamter Körper spannte sich – dies war einer der Kriege für den Yngvar Stein sich ersah, für eine finale Entscheidungsschlacht, in der Chaos auf Ordnung treffen würde. Und als der Kämpfer zum Ende der Ebene, den Blick hin zum Horizont, richtete, sah er den Feind. Ein Moloch aus schwarzen Kutten und Lederträgern, wild und ungebändigt, ergoss sich in die Ebene. Wie ein Schwarm Ameisen, die den Zucker inmitten der Mithras-Armee gerochen haben, schob sich die schwarze Front den Kriegern näher – immer weiter. Die wenigen Hintergrundelemente der Ebene, kleine Wäldchen, einige Felsen und zwischen der Ebene thronende Berge, verschwammen hinter dem Ameisengewühl der Mondwächterarmee. Anrufungen an die 21 kollidierten mit den Predigten der Priester auf der anderen Seite, ehe die Kriegsschreie beider Parteien so laut wurden, dass alle Worte, alles Brüllen und alles Geifern in der sich entfaltenden Schlacht nur noch ein lautes Hintergrundpoltern wurde.

Die schwarze Flut kam näher. So nah, dass man ihre Gesichter, ihre mit Götzenmalen behängte Kleidung sehen konnte. Sie widerten Yngvar Stein ob ihres Rückstands an, ob ihrer Trotzigkeit im Angesicht der Ordnung und ob der Tatsache, dass sie zu wild waren, um sie kontrollieren zu können. Es musste ein Richtspruch erfolgen – hier und jetzt.

Den ersten Ansturm leitend, stürzte sich der Nortgarder brüllend in die erste Reihe der Angreifer, den Streitkolben wie einen Pinsel durch die Reihe an Mondwächtern führend – ein Gemälde aus toten Leibern und Blut war das Ergebnis des ersten Ansturms, bei dem Ordnung auf Chaos traf, Tradition auf Zivilisation. Unter dem Tosen eines über die gesamte Ebene gegrollten “Mithras obsiegt!” und eines noch lauter erschallenden “IMMER!” fielen die ersten Schergen einer alten Zeit, während Yngvar Schwung für Schwung im Vergehen der Diener einer vergangenen Zeit badete.

Gleich einem Papierschiffchen, dass man zu sehr mit Wasser getränkt hat, entfaltet und entschmilzt der Kampf sich in völliger Erbarmungslosigkeit um den Krieger, während er und seine Waffenbrüder in dem Meer aus kämpfenden, brüllenden Mondwächtern wüten, ungeachtet eigener Verluste, ungeachtet irgendwelcher Verluste. Es ist ein Kampf an dem am Ende nur einer stehen soll, glorreich, siegreich, für Mithras. In dem Gewimmel der fallenden, sterbenden und kämpfenden Leiber geht der rotbeschopfte Eindringling völlig unter, während Yngvar mit jedem Schlag, mit jedem gefallenen Mondwächter an Größe zugewinnt. Als beflügle den Kämpfer das Fällen der Ungläubigen, als verleibe er sich jeden der verheerten Leiber direkt ein, beginnt der Krieger zu wachsen, eine mächtige Erscheinung bald, die über einem Heer von Winzlingen thront. Seine Waffenbrüder preisen ihn als Wunder des Herrn, während die Mondwächter mit wachsender Panik sehen, was sich vor ihnen auftut: Eine fleischgewordene Bronzestatue, die einen Streithammer, fähig Gebäude einzureißen, schwingt. Hybris hatte in dieser Nacht jedes Recht, die Träume von Yngvar Stein zu lenken.
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#6
Die Erinnerungen an die greifbare Realität treten zurück, ihr Bild von sich selbst rückt zunehmend weiter fort. Wer Gwendolyn Veltenbruch war, spielt keine Rolle auf diesem tobenden Flecken Erde. Niemand fragt nach Namen, niemand braucht sie. Die Vatin reißt den alten Namen von sich, legt seine Geschichte ab, schiebt das Leben weg, das untrennbar mit ihm verknüpft scheint. Es gibt kein Löwenstein und kein Ravinsthal mehr, keine Sonnenlegion und keinen Rabenkreis. Zivilisation ist Verderben, Ordnung ist der Untergang, ja selbst Worte kommen ihr lächerlich vor. Das hier ist die Wurzel, das hier ist der Ursprung. Das tosende Chaos ist, wofür der Mensch geschaffen wurde. Ein Heer gegen das andere, ohne Kompromisse, Zugeständnisse, ohne weiche, versöhnliche Worthülsen, die dem anderen eine Daseinsberechtigung einräumen. Hier zählt nur fallen und sterben, stehen und leben. Das Andere ist das, was nicht mehr auf dieser Erde zu wandeln verdient.

Nackte Füße treffen auf kalten Boden, doch die Vatin spürt keine Kälte, fühlt die gefrorene Erde nicht, die die Haut aufreißen müsste und schenkt der bitteren Kälte keine Aufmerksamkeit. Hätte sie ein Bewusstsein dafür gehabt, wäre ihr aufgefallen, wie unnatürlich sich der eigene Körper verhielt. Ihr einziges Ziel aber war, dieses Gesicht zu finden, von dem sie nicht mehr hätte sagen können, warum es bestraft werden sollte. Aber bestraft werden würde es.

Das Wolfsfell ist ihr wie eine zweite Haut. Sie kann den Kopf des Tiers schwer auf ihrem eigenen spüren. Ein wohliges Gewicht ist das, ein wohliges Gefühl, und sie ist stolz, die letzte sterbliche Hülle dieses Raubtiers in einem Kampf zu führen, der ihm würdig sein wird. Kein zerrupftes, gewichtsloses Gemetzel an einem Nebenschauplatz, sondern eine Schlacht, die über die Geschicke der Welt entscheiden wird.

Die Dienerin der Götter trägt keine Waffe an sich, keinen Speer, keinen Kampfstab, nicht einmal einen Dolch. Der Gedanke an Waffen kommt ihr nicht einmal. Zu sicher wähnt sie sich in diesem Körper, diesem Gefäß der Göttermächte. Hinter blasser Haut, hinter Fleisch, hinter Knochen wütet eine rohe, gezielte Kraft, die sie so nicht kennt. Und diese Kraft sucht ein Ventil. Sonst sind da lästige Hindernisse, die das göttliche Wirken eindämmen – ob es nun der nüchterne Blick der Gelehrten, das auf die Goldwaage gelegte Wort der gelernten Silendirerin oder die diplomatische Umsichtigkeit sind. Die Kriegerin erinnert sich kaum mehr an sie. Alles was zählt, ist, Morrigú ihren Tribut zu zollen.

Ihr Wirken, ihre Fähigkeiten sind multipliziert hier und was in der schnöden Realität ein Kiesel war, wächst sich an diesem fremden Ort zu einer Geröllhalde aus, die einen Hügel herabstürzt und nicht mehr zu halten ist. Nicht durch menschliche Hände, nicht durch Mithras’ Priester. Sie spürt die göttlichen Kräfte in ihrem Brustkorb pochen, als säße da kein menschliches Herz mehr, sondern ein pochendes Bündel, geformt aus brennendem Willen und gierigem Wunsch. Der erste behelmte Mithrasdiener, der sich ihr an den Ausläufern der Schlacht in den Weg stellt, findet sein Ende, ehe er seinen Streitkolben heben kann. Die Kriegerin der Götter schleudert ihn mit einer Handbewegung in die Schwertspitze seines eigenen Kameraden. Er stirbt verwundert. Er stirbt rasch. Er ist nicht, wonach sie gesucht hat.

Am Rand der Schlacht kämpft es sich nicht gut. Ein Wimpernschlag nur, sie wünscht sich ins Herz des Blutbads und verweilt nicht, um sich zu wundern, als der bloß gefasste Gedanke sich in gesehener Wahrheit manifestiert. Gwendolyn Veltenbruch wäre zu Stein erstarrt in dem überkochenden Kessel, umgeben von wütenden Körpern, streitenden Kriegern, Kriegsschreie trillernden Furien. Aber sie, sie hob die Arme und ließ sich von der Welle der Körper mittragen. Tauchte durch das Meer aus Mondwächtern, die ihre schwarz und blau bemalten, runenverzierten Leiber den bronzenen Rüstungen entgegenwarfen. Nach vorn, nach vorn, bis zur zweiten Schlachtreihe.

Das Trillern und Kreischen der Furien ist verstummt. Warum? Sie riecht ihre Verzweiflung, eh sie versteht, welche Macht ihr die Mondwächter entgegentreibt. Warum sie in die falsche Richtung driften, warum sie zurückweichen, wird nur allzu schnell offenbar. Die Vatin verharrt, als ihre suchenden Augen den Riesen erblicken. Endlich hat sie es gefunden, das Gesicht des Feindes. Es ist seines, sie erkennt es wieder unter der verhassten Kapuze, auch wenn der bronzene Chitinkörper ihres Widersachers zu unmenschlicher Größe aufgeblasen ist und jeden Kämpfer riesenhaft überragt. Er wütet in den vorderen Reihen und ist unempfänglich für alles, was nicht direkt vor ihm fällt und stirbt.

Der Blick der Vatin betastet seine Gedanken – eine Invasion. Sie will ihn beforschen, eh er sie bemerkt, diesen weißen Fleck hinter den zahllosen schwarzen. Ah, da ist wohl Widerstand. Er will sein Inneres nicht erkundet wissen, auch wenn er keine Kapazitäten dafür hat, sie ernsthaft aus seinem Kopf zu verjagen. Soll er sich ruhig wehren. Es wird ihm nichts nützen und es wird ihm nicht helfen. Ein Moment der Ablenkung, als zwei Mondwächter sich an sein Knie hängen und ihn stürzen wollen, und die Gegenwehr ist überwunden. Die beiden sterben wie die Fliegen.

Es ist, als würde sie durch einen stinkenden Morast waten. Bei jedem Schritt bleibt Dreck auf den Füßen kleben, der sich in die Haut frisst. Die Gedankenwelt eines Mithrasfanatikers ist wahrlich kein erbaulicher Anblick. Er ist im Traum nicht viel anders als im Leben. In seinen Gedankenwirbeln herrschen dieselben trügerischen Sicherheiten. Der Andere vertraut auf Muskel, Arm und unnachgiebiges Metall. Er hat einen unumstößlichen Glauben an das Recht des Stärkeren und Größeren, den Sieg Mithras’. Er meint, zerstampfen und zertreten zu können, was ihm schwach und kleiner erscheint. Er meint, entzweischlagen zu können, was keine Klinge trägt. Er meint, besiegen zu können, was nicht gerüstet ist. Er meint, sich erheben zu können im Namen einer lächerlichen Ordnung. Er meint, man würde sich ihm beugen. Er meint, Mithras obsiege. Er irrt. Sich aus seinem Kopf zurückzuziehen, fühlt sich an wie das erste Eintauchen des Kopfes in einen Bottich nach einer versoffenen Nacht. Gänzlich erfrischend. Die Welt ist wieder klarer.

Es ist Zeit, sein Töten aufzuhalten. Man öffnet ihr einen Korridor, sie jagt vorwärts, durch die letzten Reihen, leicht, behende, um ein Vielfaches beweglicher als die gerüsteten Mithrasi, und hier und da nimmt sie vereinzelte, exaltierte Schreie auf – „Artio!“ Oh, sollen sie nur glauben, die Göttin selbst steht ihnen bei. Die Rufe wandeln sich, die verbliebenen Vatinnen nehmen sie fieberhaft auf und wo zunächst Einzelne brüllten, skandieren bald drei Reihen blutdurstiger Kämpfer. Blut ist ihr in den Kopf gestiegen, wonnig rast das Herz. Mondwächter und Mithrasdiener gleichermaßen halten inne. Die einen skandieren, die anderen beten unterdrückt und weichen zurück. Es muss Instinkt sein, der sie fühlen lässt, wie die Stärke der alten Götter ihren jungen Sonnenkerl bedroht.

Sprache ist überflüssig. Man kann sich ein „Sieh her und stell dich!“ auch sparen. Aus ihrer Kehle entringt sich stattdessen ein gutturales Aufheulen. Die Vatin bleckt die Zähne – ein fremdes Wesen aus einer alten, chaotischen Welt, dessen weißes Gesicht unter dem Wolfskopf verschwimmt.
[Bild: Gwendolyn-Signatur.png]
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#7
In den Niederrungen seiner Träume war der Krieg eine erotische Verlockung für den mithrasgeschwängerten Geist, der sich üppig nach jedem neuen Leib verzehrte, den sein Traum-Ich generierte und dem Krieger entgegenwarf. Das Wimmeln schwarzer Gedanken, verkörperlicht zu Heerscharen von Mondwächtern, die er mit seinem Streitkolben niederschlug, um sie unter der Wucht aus Glaubenstreue zu begraben, alle Zweifel, alle Makel zu beherrschen, damit sie in der realen Welt wie ein unsichtbares, schwarzfahles Band durch das Fenster in das Chaos der Freiheit entlassen werden können. Er war sein eigener Gedankenverheerer in dieser Nacht, gebunden an den Auftrag alles zu tilgen, was sich seinem perfekten Gotteseifer in den Weg stellen könnte.

Die Kontrolle über seine Gedanken ist sein Lebenselixir in diesen zeitlosen Minuten, die er sich einflößt als würde jeder Moment, in dem er nicht von diesem Quell innerer Stärke trinkt, eine Schwäche entblößen, die das schwarze Gewimmel in seinem Schädel ausnutzen könnte. In einem Akt der Verzweiflung werfen sich zwei klebrige, schwarze Mondwächtergestalten, nicht mehr als verzerrte Schemen für den mithrasgestählten Riesen, an dessen Beine - schiebend, ziehend, fluchend. Der Gottesstreiter braucht nicht mehr als sein Bein einmal anzuheben und aufzustampfen, um die beiden schwarzen Parasiten abzuschütteln. Für einen Moment scheint es, als schwebten die beiden Leiber in der Luft, während der Kampf ungeachtet dessen, was im Zentrum seines Erbauers geschah, erbarmungslos weiter tobte.

Der Stiefel des Kriegers indes, senkt sich auf die in der Luft schwebenden Körper herab, die, morschen Laubblättern gleich, unnatürlich langsam zu Boden sinken. Als der Stiefel mit dem hilflosen Mondwächtertum in Kontakt kommt, scheint es jedoch, als laufe die Zeit hinter ihrer eigenen Langsamkeit hinterher. Der mächtige Stiefel presst die beiden Körper im Bruchteil eines Moments förmlich in den Boden und hinterlässt ein groteskes Spiel unnatürlicher Masse in dem Fußabdruck des Mannes, der weiter durch die mittlerweile flüchtenden Scharen an Mondwächter-Insekten watet. Dabei bemerkt er den Dorn zunächst nicht, der sich in dem Moment, da seine Aufmerksamkeit auf die beiden Angreifer gerichtet ist, in seine Gedanken bohrt und dort eine Tür für eine einzelne Mondwächterin schafft – die eine, die nicht flüchtet. Er spürt das Eindringen dieser fremden, andersartigen Figur, deren Geist sich wie ein langer, feingliedriger Finger in seinen Schädel zu drängen beginnt. Der Kampf tobt weiter, der Körper kämpft reflexartig, zerschlägt, zertritt, zerdrückt, was er erreichen kann, während sich der Geist des Kriegers auf eine tiefere Ebene in seinem Traum zurückzieht. Irgendetwas ist nicht richtig, fühlt sich falsch an. Es dieser surreale Moment in einem Traum, in dem eine Kleinigkeit den Reiz dafür setzt, zu wissen, dass etwas nicht an seinem Platz ist. Als habe einem jemand einen Stuhl zum Sitzen angeboten, der mit dem Stuhlbeinen nach oben abgestellt worden ist.

Das Gefühl, als durchdringe etwas die verschiedenen Ebenen seines ureigensten Kerns wird stärker. Seine Gedanken zerren an der Vatin wie Hände, die nach ihr greifen, den Eindringling festhalten wollen, um sie dem zu präsentieren, was Yngvar Stein ausmachte. Die Glaubenstreue heftet sich immer stärker an die Vatin, als sie durch die Niederrungen seiner Welt watet, gegen den Widerstand seines Geistes trifft und bricht, was einen Schild vor das innerste Refugium von Yngvar Stein hebt – vergebens. Das Schlagen und Brüllen des Riesenkriegers wird unwirscher, ein unkontrollierter Golem, der mittlerweile seine eigene Traumwelt zum Beben bringt, während sie jedes Detail sieht, jede Feinheit seiner Seele – er gibt dem Eindringling, den Yngvar Stein noch nicht gänzlich begriffen hat, nun freie Sicht auf sein Selbst. Ein Täuschungsmanöver. Erinnerungen, Wünsche, Begehren, sie alle sind nach hinten getreten, verstaut in einer Seelentasche, zurücktreten hinter dem gleißenden Licht und der lodernden Flamme, die da in dem Sonnenlegionär brennt. Erleichterung als die Vatin sich zurückzieht, die Rückkehr der Kontrolle über den Körper.

Als der Krieger wieder in seinen Leib zurückkehrt, sieht er noch wie die Einzelne, der Makel in Form einer Mondwächterin, auf ihn zuhastet. Das Keifen und Brüllen der Frau, die Urtümlichkeit in ihrer Bewegung deuten an, dass seine unwirkliche Episode hier kulminieren würde. War es vorher jedoch ein sanftes Wiegen, ein Teilnehmen, ein Betrachten seiner Erlebnisse von außen, hat das Eindringen der Vatin den Krieger sich selbst wahrnehmen lassen. Die Kontrolle des Beistehers ist verloren und er ist in dem Leib des Riesen gefangen, wird mit dem arbeiten müssen, was er hat. “Niemals Wanken, niemals zweifeln.” spricht er tonlos, als die Vatin, mehr zu einem Wimmelbild aus Frau und Wolfspelz verschmolzen, dem Streiter entgegenspringt, den mächtigen Streitkolben erhoben. Ein Schlag – und dieses dreiste Aufbegehren eines Traumweibs würde enden und nur noch eine fahle Erinnerung an einen Gedanken sein, zertrümmert, ausgelöscht.
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#8
Wäre alles mit rechten Dingen zugegangen, hätte der Streitkolben des Mithrasdieners sie mühelos wegfegen sollen. Wäre alles mit rechten Dingen zugegangen, hätte man dieses Aufeinandertreffen nicht als Kampf bezeichnen dürfen. Wäre alles mit rechten Dingen zugegangen, hätte die spindeldürre Vatin nicht anders enden sollen als die zahllosen anderen Mondwächter, die weitere namenlose, gleichförmige Striche auf der unsichtbaren Liste der bereits von dem Sonnenkrieger Besiegten bildeten. Von ihnen blieb nichts als ein letzter Aufschrei übrig, vielleicht ein verdutztes Blinzeln vor dem Ende.

Es ging nicht mit rechten Dingen zu.

Zorn erfüllt das Herz der Vatin, entfesselt von Morrigú, eine unkontrollierbare Springflut, ein aufgepeitschtes Wogen, ein wildes, grollendes Meer, das mit Haut und Haar zu verschlingen droht, was sich nicht in Sicherheit bringt. Kaum wäre sie überrascht gewesen, wenn die eigene Haut, diese schlichte, empfindliche Hülle, die sie umfing, geplatzt wäre unter dem unerbittlichen Ansturm der göttlichen Macht, die jeden Winkel des schmalen Körpers für sich beansprucht und keinen Platz mehr lässt für schwache Gefühle, für Zaudern oder Zagen. Diesen brausenden höheren Mächten ausgesetzt zu sein, ist ein schmaler, tückischer Ritt in einer zerbrechlichen Nussschale, bei dem man nur ein einziges, nutzloses Paddel zur Verfügung hat, und sie spürt es wohl. Was ist ein Menschenkörper schon, wenn die Macht der Götter durch ihn tobt? Erwischt das Boot die nächste Welle nicht, erwartet das Tosen den Ruderer, der gierige Abyss, der in die Tiefe reißen will und sich nicht schert, wen er hinabreißt in das ewige Dunkel – den Feind oder den, der ihn zu bezwingen sucht. Was tut der kluge Ruderer? Er lässt den vergeblichen Versuch, das Meer bezwingen zu wollen, sein, und legt sich gleichmütig auf den Boden seines Schiffchens. Er klammert sich mit allem was er hat an die Planken und lässt das Meer ungehemmt wüten, ganz wie es will. Der weise Seefahrer begrüßt das Chaos, lässt es walten, lässt sich von ihm in den Strudel ziehen und wehrt es nicht ab. Das Paddel lässt er in die aufgewühlte See gleiten, denn Navigation ist zur lächerlichen Illusion geworden. Wer will noch lenken, wenn nicht mehr zu sagen ist, wo oben anfängt und unten aufhört? Es kommt der Zeitpunkt, an dem man sich dem Willen der Götter unterwirft, weil die Alternative so gänzlich schal ist.

Was kann ein Menschenkörper schon leisten, alleingelassen im Maelstrom? Ohne die lenkenden Kräfte der Götter wäre sie nur ein unbedeutendes, krabbelndes Insekt gewesen auf diesem Totenacker, auf diesem Schlachtfeld.Mit ihnen ist sie etwas gänzlich anderes. Eine mitleidlose Richterin, die gekommen ist, das Urteil über diesen alptraumhaft riesigen Streiter, diese wandelnde Beleidigung, zu fällen, ihn zu verurteilen für seinen lachhaften Glauben an Asche, Sonne und Jugend. Und richten würde sie, für das Gleichgewicht auf der Welt, für das Pantheon. Der Riese ist eine schiere Schandschöpfung, ein Affront gegen die Götter selbst in seiner krankhaften Hingabe an den aschefressenden Gott, diesen frechen Emporkömmling, diesen kraftlosen Jungspund.

Im letzten Sprung streckt sie, ohne es recht gewahr zu sein, die Arme weit vor sich, richtet abwehrend die Handflächen gegen den goldenen Golem Mithras' und schleudert klare, strafende Worte hinaus, die auch Pfeile hätten sein können. Die vernichtenden Worte, die die Mächte der Götter rufen und seinen Urteilsspruch darstellen, kommen ihr leicht über die Lippen, rollen rund von der Zunge, als wären sie viel zu lange im Mund behalten worden als hätten sich danach gesehnt, endlich artikuliert zu werden. In der greifbaren, der traumlosen Welt gelingt es ihr mithilfe dieser Aneinanderreihungen von Lettern, angreifende Feinde zurückzudrängen, ihre Körper gegen die nächste Steinwand, den nächsten Baum zu schleudern. Der Wille, dieses irritierend kräftige Instrument des Sonnengottes in seine Schranken zu weisen, an seinen Platz zu verweisen und es zu bezwingen, wird übermächtig. Das Gold seiner Rüstung soll mit Schmutz beschmiert werden, das Strahlen des Panzers verblassen im Morast, das Gesicht demütig der Erde zugewandt sein, aufdass er die Sonne, Symbol seines Frevels, nicht mehr erblicken kann. All ihr Wollen liegt in dem überbordenden Wunsch, dem glänzenden Ungetüm den Boden unter den Füßen wegzuziehen und seine Schergen noch unter ihm zu begraben.
[Bild: Gwendolyn-Signatur.png]
Toast can never be bread again.
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