FSK-18 Die Dunkelheit
#1
Für viele Menschen mochte die Dunkelheit beängstigend sein. Die Einschränkung der Sichtweite furchteinflößend. Der Feind, der nur darauf lauerte, seine Waffen hervorzuziehen, um jene in sein Opfer zu stechen – sei es in Form eines Menschen auf der Suche nach Macht oder Münzen oder eines schlechten Traumes, der einen erschrocken aus dem Schlaf reißt.
Die Stille, die über das Land hereinbrach, wenn die Dunkelheit aufzog, mochte unheimlich sein. Der nachlassende Trubel, die sinkende Hektik in den Gassen, die eine gewisse Hilflosigkeit in den wenigen, noch ruhelosen Menschen aufsteigen ließ, konnte jene gar erdrücken und den Zwang auslösen, so schnell wie möglich in die Sicherheit eines eigenen Hauses zurückzukehren.
Und doch konnte eben jene Dunkelheit, die so viel schlechtes bot, die beste Freundin sein – eine grundsätzliche Zuverlässigkeit der steten Wiederkehr bietend, eine Verlässlichkeit, die das Licht auf Dauer nicht zustande brachte. Man musste diese Beständigkeit nur annehmen und zu nutzen wissen.
Die Nacht bot so viele Vorteile – so viele Freiheiten, wenn man denn wollte. Man musste nur lernen, damit umzugehen und sie nutzen.

Sie hatte früh gelernt, die Dunkelheit für sich zu nutzen. Sie konnte so Sicherheit bietend sein.
Sich ungesehen auf leisen Sohlen durch die Gassen zu schleichen, um zu tun, was nötig war – was auch immer es war. So unterschiedlich die Gründe dafür manchmal sein mochten, unbemerkt zu bleiben, so war die nächtliche Finsternis stets nützlich.
Doch war der Zweck, den die Nacht damals für sie erfüllte, nun vollkommen verblichen. Es schien ihr wie in einem früheren Leben. Ein Leben, das den Tatsachen nach, nur Monate hinter ihr lag. Eine kleine Zeitspanne im Vergleich zu einem und doch schien es so lange her, dass manche Bilder aus jener Zeit immer mehr und mehr zu verblassen schienen. Es war ihr auch nicht viel geblieben, was aus jener Zeit noch blieb und die Erinnerungen ab und an auffrischte. Ein paar wenige Gegenstände, noch weniger Menschen. Mittlerweile schien es ihr fast, als wäre sie damals jemand anderes gewesen, auch wenn sie im Spiegel noch immer das gleiche Gesicht sah – nur nicht mehr so verzehrt wie in den zerbrochenen Scherben des Spiegels damals.

So vieles hatte sich seitdem geändert. Alles. In wenigen Monaten schien sich ihr Leben so drastisch verändert zu haben, dass sie es selbst nicht mehr wiedererkannte. Der letzte Streit hatte ihr gezeigt, dass sie sich selbst nicht mehr sicher war. Die Ketten hatten sich immer enger um ihren Körper geschlungen. Fast hatte sie das Gefühl, das Metall wirklich auf ihrer Haut spüren zu können. So konnte es nicht weitergehen. Etwas musste sich ändern und sie hatte es ihm klarmachen müssen. Sonst wäre alles umsonst gewesen. So kurz davor alles auf Anfang zu setzen, hatte sie keine andere Wahl mehr. So sehr sie ihn wollte, so sehr brauchte sie ihr eigenes Leben. Die Gewissheit, sich bewegen zu können. Sie selbst sein zu können – ganz ohne Zwang und Rechtfertigung. Sie wollte wieder leben. Sie musste.
Und doch war alles anders. Für alle Anderen war sie nicht die, die sie sein wollte. Nicht die, die sie eigentlich wirklich war. Es war merkwürdig, was ein Name aus einem machte, selbst wenn es nicht der eigene war.
Sogar die Selbstverständlichkeit, mit der man sich stets in den Gassen der Stadt bewegen konnte, schien wie weggeblasen.
„Was treibt Ihr so spät nachts auf den Straßen?“ Wie oft sie diese Frage in der letzten Zeit gehört hatte, wenn sie die Ruhe genießend durch die Gassen schlenderte. Die Erwartung von Rechtfertigung. Nein, nicht nur. Zum Teil waren es Menschen, denen sie nicht egal war. Menschen, die zu durchaus interessanten Begegnungen führten. Und irgendwann würde sie dann doch einfach nur vergnügt lächelnd antworten: „Leben...“
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