FSK-18 Der Pfirsich
#1
Es war einst, eine Frucht. Aus einem Nichts an Blütenstaub entstand an einem Baum, was später von fleißigen Erntehelfern als eine von vielen eingebracht und auf Märkten feilgeboten ward. Auch diese Frucht, der Unterscheidung halber Pfirsich getauft, fand ihren Weg auf den Markt. Es gab viele Früchte wie diese – mit einer Ausnahme: Dieser Pfirsich hatte sich, entgegen seiner anderen Artgenossen, stets der Sonne entgegengestreckt. Selbst zu der Zeit wo er nicht mehr als ein aufkeimender Gedanke von Obst im Blütenstock gewesen war, hatte er sorgsam das Regenwasser und den Morgentau angenommen und es so zu einer veritablen Erscheinung gebracht.

Hätte es unter den Bauern und Erntehelfern einen Wettbewerb um den prächtigsten Pfirsich gegeben: Dieser hier hätte zweifelsohne in der Anwartschaft auf den prächtigsten aller Pfirsiche gestanden. Hätte das Obst sprechen können, oder sogar über eine Seele verfügt, hätte es sicher beklagt, nicht zu dieser Ehre geführt zu werden, wo es doch stets das getan hatte, was man von einer im Wachstum befindlichen Frucht verlangt. Es war das Dilemma aller seelenlosen Nutzfrüchte, trotz wahrer Größe doch als entwertete Verfügungsmasse mit all' den weniger schönen Früchten in einen Korb geworfen zu werden. Selbst jene, die bereits Druckstellen hatten, fanden sich unter den Begleitern des Pfirsichs und obwohl man sagen könnte, dass der Pfirsich dem Schicksal dieser minderwertigen Begleiterschar entkam als er von der Auslage des Bauern den Weg in den Korb einer Löwensteiner Bürgerin fand, wusste er nicht dass die Tage der Sonne und der Pflege dahin waren. Es war der Anfang vom Ende, der unabwendbare Weg zur Schlachtbank der Menschheit, die sich die Natur – und damit auch den Pfirsich zum Untertan genommen hatte.

In der Gefangenschaft einer dunklen Tonne, umringt von weiteren Geiseln der Verfressenheit, fernab des Tageslichts, der fahlen Erinnerung an das unbekümmerte Heranwachsen einer unschuldigen Frucht, die mit nicht mehr als ein paar Stunden Sonne und etwas Morgentau bereits zufrieden war, harrte der Pfirsich aus und erwartete das Ende. In seinen kühnsten Träumen, so er dazu denn fähig gewesen wäre, hätte er jedoch nicht erwartet, wie grausam das Ende auf sie alle herabstürzen würde.

Gleich einem Schwarm von grässlichen Harpyien griffen Hände hinab in das lichtlose Dunkel des hölzernen Gefängnisses und griffen sich, wer sich nicht hinter anderen Vertretern des Fruchtvolkes verstecken konnte. Chaotisch und hysterisch rollten die Früchte durcheinander, aufgewirbelt durch das gierhafte Greifen der gesichts- und emotionslosen Hände, die sie als nicht mehr sahen, was sie waren: Nahrung.

Dort lagen sie also wenig später, ausgebreitet auf einem Tisch, damit sie – die Menschen – sich das Fruchtfleisch beschauen und selbst im Angesicht der Vernichtung der Früchte noch wählen konnten. Trotz seiner Pracht hatte der Pfirsich den Teilgenozid der Baumbewohner bis zuletzt überlebt, obwohl er hatte mit Ansehen müssen, wie man seinen Brüdern und Schwestern das Fleisch vom Kern nagte und letzteren wie eine Trophäe auf den Tisch zurückkullern ließ – ein grässliches Mahnmal des Todes, welches den Überlebenden, vor allem aber unserem tapferen Pfirsich, die Vergänglichkeit allen Seins vor Augen führte.

Er begann Hoffnung zu hegen: Würde dieser Wahnsinn endlich aufhören? Würden sie, mit ihren fetten Bäuchen, bis zum Rand gefüllt mit dem Fleisch seiner Brüder und Schwestern, ihm noch einen Tag Gnadenfrist gewähren? Alle Hoffnung schwand als einer der Männer nach ihm griff, die kraftvollen Hände sich um das Obst schlossen und den felligen Körper des Pfirsichs zunächst nur zwischen den Händen hin und her tauschten, als sei die Vorfreude viel wertvoller als der Akt des Tötens an sich. Worte wurden getauscht und sein Häscher reduzierte die Existenz des Pfirsichs, während er mit dem einst so prachtvollen Obst spielte, auf nicht mehr als den Spielball seines Willens und seiner Güte. Der Pfirsich spürte die wachsende Aggression, den Ärger in den Händen des Mannes und bald schon, war er über die Tischplatte gehoben und die anderen, die mit denen er gesprochen hatte, sahen gebannt auf den Pfirsich. Hatten sie am Ende doch nur seine Pracht bewundern wollen? Hoffnung keimte auf und erstarb im selben Augenlick. Denn die Finger, welche die Frucht umschlossen, begannen das Objekt der allseitigen Betrachtung zu zerdrücken und sich in den Körper des Pfirsichs zu graben. Zu aller Beteiligten Glück fühlt ein Pfirsich keinen Schmerz, noch Trauer, noch kann er seine Unzufriedenheit ausdrücken, denn sonst hätte es nun vermutlich geklungen, als hätte man ein Tier auf äußerst grausame Weise getötet.

Das Ende war gekommen. Die Tage gezählt. Nur um einen Standpunkt zu vertreten, drückte dieser Mann den Pfirsich zusammen und formte ihn zu einem schleimigen, geborstenen Schatten seiner einstigen Pracht. Niemand hatte jemals seine Schönheit bewundert, seine Arbeit honoriert und all' das war nun auch nebensächlich. Er war geschlagen, gebrochen – vernichtet. Niemand am Tisch oder andernorts auf der Welt verschwand einen Gedanken an den Pfirsich, dessen Sicht auf das Leben so einfach und genügsam gewesen war und doch so grausam beendet wurde. Nein, vielmehr störte sich nicht einmal jemand daran, wie sein Henker sich den letzten Rest an Fruchtsaft, seinem Lebenselixir, von der Hand leckte und die Reste der Frucht, entweiht, geschändet und zerdrückt, auf der Tischplatte in Vergessenheit geriet.

Bald schon würden die Lichter in diesem Haus in Löwenstein erloschen sein und nichts weiter zurückbleiben als die längst verblassten Erinnerungen an eine Zeit, in der das Sonnenlicht noch warm auf die Haut der werdenden Frucht schien. Und irgendwo auf dieser Welt, wo es nicht Winter war, wo die Sonne bereits am Himmel stand, keimte vielleicht bereits die nächste Frucht, unwissend, welches Schicksal ihr bevorstand.

[Bild: b029128-Zwerg-Pfirsich-0.jpg]
Zitieren




Benutzer, die gerade dieses Thema anschauen: 1 Gast/Gäste