Katzengold
#1
Linker Fuß, rechter Fuß, stures Geradeausgehen. Lix konnte nicht anders. Die Landstraße war staubig, die Luft flimmerte schon. Unbarmherzig brannte die Sonne unnachgiebig auf einen schwarzen Punkt nieder, der sich immer weiter von Löwenstein entfernte. Lix nieste und fluchte. "Hundedreck, verdammter!" Sie hatte Weingeist vergessen. Es war alles so schnell gegangen. Kurz hatte sie versucht, Verstehen zu erzeugen. Schreiben konnte sie ihm nichts, diese Zeichen verstand er nicht. Zeichnen konnte sie schlecht. An der nächsten losen Diele im Heustadel hatte sie einen Zettel versteckt. Ein Kopf mit langen, fettigen Haaren und einer mit kurzen, schwarzen Locken. Sie schauten sich an auf Lix' Zettel. Froh. War das genug? Sie hatte keine Zeit gehabt, sich keine Minute mehr gegeben, um sich hinzusetzen und sich zu überlegen, was beim Abyss sie da eigentlich gerade im Begriff war, zu tun.

Gehen, gehen, weitergehen.

Lix weiß, sie wird umdrehen. Bald. In ein paar Tagen. Sie würde jetzt umdrehen, wenn sie könnte, aber sie kann nicht. Jetzt gibt es nur Staub, Straße, Sonne. Das ist einfach. Darüber muss man nicht nachdenken. Alles war zuviel. Immer ist sie nur davongelaufen. Sie kennt kein anderes Verhalten, wenn sie nicht weiterweiß. Und sie weiß nicht, wie sie ihm in die Augen schauen soll, so eine Angst hat sie davor, wie sie das alles aus den Angeln hebt. Was tut man, wenn die eigenen Träume wahr sind, wenn man aufwacht? Man hat sie beschützt und bewacht, man hat sich drin verloren. Was tut man, wenn man sich zu klein fühlt für jedes Gefühl? Man will wieder unter dem Stein verschwinden, unter dem man hervorgekrochen ist. Da war man noch unwichtig und bloß ein Schatten. Auf einmal hat man Konturen und wird erkannt. Was tut man dann?

Die Erde ist verbrannt und will Regen. Luft flimmert, Lix flüchtet. Ein Punkt auf der Landstraße. Mehr kann sie nicht sein.
Man, money ain't got no owners. Only spenders.




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#2
Ihn stachen die Bettwanzen. Mürrisch, die Augen noch geschlossen, kratzte er sich am Hintern und hoffte, mindestens einen der Mistkerle zu erwischen. Natürlich waren das keine Bettwanzen, sondern die Flöhe im Stroh, aber erstens kannte er den Unterschied nicht und zweitens wurde seine Aufmerksamkeit schlagartig durch das Schreien eines Hahns geweckt. Knurrend setzte er sich auf, rieb sich die Augen, klaubte sich Stroh aus den Haaren und verfluchte wer auch immer sich da Federvieh in der großen Stadt hielt. Hühner sind was für's Land, für die Bauern und Ravinsthaler und was da so kreucht und fleucht und es sollte ihnen gar nicht erlaubt sein, im Mittelpunkt des Reiches solch einen Radau zu veranstalten.
Herzhaft gähnend streckte er sich, als ihn ein aggressives Grummeln aus seinem Bauch zusammen fahren ließ. Ohne weitere Umschweife sprang er auf und schickte sich an, die Leiter hinab zu steigen. Ein letzter Blick, bevor er den Heuboden verließ, galt dem mörderisch großen Loch in der Wand und in seinem schlaftrunkenen Hirn machte sich die Hoffnung breit, dass sie doch dieses Mal den richtigen Weg nach unten gewählt haben möge.
Der Brief indes blieb vorerst unbemerkt.

Schnorren, Betteln, Klauen, Tricksen, Zuhören, Wegrennen. Dieselbe Routine wie jeden Tag. Nicht gerade angenehm, aber Hemmungen waren dahin gehend längst abgelegt wie alte, löchrige Schuhe. Ein paar mitleiderregende Blicke hier, ein vorgetäuschtes Humpeln da, eine dreiste Lüge nach der anderen auf den Lippen und am wichtigsten: Flinke Finger und eine kleine, scharfe Klinge die man leicht in der Handfläche verbergen konnte. Die Ausbeute war mager, wie er selbst, doch es würde genügen, ihn über den Tag zu bringen. Von den anderen hatte er den ganzen Tag schon keinen gesehen, nur Nara hatte er, zu seiner Überraschung, im Heilerhaus gefunden. Gut, dass er sonst niemanden fand war erst einmal nicht weiter verwunderlich, aber zumindest im Haus ließ sich normalerweise immer einer auffinden. Auch sie war nicht da. Dem merkwürdigen Gefühl im Bauch schenkte er dabei kaum Beachtung, schob es auf den Hunger.

Erst am Abend kehrte er zu dem Heuboden zurück, mittlerweile in Gedanken versunken. Die Abwesenheit der anderen und vor allem ihre Abwesenheit verwirrten ihn. Hin und her geworfen zwischen leichter Sorge und milder Verärgerung, warf er sich ins Heu, steckte sich einen Halm in den Mund und begann darauf herum zu kauen. Die Gedanken drehten sich immer mehr im Kreis. Ging sie ihm aus dem Weg? Taten die alle irgendwas, zu dem sie ihn ausschlossen? Was war da los?
Zornig spie er den Halm aus und starrte ihm hinterher um zu sehen, ob wenigstens sein Spucktalent ihn nicht im Stich ließ. Der Helm beschrieb eine eigenartige Kurve in der Luft und landete neben etwas, was er nicht genau ausmachen konnte, da es von ein wenig Heu überdeckt wurde. Er beugte sich vor und griff danach, ertastete Papier. Mit gerunzelter Stirn zog er es aus der Diele und entfaltete es.
Lange saß er so da, versuchte den Sinn der Zeichnung zu erfassen. Dann wanderte sein Kopf langsam zu der Leiter. Mit verkniffene, Gesicht stieß er ein paar gezischte Worte hervor, ehe er aufstand und sich, inmitten der von Straßengeräuschen erfüllten Nacht, auf eine erfolglose Suche machte.
"Oh, du miese blutpissende Arschgeb...!"
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#3
Die Möwe starrte auf das schwarzglänzende Nest vor sich. Sie war verwirrt. Schon eine Weile lang hatte sie wellenschaukelnd ausgeharrt und das Nest beäugt. Es war ihr nicht geheuer. Das Ding zu dem es gehörte rührte sich immer wieder. Das Nest tauchte manchmal unter. Wenn es wieder hochkam, spuckte es Wasser. Die Möwe flatterte pro forma einen halben Meter weiter. Sie wäre ja ganz weggeflogen, aber da war noch immer dieses Nest. Es wiegte sich im Wellenrhythmus und schien zu rufen: "Ich bin bequem und trocken! Setz dich rein! Bin wie für dich gemacht!"

Möwen. Die waren wirklich nicht der Rede wert. Schmeckten nach Algen, Salz und verrottetem Fisch. Die hier war auch noch alt. Angestrengtes Kauen übertönte beinahe das nervtötende Grillenkonzert. Lix saß vor ihrem kümmerlichen Feuer und stocherte lustlos in der Asche. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Nachts verließ sie die Straßen. Da trieben sich nur Wegelagerer und hungriges Diebespack drauf herum. Anständige Leute saßen nach Einbruch der Dunkelheit an ihren Herdfeuern und sperrten die Nacht aus.

Sie hatte allerdings auch kein Bedürfnis, irgendjemandem von denen am Tag zu begegnen. Wenn sie die leisesten Kennzeichen von menschlichen Schritten oder Hufgetrappel vernahm, schlug sie sich in die Büsche. Sie gab mittlerweile ein bemerkenswert entsetzliches Bild ab. Zerkratzte Arme, Beine, Wangen, eingefallene Wangen, starrer Blick. Lix war es nur recht, wenn die wenigen Menschen, denen sie doch nicht ausweichen konnte, die Straßenseite wechselten. Am Tag zuvor hatte ihr einer ins Gesicht gestarrt. Sie hatte sofort größere Schritte gemacht und sich an der nächsten Biegung im Gestrüpp verborgen. Sie war fast sicher, die Hakennase des Wanderers schon einmal verspottet zu haben. Ein Markthallenlieferant? Hafenarbeiter? Verdammt. Er hatte sie auch erkannt.

Der Rest der zähen Möwe zerfiel in verkohlte Stückchen. Die wagemutige Jägerin starrte ins glimmende Nichts zwischen dunkler Erde und Geäst. Sie brachte es nicht über sich, seine Hälfte aufzuessen. Das war gegen den stillen Kodex. Auch wenn er mehrere Tagesmärsche entfernt war.

Nacht senkte sich über Sträucher, Gestrüpp und Wiesen. Das war die schlimmste Zeit für Lix. Sie hätte niemals laut gesagt, warum sie sich dann flach auf den Boden drückte und sich die Ohren zuhielt, aber die Wahrheit war, dass kalte, nackte Angst sie dann im Klammergriff hielt. Für ein Landstreicherleben, mutterseelenallein auf weiter Flur, war sie nicht gemacht. Ihr Wiegenlied war die Kakophonie der Straßen, das Gezeter von Wirten, das Krakeelen der Besoffenen und das gelangweilte Gestöhne der Dirnen. Ihr Weckruf war Rins Krähen, Shins dröhnender Gruß oder das Meckern des Peckmanschafs. Hier gab's nur Wolfsgeheul, Eulengeuhe und das Sirren der Stechmücken. Gefahr kam von allen Seiten und man konnte nie sicher sein, ob man die nächste Nacht überleben würde.

Lix erstellte Geräuschkataloge im Kopf, während sie zusammengekrümmt daliegend auf den Morgen wartete und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als die Bilder. Die Bilder waren klarer als alles, was sie seit sieben Tagen getan hatte. Armenviertel. Herumschleichende Lumpen hinter dem Wagen. Kein Tropfen Wein, Met oder Schnaps. Geballte Aufmerksamkeit. Hände, die sich fanden. Schwummriges Bauchgefühl und wattiger Kopf. In all dem Wundern eine Selbstverständlichkeit, als hätte es schon immer Hände im Nacken gegeben und Küsse und ihn.

Sie übte zum fünfzigsten Mal, Gesicht der Erde zugewandt, Ohren vor Nachtgeräuschen beschützt: "Sag nix. Hör zu. Ich weiß, du hältst mich für gestört. Das war auch wirklich gestört. Man haut nicht einfach ab. Hab's nicht aus Bosheit getan, das musste mir glauben." Scheiße. Das war völlig lahm so. Einfach tun als wär nix? Tun als wär das ihre lässige Art, einfach mal abhauen ohne Nachricht an irgendwen? Hingehen und ihn abschmusen, alle Schuld von sich weisen? Ginge, wenn's nicht Julias wär. Einer, der verstand, was die Straße einem abverlangte. Einer, dem Solidarität bei den Eigenen über alles ging. Der seine eigenen Dämonen im Zaum hielt, mit Laudanum und ohne. Der zu wichtig war, um verdient hätte, für dumm und dämlich verkauft zu werden. Irgendwie musste sie Worte finden, mit denen sich erklären ließ, dass sie eine Scheißangst davor hatte, irgendwem nah zu sein, weil sie so fürchtete, was passieren würde, wenn das wieder aufhörte. Dann lieber selber im ersten Panikmoment den Hut genommen und den Überraschungsmoment genutzt. Das war erst recht dumm und dämlich, wie sie sich auf die Weise selber um Möglichkeiten brachte, aber so war das. Zack, Karten auf den Tisch.

Erstes Licht fiel auf die Wiesen. Sie war schon länger auf den Beinen. Es war Zeit, dass diese Farce endete. Verstecken war nur was für Verlierer.
Man, money ain't got no owners. Only spenders.




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#4
Ein Gutes hatte es: zwar schwitzte er gewaltig in der Mittagshitze, aber der Dreck auf der Straße war so fest gebacken, dass sich leicht mit einem Stöckchen darin zeichnen ließ. Von Zeit zu Zeit klopfte er den Dreck wieder glatt, wenn ihm die Zeichnungen doch nicht zusagten und begann von neuem. Fast würde man ihm die gewaltige Anstrengung nicht ansehen, die diese Arbeit von ihm erforderte, würde er nicht gelegentlich die Zungenspitze zum Mundwinkel raus schieben oder die Wangen aufblähen, nur um kurz darauf erschöpft zu seufzen. Das lag daran, dass die eigentliche Arbeit in seinem Kopf statt fand.
Gerade stellte er eine Zeichnung fertig, die jeder Zehnjährige mit mehr Kunstfertigkeit und Niveau erschaffen hätte. Sie zeigte ein Strichmännchen mit ausgeprägten sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Zwei diagonale Striche kreuzten sich darüber.
Die zweite Zeichnung war offenbar ein Haus mit einem Loch im Dach.
Die dritte Zeichnung wurde mehrfach platt geklopft und neu begonnen, bis zwei "U" offenbar die Zustimmung des Künstlers fanden.
Es folgte das Bild eines Strichmännchens mit einem U in der Hand, genauer gesagt an dem Strich, der wohl einen Arm darstellen sollte.
Dann wieder ein übertrieben deutlich als Frau zu erkennendes Strichmännchen mit einem Pfeil, der davon weg zeigte.
Hier schien er eine Weile zu überlegen, entschied sich dann aber für Simplizität und malte einfach nur ein paar senkrechte Wellenlinien in den Dreck.

Nachdenklich kratzte er sich, sein Werk betrachtend, mit der Stockspitze am Kiefer, wobei er einen schmutzigen Streifen hinterließ. Fertig war er noch nicht, aber irgendwie kam er nicht drauf, wie es weiter gehen sollte. Nur der Schluss stand schon fest. Gedankenverloren griff er zu der kleinen Flasche, die er sich in die Schuhe gesteckt hatte, öffnete und trank. Einen Moment lang bereute er die Entscheidung. Es war eh schon heiß, da wurde es fast unerträglich, wie ihm nun die Wärme die Kehle runter floss. Aber es brachte ihn auf eine Idee.
Er malte etwas, das mit viel Fantasie als Schuh durchgehen könnte, zumindest dann, wenn man einen Schuh flach auf ein Stück Holz nageln würde.

Der Stock wurde in den Boden gerammt und noch ein Zug aus der kleinen Flasche genommen. So! Jetzt war es gut! Er nahm sich ein paar Minuten, um sich die Bilder auf dem Boden gut einzuprägen, bevor er sie wieder platt trampelte. Sollte bloß niemand auf die Idee kommen, ihm sein Lied zu klauen.
Er ging von dannen, ein Lied auf den Lippen und wer lauschte konnte vermutlich das ein oder andere Wort davon mitbekommen.

"... ich klag nich', dass die Alte ging
die fing eh schon an zu stinken
Ich find noch Schnaps in meinem Strumpf
und trinke, trinke, trinke ..."
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