Von Drecksspatzen und Elsterköniginnen
#1
"Dürste ... dürstete ... hatte Durst? Ach, so ein blöder Mist!" Er warf einen Dreckklumpen nach ein paar nahen Vögeln, die in dem Matsch vor dem Lagerhaus, dessen ausladendes Dach er sich zur Schlafstatt erkoren hatte, nach Essbarem pickten. Es war zwar schon helllichter Tag und das Grummeln in seinem Magen erinnerte ihn schmerzlich daran, dass er schon zu lange dem Müßiggang nachging, aber er war eifrig, einen Reim zu finden. Dieses blöde Lied musste fertig werden. Den Blick auf die Vögel gerichtet, die nach kurzer Zeit zurück kehrten, um weiter den Dreck zu durchwühlen, bewegte er stumm die Lippen, während er im Kopf verschiedene Worte durch ging.
Vielleicht sollte er einfach Irik fragen. Der wüsste sicher sofort einen Reim. Vermutlich wüsste er das ganze Lied sogleich zu verbessern. Hier eine Betonung lang ziehen, da deine Silbe mehr. Dann würde er Julias` Zettel nehmen, auf den er Symbole malte, um sich an die Verse zu erinnern und würde alles sauber aufschreiben, in seiner schönen feinen Schrift, wie all die schönen feinen Herren.
Er seufzte. Nein, er würde Irik nicht fragen, so sehr er ihn auch mochte und seine Meinung zu schätzen wusste. Dann wäre das Lied nicht mehr Julias` Werk. Stattdessen malte er einmal mehr die Symbole in den Matsch, mit einem Stück Holz, das er aus einer der Latten des Schuppen gebrochen hatte. Ein leerer Becher, ein leerer Beutel, ein voller Beutel ... natürlich konnte man keines der Symbole erkennen, aber für Julias reichte das, um sich die Worte wieder in Erinnerung zu rufen.
Nach einer Weile gab er das Malen der Verse wieder auf und lehnt sich zurück, die Arme hinter dem Rücken verschränkt. Als Kissen diente ihm der Sack, den dieser Mann von der Kirche ihm gab, voll mit Kleidern und einem Stück Seife. Alles noch immer unangetastet, dabei war es nun schon einige Tage her, dass er Julias` und Lix damit beschenkt hat, ehe er sie von dem Marktplatz vertrieben hatte.
Lix, da war was. Sie hatte ihm doch ein Hinweis gegeben, wie man am besten reimte. Wenn er sich nur dran erinnern könnte. Irgendwie war der Abend im Rausch von Alkohol und Laudanum verschwommen und er hatte nur vor Augen, wie sie auf dem Tisch stand, mit dieser Zahnlücke mitten im Gesicht und aus dem Stehgreif ein Liedchen erfand. Manche können`s einfach. Ungerecht so was.
Ah, das war es! Die schwierigen Wörter sollten in die Mitte, die einfachen an den Schluss. So einfach konnte es sein. Dann würde er sich keine Sorgen mehr um das blöde 'dürstete' machen müssen. Schnell beugte er sich zur Seite um, bewaffnet mit einem selbstzufriedenen Lächeln und dem Holzsplitter, ein paar Symbole dazu zu zeichnen.

Es war ein paar Stunden später, dass Julias sich vor dem Unterschlupf der Bande wieder fand. Der Gedanke daran, wie Lix ihm nun indirekt beim ausdenken des Liedes geholfen hatte, hatte ihn her getrieben. Natürlich würde er nicht rein gehen. Nicht, solange diese Wahnsinnige mit dem Messer da drin herum lief, die, von Lix' und Kats bösartigem Streich angetrieben, ihn fast abgestochen hätte. Dennoch musste er ein wenig schmunzeln. Zack, Klatsch! So einfach hatte er sie umgehauen! Hier, Zack! Und da, Zack! Und noch eine, Zack! Mancher würde sich sicher über den Herumtreiber wundern, der dort in Gedanken versunken triumphierend in die leere Luft boxte. Ihm konnte es egal sein, er hatte dieser eklen Feuchtwarze gezeigt, wo der Hammer hängt. Dennoch ... rein gehen würde er nicht. Allerdings war der Tag schon lang geworden und bislang hatte er noch nichts zu Essen auftreiben können und allmählich wurde das normale Grummeln im Bauch zu einem unangenehmen Ziehen. Aus Erfahrung wusste er, wie schmerzhaft Hunger noch werden konnte. Er rieb sich den Bauch, den Blick auf das Haus vom Peckman gerichtet. Sicherlich köttelte darin noch immer das Schaf auf den Teppich, während der Hausherr auf seinem Thron ruhte. Kurz schlich sich ihm der Gedanke in den Kopf, einfach zu klopfen und nach Essen zu fragen, aber vermutlich würde er nur ein paar Backpfeifen beziehen. Man ging, zurecht, nicht gerade glücklich auseinander. Selbst von Pipp, der ihm noch Arbeit angeboten hatte, konnte er wohl nichts erwarten. Da war er vermutlich etwas zu forsch mit Johanna gewesen ... Hach, Johanna.
Verträumt schlurfte Julias zum Marktplatz, wobei er schlafwandlerisch den Menschen auf der Straße auswich. Oft genug bekam eine verlumpte Erscheinung, wie er es war, einen Tritt, wenn sie nicht schnell genug aus dem Weg verschwand. Seine Gedanken jedoch kreisten immer wieder um dieses eine Gesicht. Er hatte Johanna nicht wirklich oft gesehen und ein mal davon war er ziemlich berauscht gewesen. Aber das Gesicht war so hübsch und die war so nett. Teilte sogar ihr Essen mit ihm. Irgendwie ließ ihn das nicht los. Keine Almosen. Er brauchte eine Weile sich einzugestehen, dass er sich ein bisschen verguckt hatte. Dass er nichts von ihr wusste, außer ihrem Namen, machte ihm nichts aus. Er war schon immer gut darin gewesen, Dinge zu beschaffen, und wenn es Wissen über eine Person war. Julias und die Elsternkönigin. Der Gedanke gefiel ihm. Vielleicht ließ sich Lix ja irgendwie dazu überreden, ihm bei seinem Vorhaben zu helfen ...
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#2
"Von der Kante, du Holzkopf, von der Kante! Nicht früher. Und dann richtig - Zisch! Verstehste?!" Verdeutlichend wippte er dazu auf den Zehen. Die Worte kamen ihm ein wenig verwaschen aus dem Mund, doch er war sicher, Lix würde es nicht bemerken. Er hatte sich unter Kontrolle, konnte sogar mit seiner Mimik gut lügen. Dabei belog er sich gerade damit sehr wohl selbst.
Die Haare fettig, die Augen rot und tief in den Höhlen, die Hände von einem leichten Zittern geschüttelt. Ja, Julias belog sich selbst, wenn er sagte, keiner würde seinen Rausch bemerken.
Er zeigte ihr mindestens zum zweihundertsten mal, wie sie zu springen hatte und erntete dafür, mindestens zum einhundertneunundneunzigsten mal, enerviertes Augenrollen. Aber was sprang sie auch so stumpfdumm? Er hatte ihr nicht umsonst gesagt, dass sie weit springen musste. Aus Spaß schaffte er selbst den Sprung auch nicht, aber wenn er gejagt und in Angst war, dann, ja dann, machte er den Satz mit links.

Anfangs war er recht oft bei ihr, schwatzte über dies und das, erzählte von den Dingen, die er sich erbettelte, zeigte stolz gestohlene Kleinigkeiten und prahlte mit Gossengaunereien. Er gab sich durchaus Mühe, sie zum Lachen zu bringen und so wenigstens ein bisschen den Schmerz zu vertreiben, der sie noch immer ans Heilerhaus fesselte. Er blieb eine Weile, nie sehr lang. Immer nur gerade so lang, bis sich die Heiler begannen für seine Anwesenheit zu interessieren. Dann verdrückte er sich meist so hurtig und unangekündigt, wie er auch zu Besuch herein wehte und dabei den vertrauten Geruch von Straße mit brachte. Doch die Besuche wurden seltener und mit immer größeren Abständen dazwischen. Er war sich Lix' Unmut darüber bewusst, aber wenn er ganz ehrlich war ... er dachte einfach nicht mehr so oft daran, zu ihr zu gehen. Er war in Gedanken ganz wo anders. In letzter Zeit hieß das, dass er oft, wie auf Flügeln über den Wolken schwebte. Ganz und gar eingehüllt in Daunen, euphorisch und taub für das Unbill der Welt. Weich und gehalten. Elsterndaunen?
Sein Problem dabei war nur, dass diese ganz spezielle kleine Phiole schon wieder leer war und er sie bald wieder würde bei seinem Freund auffüllen lassen müssen. Gelegentlich war er im Haus der Bande gewesen, aber es war nie jemand da gewesen. Nur ein Stapel Papier mit Worten drauf, die prominent auf dem Tisch lagen. Ihm war nicht klar, wie wichtig diese Worte waren und es scherte ihn auch nicht. Lesen konnte er nicht und er machte sich nicht die Mühe, nach den anderen zu suchen. Dafür stand er viel zu sehr neben sich. Genau so wenig hatte er sich um Shins Auftrag bemüht. Dabei war er anfangs durchaus willens dem nachzukommen, ja, hatte sogar tatsächlich einige male seine Schritte durch das Armenviertel gelenkt. Später dann aber nur noch, weil er betäubt durch die Gegend schlich und es nicht mehr mit bekam, wo er sich gerade aufhielt. Genauso wenig bekam er mit, wie ihm, als er das Heilerhaus dann nach dem kürzesten Besuch bislang, der Atem stockte. Nicht im übertragenen Sinn, sondern ganz real. Er wusste, dass die Gefahr bestand. Er wusste, dass viele an dem Teufelszeug starben, weil sie dazu soffen. Und er wusste, wie glücklich sie verschieden. Zumindest hätte er es gewusst, wäre er bei klarem Verstand gewesen. Vielleicht hätte er dann nicht gesoffen. Vielleicht hätte er bemerkt, dass keine Erstickung glücklich ist.

Was sein Leben rettete war der Dreck der Straße, der Schmutz, die Exkremente, der Abfall Löwensteins der ihm so sehr in der Lunge stach, nachdem er sich auf die Straße erbrach. Durch den Dunst des Rausches kam ein kurzer, heller Moment aus Gestank und Julias wurde gezwungen, beherrscht zu atmen, bis er sich an einem ruhigen Ort und außer Gefahr wieder fand. So beherrscht, wie er es sich selbst und anderen nie hätte vor machen können.
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