Ein Herz aus Gold
#1
Die Tür fiel schwer ins Schloss und Matilda erstickte ihr eigenes, stark beschleunigtes Atmen mit einem geistesgegenwärtigen Griff zum nächsten Kissen. Kein Lauscher sollte Gelegenheit bekommen, sie bei einer derartigen Entgleisung zu erwischen. Dreimal sollte sie in dieser Nacht noch aufstehen und an der Türe rütteln, so sehr narrten sie ihre Einbildungen und so stark war der Drang, sich von ihrer eigenen Sicherheit zu überzeugen. Wie bei alle Tyrannen lauerte auch bei ihr die Angst, im Schlaf erdolcht zu werden, stets am Rande ihres Bewusstseins. Sie war heute Abend ins Zentrum desselben katapultiert worden.

Mit umklammertem Kissen lag sie da, Frisur makellos, angespannt und verbissen. Neben ihr ruhte ein kerzenloser Kandelaber, den sie zu benutzen gedachte, sollte ihr vermeintlicher Schlummer gestört werden. Hatte man ihr also doch noch einen Leibeigenen geschickt. Ihre Briefe in letzter Zeit mussten selbst felsharte Herzen wie das ihres Vaters und Onkels erweichen können, davon war sie überzeugt gewesen. Seit Wushinwus äußerst unglücklichem Dahinscheiden hatte Matilda mühselig versucht, sich in der Hauptstadt zu behaupten.

In grausigsten Farben hatte sie ihren Anverwandten geschildert, wie dreckig und gefährlich die Hauptstadt Amhrans war. Von blutrünstigen Kämpfen zwischen Stadtwache und dem Orden der schwarzen Adler war da zu lesen, von Sittenverfall in den Gaststätten und genereller Manierlosigkeit an allen Ecken und Enden. Besonders aber hatte sie ihre Feder für die Darstellung eines Lebens ohne Leibeigenen genutzt. Über lange Absätze hinweg stellte sie sich als brave Guldenkron dar, die ihr mithrasverliehenes Schicksal mit hocherhobenem Haupt zu tragen wusste, während um sie herum die pestverseuchten Kanäle Löwensteins flossen und todkranke Straßenkinder ihr zu Füßen lagen, weil sie wie ihr erlösender Engel durch das Armenviertel schritt und ihren Kummer mit ein paar Brotstücken zu erleichtern wusste. Dabei achtete sie sehr darauf, keine Geldgeschenke zu erwähnen – ihre Familie goutierte Mildtätigkeit nur, wenn ein rascher Nutzen abzusehen war. Den wusste sie natürlich zu betonen. Die Kirche bedankte sich für Matildas selbstlosen Einsatz mit zahllosen Dankesworten vor den Predigten – so stand es in ihren Episteln. Ein, zwei Tränchen waren geflossen, als Matilda ihre dramatischen Ergüsse las und für einen Moment selber glaubte, was sie daherfabuliert hatte. Niemals hätte sie nur einen bekalbslederschuhten Fuß nur in die Nähe des Armenviertels gesetzt.

Ohne familiäre Korrektur zu leben, hatte seine Vorteile. Sie versuchte jedoch, geschickt zu verschleiern, dass ihre Studien zur Hermetik gerade einmal einen Tag gedauert hatten. All ihr Geld war in eine neue Garderobe investiert worden, in Wein, Schmuck und teures Essen. Sie war so von sich überzeugt, dass sie in dem Glauben angekommen war, sich ohnedies nicht lange anstrengen zu müssen. Mit einem Gesicht wie dem ihren müsste es doch möglich sein, einen vielversprechenden Ehemann zu finden, der jegliche Erwähnungen von Studien oder Arbeit mit einem großzügigen Lächeln abtun würde, sie zum nächsten Juwelier kutschieren würde und dessen größte Freude es sein würde, ihren Hals mit wunderschönen, glänzenden Diamanten zu bestücken. Das war jedoch komplizierter, als sie gedacht hatte. Das Problem, so erkannte Matilda bald, war einfach, dass niemand gut genug für sie war. Anstatt ihre Erwartungen dementsprechend anzupassen, entschloss sie sich, dass Verzögerungstaktik angebracht war. Zunächst jedoch brauchte sie jemanden, der ihren Beutel wieder schwerer machen konnte.

Wushinwu, der kriecherische Leibeigene, der sie herbegleitet hatte, fiel einem unschönen Schicksal zum Opfer. Matildas Geduld mit Bediensteten war noch nie wahnsinnig ausufernd gewesen. Als Kind gaben sich ihre Zofen die Klinken in die Hand. Das blonde Mädchen mit dem Engelsgesicht hatte ihre Mutter seit jeher in allem nachgeahmt. So lebte sie in der festen Überzeugung, dass niedere Menschen, die ihr zu Dienste waren, leicht ersetzbar sein sollten. Wenn sie mit einem unschuldigen „Ich hab die Zofe kaputtgemacht, Vater!“ auf den Schaukelstuhl ihres Vaters kletterte und ein wenig mit den Wimpern klimperte, wenn er über seine Halbmondgläser schaute und sie nur milden Tadel, eingelullt von endlosem Wohlwollen, erntete, dann war es doch auch kein Verbrechen, einem schlechten Leibeigenen einen Schubs zu geben. Es war seine eigene Schuld, wenn er dann fiel.

Matildas Unruhe stieg etwas, als sie meinte, aus den letzten Zeilen ihres Vaters Ungeduld herauszulesen. Sie brauchte einfach mehr Zeit. Es schien ihm wohl gedämmert zu haben, dass der Wahrheitsgehalt ihrer lässig hingeworfenen Akademiegeschichten zu hinterfragen war. Er deutete an, ihren wenig geliebten Bruder nachzuschicken.

Stattdessen war es ein anderer, der ihr dann in der Kirche gegenübergestanden hatte. Ein bulliger anderer, der sie um mindestens einen Kopf überragte. Ein stoischer Klotz, der schwer aus der Fassung zu bringen war, so sehr sie auch ihr herrischstes Gehabe an den Tag legte. Am Ende hatte sie es doch geschafft, eine unkontrollierte Reaktion hervorzurufen.

Als sie die Zähne aufeinanderbiss und weiterlauschte, verließ sie jäh die Sicherheit, ob die Provokation die Konsequenzen wert war…
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