Ein neues Leben im Glanz der Sonne
#1
Ein warmer Westwind kam auf und umspielte blondes Haupthaar, dessen Strähnen ein von der Sonne gebräuntes Gesicht umrahmten.
‚Ein Segen Mithras‘, nannte er selbst seine von Natur aus eher dunklere Haut. Für ihn war sie von seiner Kindheit an ein Zeichen für ein Leben im Einklang mit den Geboten und der Ordnung des einen Wahren, des Sonnengotts. Seine smaragdgrünen Augen wanderten für einige Momente ziellos umher, als er vor der Kirche stehend wartete. Theresia, seine Kameradin war vor einer Stunde losgezogen, um ihnen beiden ein bescheidenes Abendmahl zu ergattern, während er sich bereit erklärt hatte, die die Ausrüstung der beiden auf Vordermann zu bringen.

Es war ein anstrengender erster Tag unter dem Banner der Sonnenlegion gewesen. Sie waren voller Vorfreude erwacht, als die ersten Sonnenstrahlen die obere Balustrade ihrer neuen Heimat aus den Fängen der Nacht befreiten und hatten noch vor den anderen Novizen mit ihren morgendlichen Gebeten begonnen.
„...Dein sei unsere Hoffnung und Dankbarkeit auf alle Zeit, in Ewigkeit.“, waren die letzten Worte, die ihnen beiden über die Lippen traten, ehe sie sich für den Tag rüsteten und in den Speisesaal gingen.
Und so verbrachten sie ihren ersten Tag in der Legion mit dem Einleben in den Alltag – geprägt von theoretischem Unterricht über die Basislehren des Mithras‘. Erst am frühen Abend wurde ihnen beiden eine erste Pause gegönnt.

Ambriel blickte noch einen Moment zum Himmel hinauf, ehe er seine Gedanken wieder ordnete und sich auf seine eigentliche Aufgabe besann. Seine Hände ergriffen das Tuch, welches über den Hocker zu seiner Rechten gelegt war und tauchte es vorsichtig in das heilige Öl, welches zur Pflege der Schwerter verwendet wurde.
‚Segne diese Klinge, oh erhabener Mithras, auf dass ich führen werde, wie eins Larrik sein machtvolles Schwert.
Schenke mir dein Licht und lass‘ es durch diesen Stahl fahren, auf dass es im Inneren deine Kraft entfaltet, wie eins in den Lichtklingen von Mydrion und Thanos.
Gib mir die Kraft, die notwendig ist, um all die Dunkelheit und all das Übel dieser Welt zu vertreiben und Dein Antlitz in das Herz jedes Mannes und jeder Frau zu tragen.‘

Diese stillen Gebete begleiteten Ambriel während seiner Arbeit. Mit stoischer Ruhe ölte er jeden Quadratzentimeter seiner und Theresias Klinge ein, ehe er sie in ihre verzierten Scheiden zurückschob. Erneut wanderte sein Blick unbewusst gen Himmel und seine Gedanken schweiften ab, ergaben sich der Hoffnung, dass der Sonnengott ihn eines Tages mit seinem Licht erhellen und ihm sein wahres Schicksal offenbaren würde. Das sachte Lächeln kehrte in seine Gesichtszüge zurück und er schloss einen Moment die Augen. So verharrte er für einige Minuten, bis er hinter sich die Stimme Theresias vernahm, die sich ihm mit einem kleinen Korb still und leise genähert hatte.
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#2
Die Klinge fiel auf ihn hernieder, nur mit Mühe konnte er den schwungvoll geführten Schlag parieren. Seine Gedanken fielen immer wieder auf den gestrigen Abend. Theresia und er hatten ihr Abendmahl im Schein der untergehenden Sonne verzehrt, als ein Jugendfreund von Ambriel um die Ecke schritt und kurz innehielt. Sein Blick fiel auf Ambriel, zielgerichtet schritt er nun auf diesen zu.
„Guten Abend, Ambriel. Wie ich sehe, hat sich das Gerücht bewahrheitet.“ Der Freund lächelte ihm zu und blickte kurz, aber freundlich zu Theresia, ehe er sich wieder Ambriel zuwandte. Seine Miene verfinsterte sich etwas, ehe er mit gesenkter Stimme fortfuhr.
„Es geht um Deine Eltern, Ambriel. Sie baten mich, dass ich auf meinem Heimweg kurz bei Dir vorbeischaue. Sie haben bereits vermutet, dass ich Dich hier finde, nachdem auch sie von dem Gerücht Wind bekamen. Sei doch so lieb und besuch sie heut Abend. So wie ich es verstanden habe, möchten sie mit Dir über Deinen Beitritt in der Legion sprechen.“
Bei diesen Worten änderte sich auch Ambriels Gesichtsausdruck, ähnelte nun mehr dem des Freundes. Mit zusammengezogenen Augenbrauen nickte er nur knapp und erwiderte einige Worte des Dankes und des Grußes. Er blickte kurz zu Theresia, die den beiden stumm gelauscht hatte und stieg langsam die Treppe hinab, auf der sie gestanden hatten. Sowohl Theresia, als auch der Freund, blickten ihm einige Augenblicke nach, ehe er ihren Blicken entschwunden war.

Zielstrebig, aber doch langsamer als es ihm möglich gewesen wäre, schritt er gen Altstadt. Das Stadtbild änderte sich und er erkannte die gewohnte Architektur seiner Nachbarschaft, während er sich immer weiter dem Elternhaus näherte. Ein paar Kinder kamen aus einer Seitengasse neben dem Theater gerannt, hatten sich alte Tücher um Leib und Kopf gebunden und schienen irgendein Stück nach zu spielen, dass Ambriel nicht kannte. Doch war es für ihn in diesem Moment auch nur eine unbedeutende Ablenkung, denn seine Gedanken waren auf seine Eltern gerichtet. Er wusste nur zu gut, was sie zu ihm sagen würden, denn schon früher hatte er versucht ihnen klar zu machen, worin er seinen Lebensinhalt sah. Und dieser bestand nicht aus dem bescheidenen Leben eines einfachen Händlers.

Der Duft von Kohlsuppe und geschmortem Fleisch stieg seiner Nase entgegen, als er am Nachbarshaus seiner Eltern vorbeischritt. Die dort ansässige Schneiderin liebte Kohl, trotz seines eher zweifelhaften Geruchs, sobald er gekocht wurde. Dennoch war es ein vertrauter Geruch und mit einem Schlag fühlte Ambriel sich wieder wie ein zehnjähriger Junge, der etwas Dummes angestellt hatte und sich nun innerlich auf die Schelte des Vaters vorbereitete.

Er zögerte einen Augenblick, als er die Türschwelle betrat – seine Hand hielt kurz vor dem Klopfen inne. Ambriel richtete sich auf, wappnete sich für die bevorstehende Schlacht und wollte erneut die Hand zur Tür heben, als diese von innen geöffnet wurde.
„Guten Abend, mein Sohn.“, erklang die Stimme seiner Mutter aus dem Zwielicht des Hauses. Obwohl die Stimme von Natur aus sanft und gutmütig war, fuhr sie wie ein Splitter direkt in sein Herz. Ihre dunklen, fast schwarzen Augen suchten die seinen und langsam, direkt zögerlich schritt er auf sie zu, umarmte sie und erwiderte murmelnd ihren Gruß. Gemeinsam schritten sie in die Wohnküche. Sein Vater saß über eine Tasse mit dampfendem Tee gebeugt und schien seine Ankunft ebenso erwartet zu haben, wie die Mutter. Im Gegensatz zu ihr jedoch sagte er nichts, sondern blickte nur stumm aus dem Fenster.

„Mithras zum... Guten Abend, Vater.“ Er stockte, als er wie gewohnt grüßen wollte, hielt aber ob des offensichtlichen Grunds für das folgende Gespräch. Es war nicht so, dass seine Eltern nicht Mithras gläubig waren, er wollte lediglich kein Öl ins Feuer gießen. Der Vater blickte weiterhin zum Fenster hinaus.

„Du hast Dich also doch für ein Leben als Kirchenkrieger entschieden.“, sprach er mit einer tiefen und kraftvollen Stimme, die vom Alltag im Marktviertel geprägt war. Es war keine Frage, eher eine Feststellung, die in Stein gemeißelt schien. Und doch klang seine Stimme so, als wolle er mit ihr diesen Stein zerschmettern und dem Sohn zeigen, dass er noch immer sein Vater und das Familienoberhaupt war. Ambriels Blick haftete auf dem grob gezimmerten Holztisch, der an der Wand der spärlich eingerichteten Küche stand. Anders als bei ihrer Nachbarin roch es hier nach altem Brot und dem Käse, von dem noch ein letzter Rest neben dem Küchenofen auf einem kleinen Beistelltischchen lag. Der Vater fuhr fort, ohne Ambriel eine Gelegenheit zu geben, zu antworten.
„Ich dachte, ich hätte mich damals schon deutlich ausgedrückt, als wir über die Legion sprachen. Wir sind keine Krieger, Sohn, sondern Händler. Das waren wir schon immer und werden es auch immer sein.“
„Vater, ich... .“ Der Vater wandte den Blick nun seinem Sohn zu und unterbrach ihn mit einer harschen Handbewegung.
„Nein!“, brach es aus ihm hervor. „Ich werde mir nicht nochmal Deine Geschichten von Hexen und Dämonen anhören. Im Krieg gibt es keine Heldentaten und jedes Leben, dass Du nimmst, wird auf ewig auf Deiner Seele lasten, auch wenn Du glaubst, dass es im Guten geschieht!“
Die Stimme des Vaters war laut, selbst die Nachbarn dürften seine Stimme durch die dünnen Fenster hindurch vernehmen.
„Ich habe Dich nicht aufgezogen und Dich das Handwerk des Händlers gelehrt, um es einfach so weg zu schmeißen und mit anzusehen, wie ein irrer Hexer oder irgendein Verbrecher aus Indharim Dich verstümmelt oder schlimmer noch gar tötet.“
Das Gesicht des Vaters war rot vor Wut und doch sah man die Sorge in den grünen Augen, die schon mehr gesehen zu haben schienen, als er jemals hätte zugeben wollen.
„Du wirst morgen früh zu Deinem Vorgesetzten gehen und Deinen Austritt aus der Sonnenlegion erbitten! Du wirst wieder in das Zimmer ziehen, das wir Dir monatlich bezahlen und Du wirst wieder ein Teil dieser Familie werden und Dein Erbe antreten, wie es sich für einen Weißkreutz gehört!“
Seine Brust hob sich schwer und schließlich verstummte seine Stimme, den Blick immer noch auf Ambriel gerichtet. Dieser hatte sich während der Standpauke keinen Schritt bewegt, der Blick war immer noch auf die grobe Tischplatte geheftet und schien dort für die nächsten zehn Winter verweilen zu wollen. Es dauerte einen Moment, bis Ambriel seine Augen schloss und seinen Mund öffnete.
„Nein, Vater.“
Der Blick des Vaters schwang von Sorge zu Erstaunen und väterlicher Engstirnigkeit über.
„Wie bitte?“, fragte er mit leicht erzürntem Unterton. Doch Ambriel blieb standhaft. Seine Augen waren weiterhin geschlossen, doch die Fäuste ballten sich ob der eisernen Überzeugung, die in seinem Herzen schlug und sich nach und nach den Weg in seinen Geist und seine Stimme bahnte.
„Ich werde nicht austreten. Die Sonnenlegion ist mein Schicksal und ich... ich werde mein Leben und mein Schwert für Mithras geben. Ich werde ein Krieger der Sonne werden und sollte es Mithras Wille sein, dass ich im Kampf falle,... dann sei dem so.“
Ambriel öffnete die Augen und richtete seinen Blick auf seinen Vater. Dieser erwiderte seinen Blick und wollte etwas sagen. Doch schien er einen Moment gebannt, als er die Augen seines Sohnes sah. Diese Augen waren nicht länger die Augen eines Kindes, das mit seinen Freunden „Mydrion und Thanos“ spielte, sondern die eines Mannes, der sich zwischen den beiden möglichen Wegen seines Lebens entschieden hatte.

Auch Ambriel versagte in diesem Moment die Stimme und er wollte sich gerade umdrehen, in dem Wissen, dass die wenigen Worte, die er gesprochen hatte, alles sagten, was es in seinen Augen zu sagen gab, als erneut der Vater das Wort erhob. Anders als zuvor war jedoch jegliche Kraft auf seiner Stimme verschwunden. Stattdessen war sie brüchig und alt geworden, klang resigniert und beinah hilflos.
„Dann... dann sei es so. Ich wünsche Dir das Beste auf Deinem Weg und hoffe, dass es Dir besser ergeht, als meinem Bruder. Ab dem heutigen Tage bin ich nicht länger Dein Vater, Du bist frei von diesem Elternhaus und dieser Familie.“

Mit diesen Worten wandte er seinen Blick von Ambriel ab und richtete ihn wieder aus dem Fenster, fixierte einen unsichtbaren Punkt in der Ferne. Sein Sohn hingegen blieb stumm stehen, versuchte die Worte, die er soeben gehört hatte zu begreifen. Die Mutter, die während des gesamten Streits still da gestanden hatte, kam einen Schritt auf ihn zu, umarmte ihn und sprach leise in sein Ohr.
„Alles Gute, Ambriel. Auch wenn Dein Vater es momentan wahrscheinlich nicht so sieht, so kannst Du jederzeit zu uns zurückkehren, falls Du es Dir doch anders überlegen solltest.“
Mit diesen Worten im Geiste verließ er das Elternhaus und kehrte in Begleitung des Zwielichts der hereinbrechenden Nacht zur Kirche zurück.
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#3
Der Pakt war geschlossen. Blut würde zu Feuer, Licht zu Schatten, Leben zu Tod. Mit diesen neuen Kräften ausgestattet, würde sie all jenen das Fürchten beibringen, die ihren ehrgeizigen Plänen im Weg stünden. Fingerzeige würden genügen, um Knochen wie einfache Zunderhölzchen entzwei zu brechen. Ein dunkler Blick könnte das Blut ihrer Feinde in deren Adern gefrieren lassen. Und der süße Geschmack verzweifelter Seelen würde ihren neuen Herren und Meister mehr als zufrieden stimmen.
Sie wanderte zwischen abgestorbenen Bäumen und dunkelgrauen Felsen umher und mit jedem Schritt schien sich die Natur um sie herum ein Stück weiter zurückzuziehen, beinah so als spüre sie die wandelnde Unheiligkeit in ihrer Mitte. Ein Hase, der sich hinter einem Felsen putzte, erstarrte. Mit einem Mal zuckte er, seine Augen verdrehten sich auf unnatürliche Weise und es machte den Eindruck, als zerknülle jemand ein Blatt Papier mit einer Hand. Der Fellklumpen, der von dem vormals hübschen Tier übrig blieb, war nicht mehr als eine Verspottung des Seins.
Ihr rabenschwarzes Haar ging in den Spitzen in dunkelblond schimmernde Strähnen über, die nun vom aufziehenden Wind aufgewirbelt wurden. Ein dunkler Begleiter schien von nun an bei ihrer Seite zu stehen und sie auf all ihren Wegen zu begleiten. Sie wusste ob seiner und genoss dessen Anwesenheit sichtlich. Er war ihr Diener, zu ihrer Seite gestellt, um ihren Befehlen in Windeseile zu gehorchen. Nach und nach würden sie miteinander verschmelzen, seine Kräfte in ihren Geist übergehen und, sobald die Verschmelzung abgeschlossen war, sie zu einer der mächtigsten Hexen dieses Kontinents machen. Dies war der Moment, an dem sie ihren Weg der Rache beschreiten können würde – ihrer Rache an jener Wesenheit, welches sie für nicht würdig befunden hatte, zu leben. Jenem blendenden Gott, der das Leben ihres Mannes und ihrer beiden Töchter für ebenso wenig würdig befunden hatte, als dass sie gesund und munter über diese Welt schreiten könnten.
Blutrote Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, rannen ihre schmale, zierliche Nase hinab an ihrem dunklen Mund vorbei, ehe sie sich am Kinn sammelten und dort zusammengerottet erste fallende Tropfen bildeten. Projektionen in rot gekleideter Männer und Frauen bildeten sich vor ihrem inneren Auge. Sie packten ihren Mann und ihre Töchter, verschleppten sie. Sie allein überlebte nur deshalb, weil sie zu jener Zeit unterwegs war, weil sie in diesen Augenblicken ihrer familiären Pflicht nachkam und Zutaten für das Abendessen holte. Ihr Mann hatte geschwiegen, dessen war sie sich sicher und so musste sie vom Rand eines überfüllten Platzes mit ansehen, wie ihre Familie in geheiligten Flammen zugrunde ging. Hexer sollten sie sein.
Hexer? Sie hatten ihre friedvolle Familie der Hexerei beschuldigt? So sollte es sein. So sollte ab diesem Tage wenigstens ein Mitglied dieses zerstörten Liebesbundes über jene Kräfte verfügen, wegen derer man diesen Bund zerrissen hatte. Es sollten diese Kräfte sein, die für eine Rache eingesetzt werden würden. Einer Rache, die hundertmal schrecklicher werden sollte, als jener Schmerz, den ihr Geliebter und ihre beiden Töchter ertragen mussten.
Das Holz der toten Bäume verfaulte und beinah hörte man wehklagendes Gejammer aus dem dichten Unterholz.


Ambriel erwachte schweißgebadet und blickte sich im Zimmer um. Welch ein Albtraum, der ihn in dieser Morgenstunde befallen hatte. Zu echt und düster, um seinem eigenen Geiste entsprungen zu sein. Sorge befiel ihn.
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#4
„Auf die verwundbaren, die ungeschützten Stellen zielen – das ist es, was einen guten Kämpfer von einem schlechten unterscheidet!“
Diese Worte hallten immer und immer wieder in Ambriels Geiste nach. Es waren die Worte des Ehrwürden Veltenbruchs, als jener sich des Anwärters annahm und ihm vorführte, was es hieß, richtig zu kämpfen. Ambriels Blicke folgten immer wieder den Ausführungen des erfahrenen Kriegers, der schon seit so vielen Jahren im Glanz der Sonne seine Kämpfe austrug, um Mithras Ruhm zu mehren und seine Jünger zu schützen.
Dagegen wirkten seine ersten Versuche, ja seine gesamte Erfahrung, die er in den letzten Jahren gesammelt hatte geradezu dilettantisch. Erfahrung – ein Wort, dass er sich selbst anzulegen nicht mehr traute. All sein Training hatte stets nur an mit Stroh gefüllten Stoffpuppen stattgefunden. Nie hatte er einen echten Gegner vor sich, der mit gepanzertem Leib und Hass in seinem Geist gegen ihn vorgegangen war. Und so war es seine unechte Erfahrung, die ihm irgendwann zum Verhängnis geworden wäre, hätte er sich auf das selbst Beigebrachte verlassen.
„Das Herz ist zu schwer zu treffen, wenn man nicht die Kraft und Übung hat!“, belehrte ihn der Veteran.
„Ziel auf die Punkte am Körper, bei denen schon ein einfacher Stich oder Streich genügt, um den Gegner außer Gefecht zu setzen“. Mit diesen Worten hob Veltenbruch seine Klinge und führte einen geraden Stoß zum Hals des Gegners, zog die scharfe Schneide an diesem entlang, nur um kurz darauf mit einem zweiten Stich auf die Schlagader im Bein zu zielen. Mit jedem Stich wiederholte er die anvisierte Körperpartie der Übungspuppe.
Ambriel folgte den Hieben, sein Geist speicherte jede Bewegung. Er wusste, dass er es mit dem richtigen Training ebenfalls schaffen würde, derart gewandt den Gegner niederzustrecken, die Feinde Mithras‘ zu vernichten. So trat er nun selbst vor die Puppe, die Klinge, die er seit seiner Jugend geführt hatte, in seiner Hand haltend, während die andere Hand lauernd vor ihm verharrte. Ruckartig zog er seine freie Hand nach hinten, holte Schwung und stach gleichzeitig mit der Klinge nach vorne.
„Hals!“, rief er und vollführte einen Stich, der einem gestandenen Manne die Kehle zerrissen hätte. Ohne zu zögern, zog er die Klinge zurück, verharrte für einen halben Augenblick in seiner Ausgangsposition.
Erneut zog er die freie Hand nach hinten, dieses Mal in Richtung seiner Schulter, als Gegengewicht für den nach unten geführten Stich zum Bein des Gegners. Und wieder kehrte er in Ausgangsposition zurück, nur, um ein drittes Mal den Gegner anzugreifen. Dieses Mal stach er jedoch nicht einfach zu – er machte einen Ausfallschritt nach rechts, griff den imaginären Arm des Gegners mit der freien Hand, hob diesen etwas an und rammte die Klinge seitwärts in den Brustkorb des Feindes. Während die Klinge noch in dessen Leib verharrte, dreht er sich seitwärts, um einem etwaigen Gegenschlag des Gegners auszuweichen. Keuchend verharrte er so einige Augenblicke, ehe er die Klinge langsam aus dem imaginären Feind herauszog.

Sein Blick ging zu der toten Gossenratte hinab, als die Erinnerung an das Kampftraining vor seinem inneren Auge verschwamm und sich wie ein kühler Nachtnebel in den ersten wärmenden Strahlen der Morgensonne auflöste. Wachdienst und Rattenjagd. Ruhmvoll, wie das Schelten kleiner Kinder war diese Aufgabe, aber es war die seine und sie war ihm von seinen Oberen aufgetragen worden. Er würde sie durchführen, ohne Jammern, Klagen oder Murren. Und doch spürte er im Inneren einen leichten Stich der Unzufriedenheit. Mithras Licht in die Welt hinauszutragen schien auf anderem Wege zu geschehen zu haben, als auf diesem – Anwärter hin oder her. Es war die Unzufriedenheit der Jugend, die seinem Geiste innewohnte, er war sich dessen bewusst. Die Schelte seines Vaters hing noch immer in seinen Gedanken nach, die Erinnerungen an seinen Onkel, der im Krieg elendig verreckt war – keine Glorie, keine Heldentaten, einfach nur Blut und Kot, die seinen Leib benetzten, als er seine letzten Atemzüge tat. Diese Gedanken und die Erinnerung an die Lehren und die Ordnung des Sonnengottes riefen ihn zur Vernunft, erinnerten ihn an seine Pflichten. Er blickte zu der aufgespießten Ratte an seiner Schwertspitze, löste sie von dieser, indem er sie mit dem Fuß fixierte und wischte sein Schwert an einem eigens dafür mitgenommenen Tuch ab. Er schob die Klinge in die Scheide zurück, richtete sich auf und ließ seinen Blick durch die Gegend wandern. Aus den finsteren Gassen des Marktviertels hörte er das Echo des Quiekens weiterer „Feinde“.
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