Hoffentlich unumstößliche Tatsachen
#1
Die meiste Zeit seines Lebens hatte er es für eine widerwärtige Angelegenheit gehalten, Buchseiten immer und immer wieder mit Speichel zu befeuchten, damit sie beim Umblättern besser am Finger hafteten. - Und das hier waren Bibliotheksbücher. Es bestand also kein Zweifel daran, dass die Seiten längst durchtränkt waren vom Sabber von Generationen. Er unterdrückte den Schauer des Ekels und las weiter. Staubige Seiten raschelten leise unter seinen Fingern und Kerzenlicht flackerte, wo der trübe Sonnenschein, der in den Abendstunden noch durch die Bleiglasfenster des Akademiegebäudes fiel, zum Lesen nicht mehr ausreichen wollte. Er las, um Adept zu werden, aber er las nicht ohne Begeisterung für sein Fach.

Das Traktat, das er las, "Über die magischen Elemente" von Ronard Teucius, war in seinen Augen ein bemerkenswertes Buch. Bemerkenswert nicht nur ob seiner fachlichen Brilianz, nein: Es triefte vor Geringschätzung und zur Schau gestelltem Mitleid für den Vater der modernen Hermetik und Mentor des Autors, dessen Thesen er überkommen und rückständig nannte. Für eine rein theoretische Abhlandung, ein Modell, war das geradezu lachhaft. Dennoch war das Buch zum Standardwerk geworden. Die Selbstgerechtigkeit, in der die Worte auf die Buchseiten gebannt worden waren, ekelte ihn sogar noch weitaus mehr als der Speichel.

Aber ebenso wenig wie die Mitstudierenden oder die Lehrer konnte man sich die großen Meister aussuchen, die lange vor einem gekommen waren. Doch wo der eine weise, der andere selbstgerecht und der dritte wahnsinnig war, da sah er in sich selbst ein eher stummes Drängen nach dem Wissen um die Kunst. Ein Drängen, das mehr der Sanddüne glich, die mit dem Wind wandert, als dem Sturm, der sie vorantreibt. So hatte der Mann, der auf den klangvollen Namen "Ortega" hörte, jedoch nicht auf seinen Vornamen, bereits Stunden in der Bibliothek verbracht und danach nicht weniger Zeit in das theoretische Studium investiert. Hinausgehen und die Bedeutung der Selvetik am eigenen Leibe zu erfahren, das war etwas, das ihm nicht lag und das ihn dennoch nie gehemmt hatte.


Sein Studium an der Akademie, das er erst vor wenigen Wochen begonnen hatte, hatte sich dennoch als wenig beglückend erwiesen. Die Bücher waren daran zwar nicht daran schuld, aber dennoch war eben jenes Traktat, das jetzt vor ihm lag, eine ausgezeichnete Allegorie, um seine Gefühle und Gedanken bezüglich der Akademie zu veranschaulichen.
Fachlich war er nicht enttäuscht worden. Nur langsam gelang es ihm, den Vorhang zu lüften, der die verborgenen Kräfte der Welt vor allzu neugierigen, ungebildeten Blicken schützten. Nur langsam formte sich hinter seiner Stirn eine Ahnung davon, was unter Einsatz dieser Kräfte überhaupt erst möglich war. - Vor allem, weil es nicht einmal nur um die Hermetik an sich ging, sondern auch um zahlreiche andere Aspekte der modernen Wissenschaften.

Dann war da die Selbstgefälligkeit, in der sich selbst der kleinste Eleve anschickte, denen, die ihm nachkommen, den Weg zu erschweren. Man selbst hatte bereits die allermeisten Formeln erlernt? - Wunderbar, dann war es an der Zeit, den Zugang zu erschweren. Man selbst war bereits an der Akademie aufgenommen worden? - Warum dann nicht all jene ausschließen, die den eigenen Interessen womöglich doch noch gefährlich werden konnten? Erst kürzlich hatte er erlebt, dass eine Adepta, die jüngst den Zweck der eigenen Akademie vergessen haben musste, die Tür vor einer Anwärterin zuschlug. - Diese hatte sich nämlich frecherweise der Ansicht gezeigt, das jeder Hermetiker eine Ausbildung an der Akademie verdiene, allein schon um wilde Magie zu verhindern. Etwas, das man ihm bereits im ersten Unterricht beigebracht hatte.

Um der Wahrheit genüge zu tun, er selbst war ebenfalls ein Verfechter der Taktik, nach oben zu kriechen und nach unten zu treten. Warum auch nicht? Das funktionierte ausgezeichnet. Aber doch nicht an einer Akademie! Doch nicht in dem einzigen Haus in dieser seelenlosen Stadt, in dem man sich ernstlich hoffen durfte, doch noch geistige Größe zu erblicken. In diesen Mauern war nichts zu gewinnen, als ein hübsches Siegel und ein hübscher Titel, den niemand, der noch bei Sinnen war, öffentlich tragen konnte. - Tand also.


Aber Lothar Ortega wäre kein rechter Ortega von Guldenach gewesen, wenn er nicht gleich seinem Großvater Goderich nach mehr gestrebt hätte, als man ihm, dem achtgeborenen Sohn eines Kaufmanns, zugestehen wollte. Seit er in Löwenstein weilte - und schon eine ganze Weile zuvor - hatte er sich unter viel Mühe den bissigen, näselnden und oftmals gelangweilten Klang angewöhnt, der sonst nur den Lippen der wahrhaft höher gestellten entkam. Dabei hatte seine Familie niemals mehr als Geld, Land und Ansehen besessen. Für die wahre, die nicht geliehene Macht, da hatte immer das entscheidende Quäntchen gefehlt.

Insgeheim war er der Ansicht, sein Vater wäre dafür zur Verantwortung zu ziehen. Der Mann ging in seiner Rolle als Kaufmann so sehr auf, das er nicht nur selbst in politischen Belangen vollends versagte, nein: Er gab es auch noch an seine Söhne weiter. Zumindest an die erbberechtigten. Aber wie sollte man jemals einen Menschen überholen, wenn man immer nur in seine Fußstapfen tritt? Er würde neue Wege beschreiten, Wege, die noch niemals ein Ortega vor ihm beschritten hatte. Und er würde, so Mithras wollte, es weiter bringen, als bis zum reichen Schnösel mit Landsitz vor der Stadt.

Sein momentaner Feind, das Traktat, war über diese Gedanken hinweg aber leider immer noch nicht geschrumpft, und so dauerte es noch einige Stunden, ehe er sich aus den dämmrigen, staubigen Räumen der Akademie zurückzog und auf den Heimweg machte, beflügelt von einem angenehmen Gedanken: Er wurde erwartet. Gewiss nicht auf die angenehme Weise, aber erwartet zu werden, das war doch tausendfach besser, als in eine kalte Wohnung einzukehren. Seine Leibeigene, so sagte er stets, war seine bisher beste Investition gewesen. Diesen Gedanken im Kopf und ein munteres Lied auf den dünnen Lippen stapfte er durch die Straßen, vielleicht nicht voller Glück, aber zumindest doch voller Hoffnung.
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