[Quest] Die ganze Welt zu verschlingen
#1
Am Rande der Nacht

Als die letzten Strahlen der Sonne hinter den Wipfeln des Herbstwaldes verschwanden, kroch die Kälte der nahenden Nacht heran wie ein unaufhaltsames Übel, das sich einem jeden entgegenwand, der nicht schnell genug Schutz suchte. Fröstelnd eilte der Junge weiter, den schmalen Pfad entlang. Laub raschelte unter seinen Schritten, das Knacken von Ästen ließ ihn zusammenfahren. Der heisere Ruf eines Nachtvogels schien ihm zu folgen wie eine Warnung.
Mussten nicht langsam die Umrisse des kleinen Weilers auftauchen? Nur eine Hand voll Hütten waren es, ärmlich und unscheinbar, doch einen Brief hatte er ihnen nichtsdestotrotz von seiner Herrin zu überbringen.
Er kniff die Augen zusammen. Im Schatten des Waldrandes hatte sich die Nacht bereits mit düsterem Zwielicht manifestiert, schlich sich weiter über den Pfad, verschlang Farne und Büsche, Steine und Pflanzen. Die Luft roch modrig.
Da, endlich! Hinter den kahl aufragenden Ästen eines krüppeligen Baumes duckte sich das Dach einer heruntergekommenen Kate als suchte es sich zu verstecken. Der Bursche atmete erleichtert aus und beschleunigte seinen Schritt. Der unebene Pfad wand sich um ein Dornengestrüpp um unvermittelt im Zentrum einiger windschiefer Hütten an einem Brunnen zu enden.
“Mithras’ Segen!”, rief er schon von weitem erleichtert, noch vor endgültigem Einbruch der Nacht eingetroffen zu sein. Die Gedanken an ein warmes Strohlager als Nachtlager und einer Schüssel Eintopf schlichen sich wohlig in seinen Kopf ehe er seinen Irrtum bemerkte.

Wie leere, tote Augenhöhlen starrten die dunklen Fenster in der Dämmerung auf den Burschen. Eine lose Tür schwang unter leisem Knarren im Nachtwind. Finster lag der unförmige Haufen zwischen den Häusern aufgetürmt, halb abgedeckt von dreckigen Tuchbahnen, halb rußgeschwärzt, nur zum Teil zu Asche verfallen.
Man brauchte kein Licht um zu erkennen, worum es sich handelte. Noch immer lag der Brandgeruch in der Luft, mischte sich mit dem süßlichen Gestank verwesenden Fleisches und der modrigen Erde, aus der erster Herbstnebel aufstieg. Vielleicht war das Holz, das man zwischen die Leichen gelegt hatte zu feucht gewesen, vielleicht hatte es angefangen zu regnen – jedenfalls war das Feuer wieder verloschen, und niemand hatte sich mehr darum gekümmert. Da lagen sie, ihre faulenden Körper nur notdürftig verhüllt. Keiner war zurückgeblieben, um sich um die Toten zu kümmern.

Schaudernd trat der Junge einen langsamen Schritt zurück, dann noch einen, mit zitternder Hand das Sonnensymbol in die Luft vor sich zeichnend. Dann warf er sich herum, rannte los, stolperte über einen achtlos liegengelassenen Eimer, fiel, rappelte sich wieder auf, rannte weiter. Fort, nur fort von diesem Ort, den die Keuche an sich gerissen hatte, als wollte sie ganz genau hier anfangen, nun doch die ganze Welt zu verschlingen.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.
#2
Am Rande der Bewusstlosigkeit

Das sporadische, leise Tröpfeln von Wasser drang zuerst durch die Nebel, die sein Bewusstsein verschleierten.
Plitsch.
Plitsch.

Nur langsam verband sich der Rhythmus der vereinzelten Wassertropfen, die in der Stille widerhallten, mit dem dumpfen Pochen in seinen Schläfen.
Plitsch.
Plitsch.
Plitsch.

Ein leises Stöhnen war zu hören, und es dauert lange, bis er bemerkte, dass es wohl seiner eigenen, trockenen Kehle entstammte. Sein Kopf schmerze. Sein Nacken schmerzte. Wo war er?
Plitsch.
Die Luft war kühl und roch modrig. Trotzdem fror er nicht. Langsam öffnete er die Augen und blinzelte hilflos in das Licht einer Wandfackel. Ein Anflug von Übelkeit bemächtigte sich seiner, grelle Kopfschmerzen flammten in seinem Schädel auf. Er stöhnte abermals, fasste sich unwillkürlich mit der Hand an den Nacken. Löwenstein. Die Kirche. Die Anwärterin. Langsam schoben sich kahle Steinwände und die kalten Gitter einer Zelle in seine Wahrnehmung, und mit ihnen die Panik, die in ihm aufstieg.
Plitsch.
Plitsch.

„Hallo?“ krächzte er heiser, doch um ihn herum blieb es still. „Hallo?!“
Plitsch.
Neben ihm stand ein Fässchen, davor lag etwas Brot. Als er zaghaft mit der Hand zur Seite tastete fühlte er ein Fell, auf dem er lag, und einen wollenen Umhang, den man sorgfältig über ihn gebreitet hatte. Nur das Nachtlager, das man ihm angeboten hatte, nur das Nachtlager! Kein Grund zur Sorge. Dann kehrte die Anwärterin zurück in seine Erinnerung. Der Moment, in dem er sich umgedreht hatte, und ihr Schwertknauf ihn traf. Sie hatten ihn absichtlich in ihre Keller gelockt.
Und nun hatten sie ihn eingesperrt, um ihn zu vergessen. In einem Kerker, tief unter der Kirche. Und nur, weil er beim Abendgebet gehustet hatte.
Plitsch.
Plitsch.


Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.
#3
Am Rande des Wahnsinns

Die Schläge viel zu vieler Fäuste trommelten an den Eichenwänden des Gebäudes, die verzweifelten Tritte viel zu vieler Füße mischte sich mit dem Gebrüll, das das ganze Spektrum zwischen Zorn und Verzweiflung ausfülle. Viel zu laut, viel zu laut. Es dröhnte ihm in den Ohren, es erfüllte sein Herz ebenso wie die regnerische Nachtluft, es schien bis in jeden Winkel Amhrans zu dringen.
Sie würden alle sterben.
Zitternd stand der Jüngste der Wachmannschaft vor dem erst kürzlich in ein weiteres Lazarett umgewandelten Lagerhaus, in das sie die in Panik geratene Masse zurückgedrängt hatten.
Als er seinen Dienst hier aufgenommen hatte, hatte er sich alles anders vorgestellt. Er war zu jung gewesen, um mit in den Krieg zu ziehen – doch etwas wollte er trotzdem tun für seine Heimat, für seinen König! Als Freiwillige gesucht wurden, um als Wachposten auf der neu eingerichteten Quarantäneinsel vor der Küste Servanos zu dienen, war er einer der ersten gewesen, die sich meldeten.

*

Was für ein schlauer Schachzug diese Insel doch gewesen war! Ein Ort, an dem man Kranke sicher, abgeschottet, aber doch zumindest halbwegs komfortabel unterbringen konnte. Ein Ort, an dem genug Platz war um von den Kranken abgegrenzt jene unterzubringen, bei denen nur ein Verdacht bestand, um sie nach Ablauf der Beobachtungsfrist sicher wieder in den Hafen Löwensteins zu geleiten. Andere Lehen mochten vor einer vergleichbaren Seuche kapituliert haben, hätte es sie getroffen – aber nicht das stolze Servano!

*

„Hält nicht mehr lang, wenn die so weitermachen.“ murmelte Antaria, eine der dienstältesten Wächterinnen auf der Insel. Sie waren nur noch zur siebt. Wer erwartete schon derartige Probleme auf einer harmlosen Quarantäneinsel. Die Kranken waren ohnehin krank – und die Gesunden warteten friedlich ab, bis die beiden Armeeheiler, die man für diesen Dienst abgestellt hatte, ihre Gesundheit bestätigten. Letzte Woche jedoch war einer seiner Kameraden, der unvorsichtig gewesen war, mit blutigem Husten selbst Opfer der Keuche geworden – und vorgestern hatte ein in Panik geratener Mann einen anderen Wächter hinterrücks erschlagen, ein kleines Boot gestohlen und die Flucht ergriffen. Noch vor einigen Wochen wäre ein solches Szenario unvorstellbar gewesen.
In das Hämmern der Fäuste, das unkoordinierte Gebrüll und das leidende Knarren von Holzwänden, die nicht dafür gemacht waren, so viele Menschen aufzuhalten, mischte sich das rasende Klopfen seines Herzschlages. In seinen Ohren rauschte das Blut.

*

Das Konzept der Insel war aufgegangen. Die Keuche raffte nicht den Bruchteil der Menschen dahin, den sie hätte dahinraffen können. Natürlich gab es Tote, natürlich gab es selbst in Löwenstein Keuchenopfer – ein bedauerlicher Zufall hatte mehrere Stadträte dahingerafft. Doch im Großen und Ganzen blieb es ruhig. Fast wie ein Hafenmeister Waren abnahm und Zölle eintrieb fertigten sie Menschen ab, die in die Stadt einreisen wollten, beobachteten sie, und schickten sie endlich gesund nach Löwenstein. Die Zahl der tatsächlich Keuchekranken hielt sich – Mithras sei Dank – in Grenzen.

*

„Was tun wir, wenn... wenn sie nun ausbrechen und...“ hörte er sich selbst stammeln, ohne den Blick vom alten Lagerhaus zu nehmen, dessen Wände vom Trommeln seiner Insassen zu beben schienen wie seine Trommelfelle von ihren Schreien. Die Fackeln, die die Wächter bei sich trugen, zischten im Nieselregen, der schon den ganzen Tag unablässig auf die Insel niederging. Ihre fackernden Lichtkreise in der Nacht tauchten das Lagerhaus in unstetes Licht. War es ihr Schattenspiel, oder bebten die Wände tatsächlich?

*

Und dann waren es mehr und mehr geworden. Aus Löwenstein waren seltsame Gerüchte vorgedrungen. Die Menschen hatten sich irgendein Schreckgespenst eingebildet – so etwas musste es zumindest gewesen sein – und dann waren die Keuchefälle sprunghaft angestiegen. Von heute auf morgen waren Schiffsladungen von Menschen gebracht worden, meist aus ländlichen Gegenden, und zum ersten Mal überwog die Zahl der Kranken jene derer, die nur unter Beobachtung standen. Sie husteten Blut, als würde ihr Innerstes durch ihren Kehlen nach draußen geschleudert, sie verrotteten bei lebendigem Leibe, wie die Toten in ihren Gräbern, sie kreischten vor Schmerzen und weinten und beteten. Doch nichts hielt die furchtbare Krankheit auf, die ganz plötzlich aufgeflammt war, als habe man eine Fackel in trockenes Stroh geworfen. Weder Wärter noch Verwaltung wussten noch wohin mit ihnen auf der kleinen Felseninsel vor der Küste, mit ein paar Lagerhäusern und ein paar Gebäuden, die man als Lazarette errichtet hatten. Eine winzige Wachstube, ein Schiffsanleger. Dreißig, vierzig, vielleicht fünfzig Menschen konnte man hier unterbringen, wenn sie ebenso schnell wieder abreisten wie sie kamen.
Plötzlich aber waren es an die hundert, die untergebracht werden wollten. Ganze Dorfgemeinschaften aus den abgelegeneren Randgebieten Servanos schienen erkrankt zu sein – und bald kam der Punkt, an dem es auf der Insel nicht mehr möglich war, Kranke von scheinbar Gesunden zu trennen.


*

Plötzlich splitterte Holz. Er zuckte zusammen und zog unwillkürlich den Kopf ein. Wie schrilles Hohngelächter schien ihm der Triumphschrei aus dem Inneren des Lagerhauses, als sich ein erster fahler Schatten aus dem herausgebrochenen Brett in der Wand drängte.
„Achtung!“ brüllte Antaria und zog ihren Säbel.
Ein Toter kam auf ihn zugewankt. Es musste ein Toter sein. Kein lebender Mensch sah so aus.
Entsetzen schnürte seine Kehle zusammen, sein eigener Schrei ging unter in dem Gebrüll der Gefangen und dem Bersten nachgebenden Holzes.
„Das Stroh unter dem Dach!“ Antarias Stimme übertönte noch das Kreischen des Abyss, das sich hier auf dieser Insel vor der Küste Servanos manifestiert hatte. Er sah, wie die anderen ausholten und ihre Fackeln in Richtung der Öffnung im Giebel warfen, durch den einmal die Woche frisches Stroh für die Schlaflager herabgeholt wurde. Trotz des feuchten Herbstwetters war es stets angenehm trocken.
Dann war der Tote bei ihm, die blutunterlaufenen Augen im fahlen Gesicht hasserfüllt. Er wollte seinen Säbel ziehen, den Angreifer niederstrecken, seine eigene Haut retten, doch seine Glieder rührten sich nicht.
Plötzlich flammte das selbst strohgedeckte Dach auf. Im unerwartet hellen Licht des sich rasch ausbreitenden Feuers traten die dunklen Flecken und schwärenden Wunden der Gestalt vor ihm noch deutlicher hervor. Gleich bringt er mich um, dachte er, unfähig sich zu bewegen. Stattdessen verkrampfte die Gestalt sich, sackte zusammen, geschüttelt von keuchendem Husten. Ein Regen blutigen Auswurfes ergoss sich über ihn, traf seine Uniform, traf sein Gesicht wo es nicht von dem Tuch bedeckt war, das sie alle trugen.

*

Immer öfter gerieten die Menschen auf der Insel in Panik – und wer konnte es ihnen verdenken. Sie kamen gesund hierher – und statt beobachtet zu werden, um nach der vorgegebenen Zeit als gesund entlassen zu werden, wurden sie in einem Quartier mit den Siechenden untergebracht. Man musste es nicht laut aussprechen um zu wissen, dass die zuvor so gut geplante und segensreiche Quarantäneinsel plötzlich ein Ort des unausweichlichen Todes geworden war.

*

Das Brüllen und Dröhnen und Treten und Schreien des Abyss tobte um ihn herum, wurde lauter, veränderte die Tonlage. Nur kurz mischte sich der Lärm von Handgemengen hinein, dann wurde das Brüllen zum Kreischen, das Bersten von Holz zum Rauschen von Feuer. Endlich versiegten die Schreie, versiegte das Kreischen, versiegte das Grauen, versiegte Stimme um Stimme um Stimme, bis nur noch das furchtbare Geschrei einer einzigen Person die Nacht durchschnitt wie die Säbel der anderen Wächter die Kehlen jener Kranken, die versucht hatten dem brennenden Gebäude zu entfliehen. Warum lebte derjenige noch, warum hörte er nicht auf zu kreischen, hatte Mithras denn kein Erbarmen mit ihm und erlöste ihn endlich von seinem Schicksal? Aber die Stimme schrie und kreischte ohne Luft zu holen, brüllte dass es ihm in den Ohren widerhallte.

Erst als Antarias Faust ihn traf und tröstliche Ohnmacht nach ihm griff hörte das Schreien auf.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.
#4
Am Rande des Fiebers

Wann immer er aus seinen wirren Fieberträumen hochschreckte, drang das entsetzliche, langsame Tropfen von Wasser an sein Ohren.
Abseits dessen war es still und dunkel. Die Kerze neben ihm war längst verloschen, und niemand mehr gekommen, um sie zu erneuern. In der Nacht hatte er mit zitternder Hand nach dem Becher und dem Wasserfass gegriffen, und es dabei ungeschickt umgestoßen. Die Felle auf denen man ihn liegen ließ durchweicht, das Trinkwasser verloren, war er wieder in unruhigen Schlaf gefallen.
Auch Heiler ließen die Priester nicht mehr zu ihm vor, soviel hatte er mitbekommen.

Immer wieder schüttelten ihn Hustenanfälle, die ihm die Kehle zusammenschnürten, weißglühende Messer schienen ihm in die Brust zu stechen und ließen ihn keuchend und kraftlos am Boden kauernd zurück. Die feuchte Kälte des Kerkers war ihm seit Tagen in die Glieder gedrungen und hatte sich schmerzhaft in ihnen festgesetzt.

Das war die Strafe. Die Strafe für jemandem, der seinem Schicksal entfliehen wollte. Statt ihn laufen zu lassen, der er nach wochenlanger Abwesenheit zurück ins Dorf gekommen war als sie gerade dabei waren, die Überlebenden abzutransportieren, hatten sie ihn gewaltsam mitgenommen. Auf der Quarantäneinsel wäre er in der sicheren Obhut kompetenter Heiler, würde beobachtet und könne nach einer Weile zurück ans Festland kehren.
Das Bild, das sich ihm jedoch auf dieser Insel tatsächlich geboten hatte, war ein Bild des Grauens.

Dass ihm die Keuche trotz seiner raschen Flucht gefolgt war bewies nur, dass sie ihm vorbestimmt war. Ihr entkommen zu wollen war ein Ding der Unmöglichkeit, und der Versuch allein hatte ihm nur Abscheu und einen Tod in Einsamkeit, in einem Loch unterhalb der Löwensteiner Kathedrale, gebracht.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.
#5
Am Rande der Altstadt

Nieselregen benetzte die Straße, ließ das Pflaster im unsteten Licht der Laternen feucht schimmern und sprühte ihr dann und wann wie Gischt entgegen, wenn eine neue Windbö durch Löwenstein fegte. Fröstelnd zog sie ihren abgewetzten Umhang enger um sich.
Ihr Umweg durch die morastigen Pfade des alten Hafens hatte ich offenbar gelohnt. Ein Abstecher durch die Altstadt, ehe sie endlich ihren eigentlichen Weg antrat. Keine Schritte außer ihren eigenen hallten zwischen den Fachwerkhäusern wieder. Bis auf den leise heulenden Wind und sporadische Gesprächsfetzen, leises Lachen hinter den Türen und Fenstern längs der Straße war es still.

Sie war erleichtert, die Bürde, die ihr spärliches Wissen offenbar darstellte, endlich geteilt zu haben. Der Gedanke, sich jetzt – gerade jetzt, in diesem Moment, um genau zu sein – auf dem Weg in Sicherheit zu befinden beruhigte sie enorm.

Irgendwo klappte eine Tür. Eliska zuckte zusammen, atmete dann tief durch und beschleunigte ihren Schritt. Wie albern, so ängstlich zu sein. Hier in der Altstadt wohnten so viele Menschen, die fortwährend ein- und ausgingen. Die Ganter, die Veltenbruchs, die Angehörigen verschiedener Handwerksbetriebe... wenn ein Ort in der Stadt stets belebt wirkte, so war es die Altstadt.
Irgendwo am Ende der Straße gesellten sich leise Schritte zu den ihren. Sie zog unvermittelt den Kopf ein, lugte über die Schulter und hielt die Luft an.

Wie weit war es noch bis zum Stadttor? Dort standen Wachen, bei denen man nötigenfalls um Schutz bitten konnte. Noch die düstere Straße im Schatten der Stadtmauer entlang. Tagsüber herrschte hier reger Verkehr, Menschen, die von der Jagd oder den Feldern zurückkehrten, Reisende. Um diese Zeit jedoch lag die Straße finster und verwaist da. Nur eine schwarze Katze strich wie ein unheilvoller Schatten um die Häuserecken.

Waren die Schritte näher gekommen? Nein, das bildete sie sich doch nur ein. Nur jemand auf dem Weg nach Hause, bestimmt. Sie stieß gepresst die Luft aus. Ihr Herz schlug so laut, dass es doch jeder hören musste, der nur in ihre Nähe kam. Irgendwo dahinten lag sicher schon das Stadttor. Nahm diese Straße denn kein Ende? Sie zwang sich mühsam zur Ruhe, lauschte. Tatsächlich – die Schritte waren verstummt.

Endlich – durch die ferne Dunkelheit drang der warme Fackelschein des Stadttores. Nun war sie schon in Rufweite – alles war gut. Ihre Haltung entspannte sich, sie schritt weiter aus, hob den Kopf und ließ den kühlen, sanften Nieselregen ihr Gesicht benetzen.
Dann plötzlich wenige, kurze Schritte, ein leises Rascheln von Kleidung, ein Ruck in ihrem Körper als sich eine Hand fest um ihren Mund presste und eine jähe Kraft sie herumzerrte. Sie riss die Augen auf, versuchte sich zu wehren, zu zappeln, die Hände freizubekommen, zu schreien, zu treten – doch ihre Tritte trafen ins Leere, ihre Arme schlugen ziellos um sich, ihre Stimme verhallte ungehört in einem Handschuh. Dann ein jäher Blitz eisiger Kälte in ihrer Brust der langsam als greller Schmerz mit jedem Atemzug tiefer in sie hineinsickerte und sie schließlich verschlang.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.
#6
Am Rande des Marktplatzes

Die Tage verstrichen träge, doch immerhin erfolgreich. Die Stadt war kopflos. Zu viele waren es, die Vieles beobachteten oder ausprobierten, die wussten und herausfanden - doch sie sprachen nicht miteinander, um ihre Erkenntnisse zu verbinden, und das machte sie schwach. Gut.
Die Sache mit den Ratten war ein ironischer Zufall, der seinem Auftraggeber überaus gut gefiel. Der Regen, die überschwemmte Kanalisation, die Ratten, die nach Nahrung suchten - vermutlich eine Leiche irgendwo, die man nicht verbrannt hatte. Und schon hatten die Dinge ihren Lauf genommen. Welch zynisches Schicksal.
Die Ratten selbst fand er lästig - sie hatten tageland seine Aufgabe beeinträchtigt. Er beobachtete die Ratsleute, und all jene, die wichtig waren in der Stadt. Sammelte Informationen darüber, wohin sie wann gingen, was sie aßen, was sie tranken, wo sie lebten - wo ihnen beizukommen war, wen man anheuern konnte, sie zu verraten. Kaum jemand hatte je darauf geachtet, wie er Stunde um Stunde am Brunnen stand und das Rathaus beobachtete, wie er durch die Neustadt wanderte, wie er vor einem Haus des Neuen Hafens herumlungerte.
Löwenstein machte einem die Dinge leicht. Immerhin war nicht einmal Widerspruch angeklungen, als er vor allen Helfern der Stadt ein Fläschchen mit verseuchtem Rattenblut gefüllt hatte.
Es würde ein Leichtes sein, diese Stadt entgültig zu Fall zu bringen, solang ihre Bewohner nichts weiter im Sinn hatten, als Intrigen gegeneinander zu spinnen, sich auszustechen und zu hassen. Es war so leicht.
Sie würden alle sterben.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.
#7
Am Rande Servanos

Sanft strich der eisige Winterwind durch die kahlen Baumwipfel während sich der Himmel langsam dämmrig färbte. In die Kirchenrote Robe gehüllt, die man ihr damals gegeben hatte, folgte sie der menschenleeren Straße, im Gepäck nur die Kleidung am Leibe und etwas trockenes Brot in der Robentasche. Sie brauchte nichts weiter. Nur der wärmende Stoff – und der Gedanke daran, endlich wieder mit ihm vereint zu sein.

*

Ob sie wirklich kommen würde? Die vergangenen Monde der Trennung schienen ihm so endlos, gefüllt mit so vielen Ereignissen, dass er nicht wusste, ob er noch daran glauben konnte. Doch alles andere war verloren, seine Tarnung nicht mehr sicher. Zwar hatte der Plan jeglichen Erfolg gehabt, den man sich wünschen konnte – Servano war hilflos, ins Chaos gestürzt von Krankheit und Tod und Missgunst und Streit und Hass, die daraus gefolgt waren – doch was daraus erwachsen würde konnte er nicht abschätzen. Immerhin hatte die Servanoer hinreichend kennengelernt. Durch den Unwillen zur Zusammenarbeit würden sie es dem Fürsten leicht machen.
Im Moment jedoch hatte er wenig Interesse, sich mit Servano zu befassen. Früher oder später würde es fallen und Platz machen für den rechtmäßigen – und weit vielversprechenderen – Erben Amhrans.
Weit mehr Kopfzerbrechen bereitete ihm die Frage, ob sie tatsächlich wie vor Monaten, vor einer gefühlten Ewigkeit, verabredet, zum Treffpunkt kommen würde. Früher oder später, wann immer es ihr möglich war. Seit jenem Tag war er täglich hergekommen, oder hatte zumindest einen seiner Leute hergeschickt. Doch tagein – tagaus. Nichts. Er ließ den Kopf sinken und seufzte.

*

Düstere Wolken trieben mit der Dämmerung nach Servano herein. Leise heulte der Wind um die Wachtürme, die dieser Tage – seit der Grenzschließung – von Servanoer Seite trostlos und verlassen dalagen. Nur von der Hohenmarschener Seite hörte man hin und wieder Stimmen.
Sie hatte sich müde auf einem Stein niedergelassen. Je kälter der Abend wurde, desto größer wurden auch ihre Zweifel an ihrem Unternehmen. Die Abmachung war Monate her. Es war soviel geschehen – und nicht zuletzt hatte sie ihn so glaubhaft verleugnet, dass sie Angst hatte, es sei bis zu ihm vorgedrungen und er hätte sie aufgegeben. Überhaupt – wie sollte er je darauf kommen, dass sie ausgerechnet an diesem Tag, mitten im Hartung, kam, ihr Versprechen einzulösen. Wie sollte er wissen, dass sie ihn liebte wie am ersten Tag.
Plötzlich knackte unweit das Gebüsch.

*

Der Fährmann sah in etwa so aus, wie sie sich einen korrupten Fährmann vorgestellt hatte. Immerhin war die Nusschale, in der sie – für eine erschreckende Summe – abseits der Wege von einem sumpfigen Ufer zum anderen gebracht wurden wasserdicht.
Letos nahm ihre Hand und lächelte ihr zu. Ganz wie früher. Meredis drückte seine Hand als Antwort. Leise plätscherte das Wasser um sie herum. Dann endlich kletterten sie ans Ufer, betraten Hohenmarschener Boden. Der erste Schritt auf dem Weg nach Silendir.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss.




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