[FSK-6] Amhraner Märchenstunde
#1
Vögel einer Feder

Es war einmal im Königreich Amhran, da gab es einen alten Baum. Dieser Baum stand auf einem Friedhof. Dieser Friedhof stand nahe der Stadt Löwenstein. Im Wipfel dieses Baumes nistete eine Krähenmutter. Diese Krähenmutter hatte Junge und das Leben schien gut für sie. Doch einiges Tages wurde das Männchen der Mutter angegriffen, als es am Fuß des Baumes eine Maus erjagt hatte. Der Angreifer war eine Katze und die Mutter versuchte das Männchen zu retten. Doch die Katze war alt. Nicht das Alter in dem eine Katze aufhört eine Gefahr zu sein, sondern das Alter, das einer Katze, so sie es erreicht, genug Erfahrung beschert um es mit einer Krähe aufnehmen zu können. Die Katze war aber auch alt und schlau genug um zu wissen es nicht mit beiden aufnehmen zu können, so entkam sie, mit dem erlegten Männchen und ließ die Mutter mit gebrochenem Flügel zurück. Unfähig zu ihrem Nest zurückzukehren saß sie am Fuße des Baumes und wartete. Sie würde ihre Jungen nicht mehr füttern können, fliegen konnte sie auch nicht mehr – es war ein grauer Tag und die Aussicht war der Tod.
Eine andere Krähe, die oft allein auf den Dächern der Stadt ruhte, sah das Leid der Mutter. Diese andere Krähe hatte selbst keinen Schwarm, kein Männchen das ihr folgte und mit anderen Krähen die über den Feldern herzogen nur selten etwas zu tun. Sie sah das Leid der Mutter und hörte die Schreie der Jungen und sie hatte Mitleid. Und da sie Mitleid hatte und größer und kräftiger als die Mutter war, half sie ihr zu dem Nest hinauf. Und da die Mutter selbst nicht jagen können würde, begann sie fortan für die Mutter zu jagen. Und so wurde die andere Krähe die Freundin. Und jeden Tag besuchte die Freundin die Mutter, brachte der unglücklichen Familie Futter und vertrieb nahe jagende Tiere. Und so blieb die Freundin, und es zog sie öfter in die Stadt, und das, obwohl sie sich selbst geschworen hatte, diese zu verlassen, nachdem sie selbst genug Federn dort gelassen hatte, dass sie für das gewöhnliche Leben einer Krähe genügen würden. Die Freundin war nicht deswegen allein weil es keine anderen Schwärme gegeben hätte, sie hatte sich dafür entschieden, denn wie eingangs bereits erwähnt, zeichnete sich die Freundin dadurch aus, dass sie Mitleid hatte. Und so machte sie nur Jagd auf jene, die es verkraften konnten und sie stahl auch nur von jenen die genug hatten.



Die Freundin und die Nachtigall

So kam es, dass die Freundin auf ihren Streifzügen die Nachtigall traf. Die Nachtigall war ein schöner Vogel, mit einer wundervollen Stimme – doch wenn man sie des Nachts singen hörte, sang sie oft allein auf den Dächern Löwensteins. Die Freundin hatte den Himmel über Löwenstein oft überflogen, doch nie hatte sie eine andere Nachtigall dort gesehen. Krähen der Schwärme hätten umgehend Jagd auf sie gemacht, doch die Freundin, wie eingangs gesagt, sie hatte Mitleid. Und so leistete sie der Nachtigall Gesellschaft. Viele Vögel lauschten zwar dem Lied der Nachtigall, doch die wenigsten blieben um es zu Ende zu hören, doch die Freundin hatte die Zeit. Sie hatte keinen Schwarm, kein Männchen, und der Mutter ging es allmählich wieder besser, sie konnte zwar noch nicht jagen, aber fernab davon brauchte sie die Freundin nicht mehr so oft, und die Freundin empfand das als gut.
In dem Lied der Nachtigall ging es um den Wolf. Einen Gefährten, in dessen Lied sie des Nachts zu gerne einstimmte, der aber in weiter Ferne schien und es der Nachtigall fortan nur schwerer zu machen schien, die einzige Nachtigall auf den Dächern der Stadt zu sein. Die Freundin – nun, sie war weder eine Nachtigall, noch war sie eine gute Sängerin. Sie sang keine Lieder, selten klang das schön was sie zu sagen vermochte. Und obwohl die Freundin gesprächig war, so war es doch nur ein Satz den sie sagte, der jemals von Bedeutung war. Doch dafür ist es noch zu früh. Wichtig ist: Sie hatte Mitleid. Und weil sie Mitleid hatte, blieb sie an der Seite der Nachtigall, und lauschte nächtelang ihrem Lied.
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#2
Die Freundin und der Waschbär

Und als die Freundin über die Straßen der Stadt Löwenstein zog, war es die Stimme des Waschbären, die sie zum Innehalten brachte. Der Waschbär hatte die einzelne Krähe erblickt, und sofort war er stutzig geworden. Der Waschbär fühlte sich einsam – denn nur wenige Tiere vermochten sein Wesen zu verstehen und nur wenige konnten in seinen Augen mit seinem Verstand mithalten. Und doch umgab er sich mit vielen jener Tiere. Und die Freundin schien auch einsam zu sein - wirklich einsam-, denn stets sah er sie nur alleine über die Dächer der Stadt gleiten – und gleichsam war sie klug. Der Waschbär hoffte daher sie an seiner Seite zu halten und bat sie, doch zu ihm auf die Erde hinab zu sinken doch die Freundin wich nicht von ihrem Ast, denn sie wusste um die List der Waschbären. In seiner Einsamkeit versuchte er sie in der Nähe zu halten und so nutzte er ihr Mitleid und bat die Freundin um Hilfe. Er bat sie einer bestimmten Eule, welche über die Stadt wachte, eine Feder zu stehlen. Die Eule war ein weises Tier, und der Waschbär hoffte, sollte er einer dieser Federn habhaft werden können, die Quelle ihrer Weisheit und somit die Weisheit selbst in den Händen zu halten. Die Eule war gleichsam ein starkes Tier und so stimmte die Freundin zu. Jene Eule war aber auch ebenso ein heiliges Tier – sie war keine gewöhnliche Eule sondern eine göttliche Botin. Und als die Freundin dies erkannte, schreckte sie zurück. Als göttliches Tier, brachte die Eule den anderen Tieren Hoffnung und das Herz der Freundin wehrte sich dagegen, in einer bösen Absicht auch nur an die Eule heranzutreten. Und so mied die Freundin den Waschbären. Denn auch wenn der Waschbär nur einsam war, und die Freundin auch Mitleid ihm gegenüber empfand, so erkannte sie in dem Moment, dass er sie auch betrogen hatte und dass er zwar ihren Verstand sah, aber nicht ihr Herz. Und auch wenn seine Zuneigung ehrlich war, so hatte er sie belogen und einen Teil seines Herzens vor ihr verborgen gehalten um sie dazu zu bringen jene Tat zu vollbringen. Fortan wachte sie über den Waschbären, nur noch aus weiter Ferne.
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#3
Die Nachtigall und der Kranich

Das Lied einer Nachtigall mag für sich genommen bereits ein Ausdruck der Schönheit sein, welchen die Menschen der Welt hören und bewundern können, selten aber jemals wirklich nachzuahmen vermögen. Und auch wenn das Lied einer einzigen Nachtigall am schönsten erklingt, war das Lied das diese Nachtigall sang ein trauriges Lied, denn sie sang es allein. Die Freundin hätte dies Lied so gern erwiedert, aber sie war nur eine Krähe, nie dazu gemacht auf das Lied einer Nachtigall zu antworten – oder überhaupt Lieder zu singen. Und es mögen zwar viele gewesen sein, die die Nachtigall gern für sich gehabt hätten um ihrem Lied allein zu lauschen, doch diese wollten oder konnten es nicht mit ihr gemeinsam singen und die Freundin war schlichtweg keines jener Tiere. So redselig eine Krähe auch sein mag, die Freundin verharrte schweigend wenn die Nachtigall sang.
Das Herz der Freundin mochte vielleicht im Rhythmus zum Lied der Nachtigall schlagen, wenn es ertönte, doch da eine Krähe ihr Herz auf der Zunge trägt, verstummt es wenn sie schweigt. Und wie viele Andere, suchte die Nachtigall in den besonders dunklen Tagen die Nähe des Kranichs. Ein stolzes Tier, das auf seinen langen Beinen über die anderen hinwegsah – sie respektierten den Kranich, war er doch in der Lage selbst aus dem Stand heraus das überschaubare Tierreich um die Stadt Löwenstein herum zu überblicken. Aber da alle Tiere mit der Bitte um Rat zu ihm eilten, erklang das Lied der Nachtigall, auch wenn sie dessen Gesellschaft suchte, des Nachts allein. Der Kranich wusste von der Freundin, wenn er auch nur wusste, dass die Freundin zu keinem der Krähenschwärme dieser Gegend gehörte. Die Freundin respektierte den Kranich, doch sie war in Sorge.
In Sorge um das Herz der Nachtigall, der es danach verlangte ihr Lied nicht allein zu singen. Und wenn die Nachtigall ein Lied der Trauer sang, erklang das Herz der Freundin in gleichem Rhythmus. Und zu gerne hätte sie ihre Flügel schützend um die Nachtigall gelegt – aber wer war sie, die Welt somit um das Lied der wunderschönen Nachtigall zu berauben?



Die Krähen

Krähen sehen die Welt anders. Die Farben der Welt erstrahlen in ihren Augen anders. Wo Menschen schwarz und weiß sehen, sehen Krähen so viel mehr. Und sie reden darüber – und wie viel und wie oft sie darüber reden. Doch diese Einsicht kommt nicht ohne Preis. Denn Krähen mögen viele Dinge so sehen wie sie wirklich sind – und so viele Farben sie sehen, so mag in einem gewissen Sinne die Welt für die Augen einer Krähe doch grau erscheinen. Und so mag niemals eine Krähe einen blauen Himmel gesehen haben. Es mag kaum verwunderlich sein, dass Krähen auf andere Geschöpfe zynisch, höhnisch und unheilsversprechend wirken. Eine Krähe sieht, dass die Welt gleich ist – in der Wirklichkeit unter distanzierten Sternen, erwartet jeden das gleiche Schicksal. Der Tod ist gerecht, denn er kommt zu jedem und wie in vielen alten Mythen besungen ist es die Krähe, die die Seelen der Verstorbenen in das Jenseits geleitet, aber nur bis zur Schwelle. Sie ist selbst dazu verdammt bis ans Ende aller Tage hier zu verharren und wenn sie stirbt, bringt die Krähe die kommt um ihre Seele zu sammeln, diese wieder zurück. Dies macht die Krähen bitter, und auch wenn ihr Federkleid so gar nicht wirklich schwarz ist, würden die anderen Wesen es so sehen können wie es ist, so sehen sie es doch nicht ganz zu Unrecht in jenem tristen Ton.
Eine Krähe müsste schon Mitleid empfinden können um noch Hoffnung zu hegen.
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#4
Die Freundin und die Angst des Froschs

Und so kam es, dass die Freundin auf einem Baum, am Rand eines Waldes, welcher zu einem Sumpf führte, landete. Die Freundin war müde von ihrem Flug, und begann sich im Schatten der Blätter die Flügel zu putzen. „Ich weiß was du hier willst! Obwohl ich dich nicht genau sehen kann, weiß ich es sehr genau, Elster!“ quakte da der Frosch von seinem Tümpel aus, während er seinen nebligen Blick auf die Wipfel des Baumes richtete. „Du bist gekommen um meinen Laich zu verschlingen, doch ich sehe dich sehr genau! Seit Jahren nenne ich diesen Teich mein Heim, und viele andere Tiere kamen und gingen, doch auf dich habe ich ein wachsames Auge!“ quakte der Frosch abermals, „...also zeig dich ruhig.“ Doch die Freundin verharrte im Schatten und legte das Haupt schief und betrachtete den Frosch und als sie ihn betrachtete, regte sich in ihrem Herzen Mitleid. Er hielt sie für eine Elster und befürchtete so sehr, dass sie sich über das hermachen würde, was ihm am wichtigsten war, wo eine andere Krähe ihn wahrscheinlich selbst einfach verschlingen würde. „Zeig dich! Du bist längst erkannt“, quakte der Frosch weiter, und zu dem Mitleid gesellte sich Sorge – denn während er so quakte, und seine Aufmerksamkeit ganz auf die vermeintliche Elster richtete, machte er nicht nur lautstark auf sich aufmerksam, sondern ließ auch gänzlich jegliche Wachsamkeit für seine Umgebung fahren. Am liebsten hätte die Freundin ihn zur Obacht ermahnt, doch da dämmerte ihr, dass der Frosch ihre Mahnungen für Täuschung halten würde, solange sie sich im Schatten verbarg und dass auch ihr wahres Antlitz zu offenbaren das Misstrauen des Froschs nur verschlimmern würde. Und so zog die Freundin weiter, da sie auch dem Frosch kein Leid wünschte. Und so sah der Frosch die Freundin nie wieder.
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#5
Der Tod der Schlange


Die Schlange kannte man als ein gefährliches Tier, als ein Tier, dessen Gift langsam tötete, lange nach dem Biss. Was noch weniger wussten ist, dass es sich bei der Schlange um ein sehr weises Tier handelte – so hieß es in alten Legenden, dass die Geschichte des Universums auf ihren Schuppen geschrieben und ihr somit offen stand. Für die meisten Tiere blieb die Schlange allerdings ein sehr gefährliches Tier, und so entschied der Kranich die Katze, seine treuste Untergebene, zu schicken. Die Katze und die Schlange hatten oft miteinander gekämpft, jagten sie doch beide ähnliche Beute, aber nie gingen sie bis aufs Äußerste, da beide stets fürchten mussten, bei einer kleinen Unaufmerksamkeit in einem kurzen, grausamen Kampf ihr Leben zu lassen. Dazu kam, dass die Katze vor nicht allzu geraumer Zeit im Kampf um eine erbeutete Krähe auf einem Auge geblendet wurde – so umschlichen die Katze und die Schlange einander lediglich. Die Katze war allerdings auch eine Streunerin, stets schwer zu finden – er brauchte stets jemanden, der seine Nase nur zu gern in das steckte, dem andere keine Gedanken mehr widmeten, um sie zu finden. So kam es, dass der Kranich seine Botin ausschickte, die Ratte, um mit der Katze zusammen einen Plan zu ersinnen, wie man die Schlange vertreiben könne. Nun waren die Katze und die Ratte aber uralte Feinde. Während die Katze ein Freigeist war, war es das tiefste Bedürfnis der Ratten, nach allem ihre Pfoten auszustrecken dessen sie habhaft werden konnten, so viel zu besitzen wie es nur ging, und zu kontrollieren wen man nur kontrollieren konnte. Ganz zu schweigen davon, dass die Katze stets ihren angestammten Platz im Hause des Menschen unter der Prämisse Ratten zu töten hatte. Die Katze wusste, dass sie die Ratte nicht einfach töten konnte, sie war schließlich eine Botin des Kranichs, und die Ratte wusste, dass sie besser nicht allein erschien, wenn sie nicht Schwanz oder ein Ohr bei einer Unterredung lassen wollte. Die Diskussion war eine hitzige und beide Seiten witterten Tücke und Verrat, aber sie entschieden, dass man gemeinsam den Angriff auf die Schlange wagen sollte. Wenn die anderen Ratten die Schlange ablenkten, hätte die Katze genug Zeit um die Schlange zu töten, bevor jene zum zweiten tödlichen Biss ansetzen konnte. So stellten sie die Schlange nahe ihres Nests, und jene schien sehr verwundert, als die Ratten zusammen mit der Katze erschienen. Ohne Zeit zu verlieren griff die Katze an und die Schlange verteidigte sich. Auf den ersten Pfotenschlag, folgte der erste giftige Biss. Die Schlange allerdings bemerkte, dass keine der Ratten sich an dem Kampf beteiligte – und als ihre Weisheit sie zum innehalten brachte und sie dazu ermahnte dass nicht die Katze hier ihr Feind war und sie plötzlich begriff was die Ratten eigentlich vorhatten, war es um sie geschehen. Die Schlange war tot und die Katze vergiftet, verletzt und außer sich vor Zorn und als sie die Ratten zur Rede stellen wollte, griffen diese sie an. Ein weiterer wilder Kampf entbrannte, und als die Katze siegreich war, sank sie schwer verwundet, vom Gift geschwächt, sterbend zu Boden. Und als sie müde und dem Entschlafen nahe zwischen den toten Ratten umher blickte, erblickte sie „die“ Ratte nicht. „Du siehst richtig. Ich habe keine Kralle gerührt. Der Auftrag ist erfüllt. Danke dafür. Nun da du wohl nicht mehr länger bei uns bleiben wirst, wird der Kranich eine neue Vertraute brauchen. Auch danke dafür. Und nun wo die Schlange tot ist, ist ihr Nest unbewacht. Abermals stehe ich in deiner Schuld. Und weil du so gut warst die anderen Ratten umzubringen, werde ich weder die Eier der Schlange, noch den Dank des Kranichs teilen müssen. Auch hierfür danke. Und nun wo die Schlange tot ist wird es außerdem niemanden mehr geben der meine Pläne so leichtfertig durchschaut.“ fiepte die Ratte voller süffisantem Hohn ehe sie in dem Nest der Schlange verschwand. Die Katze verfluchte diesen Tag als den Tag an dem sie sich mit einer Ratte eingelassen hatte...doch nicht lange – ihr wehklagendes Miauen verstummte, als sie das sanfte Schlagen mächtiger, schwarzer Schwingen vernahm, als die Freundin nahte um die Seele der geschundenen Katze an einen besseren Ort zu tragen.
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#6
Die Lektion der Krähe

Eine ganze Weile noch bevor es die Freundin gab, da gab es eine andere Krähe, der Freundin gar nicht so unähnlich. Diese Krähe war ohne Eltern aufgewachsen und hatte so sehr früh gelernt allein zu überleben und dass dafür, wenn man nicht gerade ein Mensch war, nicht einmal viel nötig war. Vielleicht hatte sie einfach nur Glück oder einfach nur besonders gut darin eine Krähe zu sein; sie kam auf jeden Fall auch auf sich gestellt stets gut über die Runden. Wenn Krähenschwärme sie dabei beobachteten wie sie einem gefährlichen Tier das Futter stahl, feuerten sie sie krächzend an und verspotteten im gleichen Atemzug das Opfer. Und sie genoss dies - es spornte sie zu Höchstleistungen an. Ja, sie genoss es eine Krähe zu sein, besonders weil sie so gut darin war.
Mehr als alles andere aber liebte sie es Menschen zu überlisten und von ihrem Tisch zu stehlen. Menschen hatten stets mehr als sie brauchten und als Krähe sah sie es als ihre persönliche Pflicht an, die Menschen an die Vergänglichkeit gehorteter Dinge zu erinnern.(1) Doch dies rächte sich als sie eines Tages vom Tisch einer Jägersfrau stahl. Außer sich vor Wut folgte ihr Mann, der Jäger, der fliehenden Krähe in den Hof und als die Krähe sich in luftiger Höhe in Sicherheit wähnte, warf der Jäger einen Stein nach ihr. Und da der Jäger ein Jäger war und besonders gute Augen hatte, verfehlte er auch nicht. Die Krähe sah den Stein nie kommen, dessen Aufschlag sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf beförderte. Und so begann die Lektion der Krähe.
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(1) In ihrer Rolle als Todesboten und Führer der Seelen, sind Krähen doch selbst im Kreislauf von Leben und Wiedergeburt gefangen. Sich dessen vollends bewusst, ist der Blick einer Krähe auf das Leben ein anderer, und all unsere sterblichen und weltlichen Belange, sind für die meisten Krähen aus ihrem Blickwinkel heraus lediglich Ziel von Hohn und Spott.
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#7
Das blinde Mädchen

An dieser Stelle hätte dieser Teil des Märchens nun zu Ende seine können, aber da Dinge mit einer Krähe nie so einfach sind und kein Scharlatan, Possenreißer oder Angeber je ohne seine gerechte Lektion davonkam, fängt dieser Teil des Märchens gerade erst an.
Die Krähe starb nicht an Wurf und Sturz, aber infolgedessen ging es ihr auch nicht gut. Sie hatte viele Federn gelassen und sich obendrein, in bewusstlosem Sturz aus luftiger Höhe, die Flügel gebrochen. Für jede Krähe hätte die Geschichte damit ihr Ende gefunden, denn sie wäre dazu verdammt gewesen zu verhungern oder hilfloses Opfer streunender Raubtiere zu werden. Aber dies ist immer noch ein Märchen, die Krähe hatte ihre Lektion noch nicht gelernt und letztlich gab es da ja immer noch das blinde Menschenmädchen.
Das blinde Mädchen war vom Schicksal hart getroffen - nicht nur war das junge Ding blind, sie war außerdem Waise und sehr arm. Sie lebte im Armenviertel der Stadt Löwenstein und im Gegensatz zur Krähe hatte sie größte Mühe für sich selbst zu sorgen. Doch als sie, zufällig, die bewusstlose Krähe als Erste auf der Straße fand, hatte sie Mitleid mit dem Tier, und nahm es mit sich. Da das arme Mädchen aber blind war, erkannte es nicht, dass es sich hier um eine Krähe handelte. Und so gelangte die Krähe in die Obhut des blinden Mädchens.
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#8
Schwarze Kleider und schwarze Herzen

Fortan kümmerte sich das blinde Mädchen um die Krähe und die Krähe begriff die Umstände ihres Glücks nur zu schnell. Kein Mensch würde sich je eine Krähe halten, eine Todesbotin - und so schwieg sie stets, war doch ihr kräheneigenes Krächzen das einzige, das dem Mädchen die wahren Farben ihrer Federn hätte zeigen können.
Oft konnte die Krähe das Mädchen weinen hören - besonders des Nachts, wenn das Mädchen an seine Eltern dachte. Es ist für gewöhnlich die Art der Krähen über Menschen aus sicherer Ferne zu spotten wenn diese trauern, vor allem wenn es um den Tod geht, doch musste unsere Krähe ihr verräterisches, hähmisches Krächzen zügeln, denn sie war noch weit davon entfernt wieder fliegen zu können.
Nie zuvor hatte so eine Krähe einem trauernden Menschenkind aus der Nähe in die Augen gesehen - bis unsere Krähe vor dem Mädchen hockte, gezwungen zu schweigen, und es jenes aus der Nähe seine Tränen endloser Trauer vergießen sah. Da vergaß die Krähe einen kurzen Moment, dass sie eine Krähe war und empfand Mitleid.



Weil Krähen niemals weinen

Lange verweilte die Krähe bei dem Mädchen, welches die Krähe, auch wenn sie selbst kaum etwas hatte, fütterte und sie beschützte, auch wenn sie blind war. Und auch wenn es den gebrochenen Flügeln der Krähe von Tag zu Tag besser ging, wurde das Herz der Krähe doch mit jedem verstreichenden Tag schwerer. Denn die Krähe konnte nun die Güte des Mädchens erkennen, während sie selbst das Mädchen doch täuschte. Denn leider brauchte sie das Mädchen und so sehr sie es doch wünschte sich ihrer Wohltäterin zu erkennen zu geben, so war die Angst fortgejagt zu werden doch zu groß. Und so gingen die Tage dahin, bis die Krähe wieder bei Kräften war und ihre Flügel wieder schlagen konnten.
Da wollte die Krähe es wagen und erhob ihre Stimme, doch es kam wie es kommen musste: Als das Mädchen die Krähe als solche erkannte, erkannte sie auch, dass die Krähe sie getäuscht und ausgenutzt hatte. Die Krähe wollte dem Mädchen die Lage erklären und wie sie empfand, und krächzte laut und protestierend, doch für das Mädchen klang es nur nach dem gleichen Krächzen mit dem Krähen sich seit Menschen Gedenken über das Leid anderer lustig machten.
Und als die Krähe schweren Herzens davonflog, weinte das Mädchen bittere Tränen.
Manche Menschen würden es als Segen betrachten einer Krähe gleich nie weinen zu können. Doch lass mich euch sagen: Zu weinen ist nicht schändlich, nie ist es unangebracht oder eine Träne vergebens. Also weint eure Tränen, aus tiefstem Herzen - und wenn ihr dabei seid, weint eine Träne für die Krähe.
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#9
Das Ende

Das Ende einer Geschichte - immer ist es ein schwieriger Punkt. Vieles mag nicht gesagt worden sein das von Bedeutung ist, aber dann wiederum... was ist in einer Geschichte von Bedeutung? Es ist doch, was die Leser und die Zuhörer an Bedeutung in diese Geschichte steckten. Dieses Märchen - nun - viel ist von diesem Märchen nicht bekannt und viele Teile werden von zukünftigen Generationen wohl anders erzählt werden. Aber das Ende - das wunderschöne Ende, der einzige zuverlässige Freund im Rahmen dieses wirren Narrativs - vielleicht mag es von Bedeutung sein. Und vielleicht ist man sich daher nicht umsonst bezüglich des Endes einig. Was davor war? Nun... lasst mich euch sagen: Genug um die Lebenszeit einer Krähe zu füllen. Einer Krähe die mehr war als eine Krähe - oder weniger.:


...und als das Lied der Nachtigall schwächer wurde, konnte die Freundin das Geräusch mächtiger Schwingen vernehmen. Und während das Lied der sterbenden Nachtigall so schön klang wie niemals zuvor, war alles was die Freundin hervorbringen konnte ein Krächzen – ein tränenloses Krächzen, denn leider ist es Krähen auch nicht vergönnt zu weinen. Und als die Todesbotin landete, deren Schwingen die Freundin hörte, schlug deren Herz in einem Rhythmus unendlicher Trauer. Die Todesbotin sah die Trauer ihrer Artgenossin und sie richtete das Wort an sie: „Du bist die eine der unseren die Mitleid empfindet. Einst rettetest du meine Mutter und versorgtest mich und meine Geschwister.“ Doch die Freundin antwortete nichts darauf, denn Mitleid schüttelte ihr Herz. Mitleid darüber, dass die Nachtigall nun sterben soll, ohne je wahres Glück gekannt zu haben. Die Todesbotin sah den Gram der Freundin und ein kleiner Funke jener für Krähen dummen, närrischen Emotion begann sich im Herzen der Botin auszubreiten als sie erwiederte: „Du warst immer gut zu uns und auch wenn die Götter mich dafür verfluchen werden, will ich dir deinen sehnlichsten Wunsch erfüllen.“ Unfähig auch hierfür eine Träne des Danks zu vergießen beugte sich die Freundin über die sterbende Nachtigall und sprach die einzigen Worte, die je von Bedeutung waren: „In deinen grauen Augen, habe ich den blauen Himmel gesehen...“ Und als der Schmerz der Nachtigall schwand, flogen die Botin und die Freundin fort. Die Botin hielt ihr Versprechen. Jemand war gestorben – eine Seele wurde auf die andere Seite gebracht. Doch war es nicht die Seele der Nachtigall. Und so war die Seele der Freundin die Seele der ersten Krähe, die aufgrund des Mitleids, ihren Weg ins Himmelreich fand.
Die Götter waren verwirrt als sie die Seele der Krähe empfingen und sie waren bestürzt als sie sie ergründeten. Einen Tag erschien auf der Welt die Sonne nicht, als die Götter sich berieten. Und als am nächsten Tag die Sonne aufging, sahen alle Krähen, außer der Freundin, zum ersten Mal den blauen Himmel, auf dass kein Wesen fortan mehr ohne Hoffnung leben sollte.
Werden wir eine Seele wie die der Freundin jemals wieder auf Erden erblicken? Wahrscheinlich nicht, nicht heute und nicht in tausend Jahren. Es sei denn wir haben Hoffnung.
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