Götterreisen
#11
9. Tag - Gwynn

Eine lange Zeit war vergangen, in der sie ihre Götterreise hatte unterbrechen müssen, doch nun war sie bereit, diese wieder aufzunehmen. Sie war unbeschadet aus all den Bedrohungen und Kämpfen, die das untote Wesen heraufbeschworen hatte, hervor gegangen und allein diese Tatsache zeigte ihr, dass sie nicht verlassen war, dass die Götter ihr nicht zürnten.

Als sie den in vollkommener Ruhe daliegenden Platz erreichte, erstieg sie die Plattform und legte in dessen Mitte einen besonders schönen Bogen, der aus zweifarbigem Holz gearbeitet war, sowie einige Knochenwürfel ab.

Dann ließ sie sich auf die Knie nieder und senkte demütig das Haupt, um dann in inbrünstigem Tonfall die Stimme zu erheben:

"Gwynn, Gott des Kampfkunst und des Glückes, erhöre deine Tochter!

Ich möchte dir danken, dass du meine Hand und mein Auge lenktest, um stets dem Feind zu schaden und nicht dem Freund, in den dunklen Stunden der Bedrohung!

Ich möchte dir danken, dass du mir das Geschick und das Glück verliehen hast, aus jedem Kampfe unverletzt hervor zu gehen!

Gwynn, höre deine Tochter! Nimm diesen Bogen und diese Würfel als Opfer für die Schuld, die ich auf mich geladen habe! Nimm dies als Zeichen meines Dankes!"



[Bild: gwynnn1sj3.jpg]
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#12
Eine schlaflose Nacht lag hinter ihr. Die Ereignisse des vorangegangenen Abends hatten ihr die erholsame Ruhe verwehrt. Immer wieder kreisten ihr düstere Gedanken durch den Kopf:

"Annullierung der Ehe! Ketzerei! Blasphemie! Kerker! Verbrennung!

Was blieb, ausser Flucht und Aufgabe?

Musste sie wirklich alles aufgeben, was ihr wichtig war, um weiterleben zu können? Dabei waren es Menschen wie Konrad Veltenbruch gewesen, die sie ermutigt hatten, genau das zu tun, was sie getan hatte. Sie hatte nicht gefrevelt, ausser ihren eigenen Göttern vielleicht, doch diese hatten sie immer wieder spüren lassen, dass sie nicht von ihnen verlassen war."


Im Morgengrauen des kalten anbrechenden Tages machte sie sich auf zur Statue. Vielleicht würde sie hier die Erkenntnis erlangen, nach der sie in diesen verzweifelten Stunden suchte. Die dunkelste ihrer Schicksalsgötter und die stärkste. Sie kniete nieder, senkte das Haupt und ließ die Geschehnisse ein weiteres Mal Revue passieren.

"Da wagte ein Mann, der sich Hochwürden und Oberhaupt der Kirche nannte, ihr eine Buße aufzuzwingen. Die Frage war nur: Wofür?

Sie waren in die Mine gegangen, um zu sehen, ob dort Erze vorhanden waren und um herauszufinden, was diese armseligen Kreaturen, die sich man allgemein als Räuber bezeichnete, dort hielt. Und ihnen war ein Kind in die Hände gefallen, ein Junge, der nur knapp das Mannesalter erreicht hatte und in seiner Angst kaum imstande war, ihnen genauere Angaben zu machen. Er sprach immer nur wieder von 'dem Zeug', welches ihnen da unten die Krankheiten vom Leibe hielt. Er sprach von einem Magier, oder einem Hexer, der seinem Hauptmann diente. Doch kannte so ein Kind den Unterschied zwischen einem Magier und einem Hexer überhaupt? Und er hatte ihnen erzählt, dass, wenn sie die Mine einfach stürmen würden, 'das Zeug' im See landen würde, an dem Igor sich meist aufhielt.

Wäre es da richtig gewesen, die Kirche zu informieren? Worüber überhaupt? Über vage Vermutungen? Und was wäre das Resultat gewesen? Sie hatte es erlebt, während der Bedrohung durch das mächtige, untote Wesen. Dort war eher mit einem Holzhammer, anstatt mit Feingefühl und Verstand vorgegangen worden. Die Benachrichtigung der Kirche zu so einem frühen Zeitpunkt hätte mit Sicherheit alles ruiniert. Und so hatten sie Sam hinuntergeschickt und sie war erfolgreich gewesen. Zumindest eine kleine Probe 'des Zeugs' hatte sie von dort mitbringen können.

Und genau das wurde ihr nun zum Vorwurf gemacht? Dass sie einer Spur nachgegangen waren? Dass sie erfolgreich waren? Dass es sich vielleicht um ein Heilmittel handelte? Und dass sie die Kirche nicht informiert hatten? Das war unglaublich lächerlich.

Könnte so ein Mensch wirklich die Gnade und den Segen irgendeines Gottes erfahren haben? Konnte es sein, dass dieser Gott des Lichts durch ihn wirkte? Wenn dem so war, dann war Mithras nicht gnädig. Dann war er kein Gott des Lichtes, sondern der Dunkelheit. Dann wurden all die Menschen, die an ihn glaubten getäuscht. Aber warum an einem Gott zweifeln, wenn es doch die Menschen waren, die den Glauben so verzerrten?"


Nachdem sie eine Weile so gekniet hatte, ordneten sich ihre Gedanken langsam wieder.

Sie ging zurück zum Hof und wählte einen jungen, starken Hengst aus, den sie zu Morrigú brachte. Sie tätschelte ihm beruhigend den Hals, während sie mit den Fingern der rechten Hand den Hals entlang fuhr, bis sie den kräftigen Puls des jungen Tieres durch die Adern spüren konnte. Ein kleiner Stich nur, der das Tier kaum aufregte, nur für ein unwilliges Schütteln des Kopfes sorgte und das rote, warme Blut ergoß sich im kräftigen, regelmäßigen Strahl im Takt des Herzens auf den Boden und den Fuss der Statue. Es dauerte nicht lange, bis das Tier müde zusammenbrach, ganz unaufgeregt, als würde es sich schlafen legen. Dann war es vorbei. Mit raschen Schnitten des langen Dolches wurde der Bauch geöffnet und das noch warme Herz aus den Eingeweiden gerissen. Mit beiden Händen hielt sie es hoch, nun selbt blutüberströmt und richtete ihre Worte an Morrigú:

"Herrin, erhöre deine Tochter! Nimm dieses Opfer als Dank für deine Gaben! Als Dank für deine Gnade und deine Stärke! Segne deine Tochter mit Mut und dem Kampfeswillen, dies durchzustehen! Hilf deiner Tochter, den Frevlern den Untergang zu bereiten! Und wenn es Dein Wille ist, Herrin, so erwähle mich als deine Braut!"

Dann legte sie das in der kalten Luft dampfende Herz der Göttin zu Füssen.


[Bild: morrigu3kqo2d.png]
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#13
Vollmond!

Sie war so unglaublich erleichtert und als Zeichen stand der Vollmond in aller Klarheit am Himmel. Nur im Schein einer Fackel breitete sie die Bergkristalle und Opale im Keller auf einem dunklen Tuch aus, um die schönsten auszuwählen. Sechs Bergkristalle und ein milchig-weißer Opal wanderten schließlich in ihre Tasche, ehe sie den Keller wieder verließ. Als sie den Weg zum Tor entlang ritt, erschien es ihr wie eine Ironie des Lebens, das ausgerechnet Morkander im Gespräch mit einer älteren Frau dort stand - aber sie grüßte nur und ritt weiter.

Das Pferd wurde im großen Stall abgestellt und sie zog sich eine dunkle Robe mit weiter Kapuze über, die ihr Gesicht gut verdeckte. Dann überquerte sie den Weg, sich vergewissernd, dass niemand in der Nähe war, ehe sie den Friedhof betrat. Die Bergkristalle wurden im Kreis auf den Boden gelegt, der Opal folgte als Mittelstein. Dann öffnete sie beide Hände, die sie wie zwei Schalen vor sich hielt und wendete den Blick zum Mond, der hell und klar am Himmel stand:

"Galates, erhöre deine Tochter! Nimm dies als mein Opfer, dass du mich vor Ungerechtigkeit und Lügen bewahrt hast! Beschütze mein Kind vor dem Einfluss böser Kräfte und bewahre mein Geheimnis!"

Für einen Moment schob sich eine kleine Wolke über das Antlitz des Mondes und es schien ihr, als würde er ihr zuzwinkern. Ein Gefühl der Dankbarkeit durchflutete sie und nach all der Zeit spürte sie, wie die große Anspannung endlich von ihr lies.


[Bild: galates8ykti.jpg]
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#14
Anu:

Manchmal ist es nur ein kleiner Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Oder ein Sandkorn, welches die Waagschale in die ein oder andere Richtung ausschlagen lässt.
Manchmal erwischt es einen, wenn man sich entspannt und geborgen fühlt. Wenn man sich an Daheim erinnert und wie es damals war.
Manchmal kommt der Schlag so unerwartet, aus dem Nichts, dass man ihm nicht mehr ausweichen kann. Dann trifft es einen umso härter.

An diesem Abend war es nur die Beleidigung einer heuchlerischen, dummen Mißgeburt eines Mannes, der ihr buchstäblich nichts bedeutete und der sie mit etwas Spucke und einer dummen Bemerkung auf die Bretter schickte. Normalerweise hätte sie das mit einem Lächeln abtun können, aber sie war offen, freundlich, verletzlich und unvorbereitet. Und so brach alles zusammen.

Sie wollte nur noch fort, heim, zu ihrer Familie. All das hinter sich lassen. Heim zu den Menschen, denen sie vollkommen vertrauen konnte. Wo sie nicht hinter jeder Ecke Missgunst, Habgier, Arroganz und Gleichgültigkeit vermuten musste. Heim zu den Menschen, die sich nicht nur in ihrer Egozentrik als den Nabel der Welt sahen.
Selbst die Menschen, die ihr hier näher standen, als alle anderen, konnten sie in ihrem Leid nicht trösten, die Schranken waren gebrochen und all ihr Kummer stürzte in einem Strom aus Tränen hervor.

Und so gaben die Götter ihr ein Zeichen: Mit nur wenigen Wehen wurde Marlene Margarete Jehann geboren. Unvorbereitet und zu früh. An einem Ort, den man wohl nur als Heuschober bezeichnen konnte, mit undichtem Dach, durch das der Wind pfiff und die Kälte eindrang. Ein winziges, schrumpeliges Mädchen, einem Fröschlein ähnlicher, als einem Säugling.

Als es vorbei war und sie ihr Kind in den Armen hielt, wusste sie das noch etwas getan werden musste. Aber die Person, die es hätte tun sollen, war bereits gegangen. Sie hatte sich alles so anders vorgestellt, es sich anders gewünscht. Als alle gegangen waren, wusch sie sich, zog sich um und nahm das blutige Laken mit der Nachgeburt in die eine und eine Laterne in die andere Hand und ging die wenigen Schritte in den Wald, zu dem großen Felsen. Sie kniete sich hin und begann mit bloßen Händen eine kleine Kuhle zu graben, direkt am Fusse des Menhirs, legte das Bündel hinein


[Bild: anu338ksz.png]

und erhob ihre Stimme zu Anu:

"Mutter Anu, höre mich an!"

[Bild: anu2ckk2t.png]

[Bild: anu1x7kb0.png]

Als die frischgebackenen Eltern endlich am unteren Hof in die ungewohnten Betten fanden, die Kleine zwischen sich, kreisten ihre Gedanken weiterhin um das Zeichen. Was hatte es zu bedeuten?

Bleiben oder gehen?

Bleiben, um diesen schwächlichen Säugling aufzuziehen, ihm all das zu geben, was sie nun brauchte? Oder gehen, weil sie ihre Schuldigkeit getan hatte? Sie hatte das Kind - eine Jehann - zur Welt gebracht und die Familie würde sich gut um sie kümmern, das war sicher.

Bleiben oder gehen?
Bleiben oder gehen? ...
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#15
Frühjahrsmond

Bei Vollmond geschehen merkwürdige Dinge, so sagt man. Von Widergängern und lebenden Toten, von großen Flatterwesen und raubtierbezahnten Bestien ist in alten Geschichten die Rede. Der Mond breitet sein silbernes Licht über die Welt und lässt die Schatten dunkler werden, als in der dunkelsten Nacht.

Bei Vollmond suchen einen die Geister und Dämonen in den Träumen heim, so sagt man. Und rauben den Schlaf oder verleiten den Unruhigen zu schlafwandlerischen Pfaden.

Bei Vollmond geschehen merkwürdige Dinge.

Zwei Frauen und ein Pony gehen den Pfad entlang, hinein in den Wald, dessen Wipfel vom ersten fahlen Mondlicht angestrahlt werden. An einer großen Statue machen sie halt und erleuchten den Platz mit einer Laterne.

[Bild: vollmond175xc7.png]

Die Stille der Nacht.


Der sirrende Laut einer gezogenen Klinge; das leise Wiehern eines Pferdes; das pulsierende Plätschern des Blutes; der Laut, der entsteht, wenn man dicke Haut durchtrennt und Fleisch herausreißt; leises Tropfen auf trockene Blätter.

Die Stille der Nacht, ehe die Frau ihre Stimme erhebt in eindringlich, inbrünstigen Worten und mit beiden Händen das dampfende Herz zu der Rasenden, der Kriegerin, der Grausamen und Starken anhebt, um das Opfer darzubringen.

[Bild: vollmond3bqz5x.png]

Das Blut glitzert wie erstarrtes Silber auf den Stufen, dem Boden, auf den Händen, der Kleidung und im Gesicht der Frau, vom Vollmond beschienen.

Leise geflüsterte Worte zwischen Schwestern.

Trost und ein neuer Weg. Frühjahrsmond.
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#16
Ein Neuanfang:

Als sie aus dem leichten Dämmerzustand erwachte, brauchte sie einige Zeit, um sich zurecht zu finden. Es war dunkel und in der Ferne hörte sie das Rauschen des Wasser. Die Kopfschmerzen waren unerträglich, sie fror und beinahe jeder Knochen und Muskel taten ihr weh, von der unbequemen Haltung, in der sie wohl eingeschlafen sein musste. Aber erst der etwas direktere Schmerz an den Innenseiten der Unterarme und Handgelenke ließen die Erinnerung an den vorherigen Abend schlagartig zurück kehren.

Sie streckte sich und schaute zum Himmel hinauf. Auch wenn es hier keine Sicht auf den Horizont gab, konnte man den Morgen im Osten schon erahnen. Es wäre gut, noch ein wenig Schlaf zu bekommen, also schlurfte sie - einer alten Frau ähnlicher, als der, die sie war - zum Zelt und legte sich so wie sie war auf das einfache Bett, zog die Felldecke über sich und schloß erneut die Augen.

Doch der dringend benötigte Schlaf wollte sich nicht so leicht einstellen. Immer wieder kreisten ihre Gedanken um die letzten Tage, in denen sich ihr Leben so radikal verändert hatte.

Gefühlt hatte sie es schon lange, nur wahrgenommen hatte sie es nicht, oder beiseite geschoben, so wie man unliebsame Erinnerungen beiseite schiebt. Doch am Anfang der Woche war sie dann endlich bereit diesen Schritt zu gehen, was auch immer er für sie bedeuten mochte. Sie hatte alles aufgegeben, wofür sie lange und hart hatte arbeiten müssen. Ihr Heim, ihre Bindungen an Zweitürmen, ja sogar die letzten Bande zur Jehann-Familie würde sie kappen. Selbst für Marlene würden die Umstände ihrer Zeugung und Geburt nur noch vage Schatten sein, so hoffte sie jedenfalls.

Und freundlicher als erwartet, hatte man ihr eine Zuflucht gewährt. Einfach, doch sicher. In den ersten beiden Nächten war sie dutzende Male durch das nahe Kreischen der Harpyien hochgeschreckt und hatte automatisch zum Bogen gegriffen, das Zelt dämpfte keinen dieser Laute. Aber merkwürdigerweise fühlte sie sich wohl und auch Marlene schien sich rasch an die neue Umgebung zu gewöhnen.

Dann kam der Tag ihres ersten Opfers für das Faun-Reich. Elda würde ihr die Runen ihrer Schicksalsgötter in die Haut ritzen, oder brennen, oder malen. Sie war mit den Techniken nicht genau vertraut. Sie war sich sicher, dass sie dies Opfer erbringen wollte, aber dennoch unsicher, was genau auf sie zukommen würde. Lange saß sie an jenem Nachmittag hinten am Schrein, um sich auf das Ritual einzustimmen, nur ab und zu abgelenkt durch Marlene, die die neue Umgebung auf ihre eigene Weise erkundete, halb krabbelnd, halb laufend, immer mal wieder etwas in den Mund steckend, um es auch schmecken zu können. Solange es ihrer kleinen Tochter nicht gefährlich wurde, ließ sie sie gewähren.

Als der Abend sich näherte, band sie Marlene mit einem einfachen, aber weichen Band an einem etwas abseits gelegenen Strauch fest und stieg, so wie die Götter sie erschaffen hatten, in das kalte Wasser des kleinen Bergsees. Es gab eine Stelle nahe des Wasserfalls, die beinahe so schön war, wie der Ort, den sie immer als ihren Lieblingsort in diesem Teil Amhrans empfunden hatte und dort verbrachte sie einige Minuten, sich von dem wilden Wasser umspielen lassend, während von weit hinten das wütende Geschrei der angebundenen Marlene zu ihr herrüber schallte. Mit einem leisen Seufzer löste sie sich und schwamm zurück ans Ufer. Die saubere Kleidung lag bereit, ebenso wie ein Handtuch und auch Marlenes Geschrei verstummte, als sie ihre Mutter aus dem Wasser kommen sah.

Fröstelnd zog sie sich rasch an, immerhin war es ein recht warmer Tag gewesen und die Sonne hatte die umliegenden Hänge und Felsen aufgewärmt. Sorgfältig bürstete sie ihr Haar und schließlich erlöste sie ihre Tochter von dem Band, um mit ihr anschließend in der Taverne ein einfaches Abendessen einzunehmen.

Sie war sehr erleichtert, als Inara kam, ihre engste Vertraute und Freundin - ihre Schwester. Sie würde nicht allein sein und das gab ihr Sicherheit. Und dennoch war sie in keinster Weise darauf vorbereitet, was danach geschah ...
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#17
Sie gingen zum Schrein und Elda traf ihre Vorbereitungen. Felle wurden auf die Erde gelegt, ein Kohlebecken entzündet, die Instrumente - in diesem Fall eine Knochennadel, Faden und ein Tintenfass, sowie Bandagen - bereit gelegt und ein Eimer Wasser daneben abgestellt. Beide hockten sich auf die Felle einander gegenüber und dann erklärte ihr Elda, dass sie nun einige Kräuter verbrennen würde. Sie solle den Rauch tief einatmen. Ein kleines Nicken nur, dass sie die Worte vernommen hatte, als sich auch schon der Rauch der verbrennenden würzig riechenden Kräuter in den Himmel kringelte.

Als er sie erreichte, atmete sie mehrmals tief ein und nur wenige Augenblicke später schien sich ihre Welt mehr und mehr zu verändern. Die Farbe grün stach ihr zuerst ins Auge, so etwas grünes hatte sie noch nie gesehen. Das sie umgebende Gras schien beinahe zu leuchten. Und dann die Glut des Kohlebeckens und der kleinen Flammen, die aus ihr emporzüngelten. Die Farben der Sonne konnte sie darin erkennen, hell gelb-gold und leuchtend rot, wie ein Sonnenuntergang, violett und blau an den Rändern. Und mit jedem tiefen Atemzug, den sie tat, nahmen die Wahrnehmungen zu. Das Gras um sie herum schien zu wogen, wie ein reifes Kornfeld im Sommerwind und dann spürte sie die Ameisen, die sich durch den grünen Wald kämpften, auf der Suche nach Beute. Eine ganze Strasse von Ameisen, einige schwer bepackt, andere, die ihnen entgegen kamen. Ein Grashüpfer, der mit einem langen, eleganten Sprung über ihre Köpfe hinwegsauste. Ein kleiner Käfer, der sich mühsam versuchte, in Sicherheit zu bringen, sich durch die hohen Grashalme kämpfend und dennoch der anrückenden Armada von Ameisen unterlag.

Das Rauschen des Wasserfalls war überdeutlich zu hören, aber ihr war fast, als könne sie jedes Tier in der Nähe erspüren, sogar die Fische, die sich in dem kleinen Bergsee befanden. Der Schrei eines Falken hoch über ihren Köpfen, der Warnruf einer Drossel, das Schnauben der Pferde, ein Regenwurm, der seinen Kopf aus der Erde streckte und ebenso rasch wieder verschwand, eine Schnecke, die sich rasch in ihr Haus zurück zog. Überall um sie herum war dieses reiche Leben, dem man sonst kaum Aufmerksamkeit schenkte.

Doch auch sie wurde recht schnell wieder in die Realität zurück gerufen, als Elda den ersten Stich am rechten Unterarm setzte. Ihre ganze Konzentration fokussierte sich auf das, was nun kam. Schon beim zweiten Stich wurde sie von Gefühlen überschwemmt, die sich langsam, wie die aufsteigende Flut in ihr breit machten. Das Gefühl von Verlust, Hoffnungslosigkeit, Schmerz. Schmerz über eine verlorene Liebe, so stark, dass sie meinte, ihr Herz würde zerspringen. Wo war sie, die Schöne, Weiße, Elegante mit dem gebogenen Hals, die er anbetete? Wo war er, der Starke, Liebevolle, Sanfte, Gütige, den sie von ganzem Herzen liebte? Während die Rune Chronos auf ihrem Unterarm Gestalt annahm, breitete sich das Wasser immer mehr aus, als würde eine große Ebene von ihm überspült, um dann schließlich zurück zu weichen, Leere, aber auch Trost hinterlassend, in dem Wissen, dass sie nicht die ersten und nicht die letzten waren, die diesen Verlust hinnehmen mussten. Ein Gefühl tiefster Dankbarkeit durchströmte sie, als das Werk vollendete war, Dankbarkeit darüber, dass er sie hatte teilhaben lassen und dass er da war, sie verstand und immer da sein würde und sie überkam das Gefühl, unter just jenem Wasserfall zu stehen, an dem sie sich ihm immer am nächsten gefühlt hatte. Sie konnte spüren, wie sein Wasser ihr Haar durchtränkte, wie sie von seinen Händen am ganzen Körper umschmeichelt wurde, wie er sie auf starken Armen trug und sanft auf seinen Wellen schaukelte und all das gab ihr Trost und Zuversicht.

Der linke Arm wurde ergriffen und wieder spürte sie den kurzen Schmerz, den die Knochennadel beim Eindringen unter die Haut verursachte, spürte das Brennen, als der mit Tinte vollgesogene Faden hindurchgezogen wurde. Die Farben veränderten sich, es wurde dunkler und immer dunkler, bis Mondlicht die Umgebung in seinen silbrigen Schimmer tauchte. Nicht hören, nicht sehen, nicht sprechen. Bilder tauchten vor ihrem Auge auf. Fragmente nur und Gesprächsfetzen, die wie kleine Perlen an einer Perlenkette vorbeizogen und ihr das ein oder andere Wort zuriefen: " Tod! Verrat! Schweige! Sieh nicht hin! Hör nicht hin! Schweige!" Carl, Ernst, Sam, Eirene, Justan, Cyril. "Schweige, oder du bist tot!"

"Sieh nicht! Höre nicht! Spreche nicht!"

Und ganz unvermittelt tauchte ein Bild auf, das sie längst vergessen glaubte. Das kleine Mädchen, das glücklich vor einem Haus spielte, der große Mann, der sie strahlend anlächelte und dann das Dunkel, das sie beide verschlang. Für immer dahin.

"Lass sie gehen! Lass all das gehen, Magdalena!" Es war keine Stimme, es war eher ein sanftes, aber durchdringendes, silberhelles Gefühl, eine Ahnung, eine Kraft: "Lass all das hinter dir! Lass es gehen!" - "Aber es ist schwer, es gehen zu lassen." - "Lass es gehen!" Und erst als sie diesem Gefühl, dieser Ahnung, diesem Gedanken, oder dieser Kraft folgen wollte, spürte sie die Ruhe, die sich in ihr ausbreitete. Tiefste Ruhe, in der soviel Trost, Kraft und Frieden lag und wieder durchströmte sie tiefste Dankbarkeit und sie wusste, sie war nicht verlassen.

Die Welt um sie herum wurde wieder heller und nahm nun neue Konturen an. Als die glühende Nadel die zarte Haut ihres rechten Handgelenks durchstach, hörte sie laute Rufe und das Klirren von Waffen. Ein Schlachtfeld lag vor ihr, bis zum Horizont sah man Soldaten, die auf der staubigen und trostlosen, dunklen Ebene Formation einnahmen. Zwei riesige Heere standen sich gegenüber, die Banner hingen schlaff herunter. Kein Windhauch erlöste die Krieger von der glühenden Hitze, die eine umbarmherzige Sonne auf dem Feld ausbreitete. Es schien fast so, als würde die Welt für einen Moment den Atem anhalten, vollkommene Stille, ehe das Signal zum Angriff ertönte und Bewegung in die sich gegenüber stehenden Menschenmassen kam. Eine Schlacht sondergleichen begann und je mehr sich das Blut der Leiber über die Ebene ergoss, desto mehr Kraft durchströmte sie. "Kämpfe! Lerne! Labe dich an dem Blut deiner Feinde! Ertrage die Schmerzen und gib sie tausendfach zurück!" Wie glühendes Feuer durchströmte ihr Blut die Adern, sie brannte innerlich, von einer machtvollen Kraft getrieben. "Kämpfe! Sterbe! Sei ohne Furcht!" Ein Schrei bahnte sich den Weg und ertönte laut in dem kleinen Tal, von den Felswänden hin- und hergeworfen. Und dann wandelte sich die Kraft und drückte sie nieder, so als würde eine Riesenfaust sie zusammen quetschen wollen. "Erweise dich würdig, Magdalena!" donnerte die dunkle Stimme in ihrem Kopf. "Erweise dich würdig, oder sterbe in Schande!"

Und dann war es vorbei. Plötzlich und ohne Vorwarnung hockte sie wieder auf den Fellen. Sie brauchte einige Momente, um wieder ganz zu sich zu kommen. Inara war mittlerweile mit Marlene gegangen, nur Elda und sie saßen noch dort.

Soviel war auf sie eingeströmt in dieser kurzen Zeit, so dass sie kaum wahrnahm, wie die frisch gestochenen Runen mit Salbe behandelt und verbunden wurden. Sie würde die Nacht hier verbringen, hier am Schrein, in der Gewissheit, dass sie nicht gänzlich aufgegeben war und es Hoffnung gab, dem Zorn der Götter standzuhalten und ihre Gunst wieder zu erlangen.
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#18
Das Fest des wallenden Blutes

Heute würden die beiden weiteren Opfer folgen, an die Götter des Fing und Flor. Eins davon war kaum der Rede wert, nur einige Münzen, doch das andere bereitete ihr einiges an Kopfzerbrechen. Würde sie die Schmerzen aushalten können? Würde sie ohnmächtig werden? Es ist die eine Sache, in einem Kampf unvorbereitet verletzt zu werden, aber eine ganz andere, wenn man den Zeitpunkt kennt.

Dank des wenigen Schlafes war sie den ganzen Tag angespannt und ernst. Selbst als die ersten Gäste eintrudelten, um der Feier des wallenden Blutes beizuwohnen, hielt sie sich vorerst von ihnen getrennt. Sie konnte momentan nicht so tun, als sei alles in bester Ordnung. Und doch, als der Druide Koren sie daraufhin ansprach und sie ermunterte, etwas zu trinken und mit den anderen zu feiern, gab sie dem nach. Der Alkohol löste die Spannung etwas und nach einem Becher Met und einigen kleineren Schlucken Hochprozentigem, war sie in der Lage, sogar den Kämpfen mit einiger Spannung zuschauen zu können.

Und dann kam der Moment doch so plötzlich und überraschend, als der dunkle Hüne sie in die Mitte des Kreises rief. Er hieß sie ein Loch zu graben, für ihr Opfer und er erklärte der versammelten Festgemeinde, warum sie dies Ritual hier und heute vollziehen würden und welche Konsequenzen es hätte, wenn sie sich erneut von ihnen abwenden würde. Auch sie fand noch einige Worte der Entschuldigung, ehe sie sich dann ans Werk machte. Eine kleine Grube war trotz des Grases rasch ausgehoben, gerade so groß, dass die Münzen und ihr Finger dort Platz finden würden. Ihre Hände waren von Erdreich bedeckt, als er sich zu ihr kniete, den Dolch in der Hand. Sie hatte ihm vorher gezeigt, wo er den Schnitt setzen sollte. Direkt am untersten Gelenk des kleinen Fingers der rechten Hand. Als er ihren Zeigefinger ergriff, begann sie zu zittern, doch er bemerkte seinen Fehler und als er die Götter anrief, ging alles sehr schnell.

Der Rest war mehr oder minder in gnädiges Dunkel getaucht, als sie am nächsten Tag mit schwerem Kopf und einem Raubtierpelz im Mund erwachte. Sie starrte auf den dicken, nun wieder blutigen Verband an der rechten Hand und sie wusste instinktiv, dass irgend etwas damit ganz und gar nicht stimmte. Es pochte und brannte fürchterlich. Was für eine unglückliche Wendung des Schicksals wäre es, wenn sie nun an den folgen dieses Opfers sterben würde, weil der Wundbrand sich ausbreitete. Auch wenn sie keine Medica war, wusste sie doch, dass die von der Erde schmutzigen Hände und die einfache Bandage, die man ihr angelegt hatte, nicht ausreichten, um die Wunde heilen zu lassen. Nur einen Schluck Wasser nehmend, den jemand ihr neben das Bett gestellt hatte - vage schien sie sich für einen Moment zu erinnern - torkelte sie so wie sie war, mit verschmutzter, blutiger Kleidung und wirrem Haar zum Stall. Sie musste zum Heiler, soviel war klar. Elise war so nett, ihr auf das Pferd zu helfen und so schaffte sie es zum Heilerhäuschen, oben bei der Landwehr.

Helva sah sich die Bescherung mit mürrischer Miene an und schimpfte leise vor sich hin, ohne laut auszusprechen, was sie dachte. Da der obere Teil des kleinen Stumpfes nicht sehr gut aussah, beschloß sie das zu tun, was notwendig wäre. Gnädigerweise flößte sie der Rothaarigen eine gute Portion Laudanum ein, ehe sie auch den Rest des Fingers amputierte und anschließend fachfraulich verband.

Für Magdalena aber würde das Fest des wallenden Blutes zukünftig immer eine eigene Bedeutung behalten, denn von ihrem Blut war an diesem Tag einiges gewallt.
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#19
Nur auf dem Pfad der Nacht erreicht man die Morgenröte.

War dies Schlaf und Traum? Oder der Rausch der Kräuter, die sie zu sich genommen hatte?

Dunkelheit umhüllt sie. Erst zart, wie ein kühler Lufthauch, dann gerade soviel, wie ein dünnes Seidentuch, das sie bedeckt. Doch sie schreitet fort, als senke das Firmament - die Dunkelheit zwischen den Sternen, an mondlosen Tagen - sich langsam und unaufhaltsam auf sie. Es nimmt ihr die Sicht. Es nimmt alle Geräusche mit sich. Es nimmt ihr den Geruch. Es nimmt ihr den Geschmack. Es nimmt ihr das Gefühl der Haut. Es nimmt ihr die Luft zum atmen. Es drückt sich auf sie, bis der Herzschlag nur noch ein leises, langsames Pochen ist. Es nimmt ihr den letzten Lebenshauch. War das der Tod?

Dunkelheit

Stille

Taubheit

Nichts

Aus weiter, weiter Ferne das leise Rauschen der Wellen an den Strand. Der Brustkorb hebt und senkt sich. Ein tiefer, nach Luft ringender Atemzug und die Welt um sie herum explodiert in einem Farbenrausch, einem Kaldeidoskop aus Bildern und Bilderfetzen, als sähe sie die ganze Welt und die Vergangenheit im Bruchteil einer Sekunde. Worte, Musik, Gebrüll, Lärm, Vogelgezwitscher, Meeresrauschen - alle Töne die sie je gehört hatte, erklingen im Bruchteil einer Sekunde und doch kann sie alle unterscheiden. Alle Gerüche und Geschmäcker, alles was sie je auf ihrer Haut gespürt hatte, sanftes wie schmerzvolles, all dies spürt sie für die Dauer eines Atemzuges.

Und dann versinkt sie in Bildern, Geräuschen und Sinneseindrücken, die sie erfahren hat, oder die schlicht in ihrer Phantasie entstanden sind:

Sie hörte feines Lautenspiel. Ein Lied erklingt, das sie Marlene zum Schlafen vorsingt:

In meines Vaters Garten –
blühe mein Herz, blüh auf –
in meines Vaters Garten
stand ein schattiger Apfelbaum –
Süsser Traum –
stand ein schattiger Apfelbaum. ...

Abrupt endet das Lied, Marlene beginnt zu schreien, ein dunkler Schatten legte sich auf Mutter und Kind. Für einen kurzen Moment schießt das Bild des Blutmondes in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit.


Die Szenerie ändert sich schlagartig:

Rabenstein

Die Tore zum Strand sind verschlossen, Kampfgetümmel ist an den Mauern zu hören. Vom Eingang zur Strasse hin dringen mehr und mehr rotgewandete Gestalten in das Dorf, wie eine unaufhaltsame Flut, die Tod und Verderben mit sich bringt. Sie hat Marlene auf dem Arm und flieht zum Steinkreis hinauf. Eine Stimme ertönt in ihrem Kopf, eine tiefe Frauenstimme: "Gib sie mir und ich werde euch retten!" Das Bild der schrecklich schönen Herrin Morrigú tanzt durch ihren Kopf und wie unter Zwang geht sie zum Opferschrein, legt Marlene darauf und hält sie mit der linken Hand ruhig, summt leise und beruhigend auf das kleine, ängstlich blickende Mädchen herab, als die rechte Hand das Jagdmesser aus der Scheide zieht. Wie in Trance umgreifen beide Hände den Dolch und heben sich an, schweben für eine Sekunde über dem Kind. "Sei ruhig, mein Fröschlein, es ist gleich vorbei", summt die Mutter sanft, ehe die Hände mit dem Dolch zum tödlichen Streich herabsinken.

Eine hohe, schrille Stimme kichert in ihrem Kopf "Du bist drauf reingefallen! Umsonst getan! Umsonst getan!"

Die Bilder ertrinken in einer gigantischen Welle aus Wut, Trauer, Raserei und Blut.


Zweitürmen.

Das kleine Bauernhaus, das schon vor dem Bau des Dorfes in der Nähe des Weges stand. Inara ist dort. Eine Welle von Trauer, Schmerz und Verlust überschwemmt sie, als sie ihre dunkle Schwester vor sich sieht. Sie reicht ihr einen Trank. Er ist bitter und schmeckt furchtbar. Sie legt sich ins Bett und sieht das kleine Mädchen, das so anders ist, als Marlene. So fremd und doch so vertraut. Sieht noch einmal den großen Mann, mit dem sie sich eine Zukunft erträumt hatte, vor langer Zeit. Der sie verraten hatte und einfach fortgegangen war. Und dann wird dieser kurze Moment durch Schmerzen und Blut zerrissen. Vorbei und doch nie vergessen. Ihre Tochter ist tot. Ihre Erstgeborene.

"Mörderin! Mörderin! Mörderin! skandiert die hohe Stimme.


Sie treibt weiter, Bild folgt auf Bild, wie die Perlen auf einer Kette. Nach und nach werden sie fahler, als habe man sie zu oft gewaschen. Die Farben bleichen aus. Alles wird sanfter, leiser und dann hört sie die altbekannte Stimme Carls: "Ihr könnt tun, was ihr wollt, aber niemals wird es ... " Noch ehe der Satz zu Ende gesprochen ist, treibt sie weiter, als fahre sie in einem kleinen Boot einen langsam fließenden Fluss hinunter, hinein in die Dunkelheit. Doch es ist die beruhigende und erholsame Dunkelheit des Schlafes, die sie nun umfängt. Das silberne Mondlicht dringt durch die Fenster und ihr ist beinahe so, als streiche ihr jemand mit silberhellen Fingern tröstend über das Haar.

Nur auf dem Pfad der Dunkelheit erreicht man die Morgenröte.
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#20
Frühjahrsmond

[Bild: frhjahrsmond4jkas9.png] [Bild: frhjahrsmond3cvapy.png] [Bild: frhjahrsmond27dbrc.png] [Bild: frhjahrsmond1l7yui.png]
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