Wer Wind sät
#1
Nachts im Keller


Niemand ist fort, den man liebt. Liebe ist ewige Gegenwart. Stefan Zweig



Es musste etwas passiert sein, denn er hätte sie nicht allein gelassen, nicht nachdem die Geister durch die Straßen wehten und sie die Gräber auf dem Friedhof geöffnet vorgefunden hatten. Sie waren nach einer erfolglosen Suche zurück in den kleinen Keller unter dem Theater gekehrt und nun lag sie auf dem Boden, und so vergebens sie ihn gesucht hatte, wartete sie auch auf den Schlaf.

Sie konnte sich seinen plötzlichen Aufbruch und sein langes Fortbleiben nicht erklären, weshalb es ihrer Phantasie überlassen blieb die Leerstellen in der Kausalkette der möglichen Ereignisse zu ersetzen. Aber wie es üblich war für die langen Stunden der Nacht, türmten sich nur Befürchtungen der schlimmsten Art vor ihrem geistigen Auge und sie sah ihn in einer Blutlache verenden und einen schrecklich qualvollen Tod sterben. Als sie dann den Entschluss gefasst hatte abermals aufzubrechen und von ihrem Lager kroch, hatte sie die Orientierung in der dicht gewebten Dunkelheit des Raumes verloren und sie hörte nur das gleichmäßige Atmen von Nessa.

Vorsichtig tastete sie sich an einer der Wände entlang, in der Hoffnung die steinerne Oberfläche würde irgendwann vom Holz der Tür abgelöst werden und es traf sie völlig aus dem Nichts, als mit der Erinnerung an die vergangenen Stunden eine Befürchtung ganz anderer Art in ihren Gedanken aufblitzte. "Eher wie ein Liebespaar", hatte Nessa gesagt und mit einem Mal war ihr klar, dass er nicht in einer drei Zentimeter tiefen Blutlache ertrank. Nein, er war nicht weg, weil er nicht anders konnte, sondern weil er nicht anders wollte und so wäre es auch vergebens ihn zu suchen. Sie starrte in die Dunkelheit, bis sich die Befürchtung zu einer Gewissheit gefestigt hatte und hing all den trostlosen Gedanken nach, die ihr in diesem Zusammenhang einfielen. Sie hatte sich darauf gefreut, dass er sie wie eine Mumie in viele Leinentücher einwickelte und so lange küsste, bis ihr schwindelig wurde und nun war es doch ganz anders gekommen. Sie waren weder zuhause noch zusammen.

Als sie den Weg an die Oberfläche endlich gefunden hatte, stellte sie zu ihrer Verwunderung fest, dass der Vormittag längst angebrochen war und sie blinzelte aus müden Augen in das stechende Licht dieses Tages. Wie ein angeschossenes Tier verkroch sie sich auf dem Heuboden des Kontors im Alten Hafen und wie immer, wenn sie enttäuscht war, beschloss sie zu warten, bis sie tot war.


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#2
Tags darauf



Cleo saß auf der Bank vor dem Eingang zum Theater und kehrte das Gesicht den morgentlichen Sonnenstrahlen zu. Sie blendeten, aber sie wärmten nicht. Im Gegenlicht tauchten vereinzelt schwarze Gestalten auf und ihre empfindlichen Augen schmerzten beim Versuch sie anhand ihrer Umrisse zu identifizieren. Ihre Haltung und die Art ihres Ganges hatte etwas Gedrungenes an sich und sie glaubte darin die Folgen der vergangenen Nacht erkennen zu können. Ja, beinahe schien es als wäre mit dem neuen Tag das Leben nicht mehr in die Stadt zurückgekehrt und nur seelenlose Wesen wandelten ziel- und willenlos durch die Straßen. Waren sie alle tot?

Als dann der Wachmann mit der Frühschicht auftauchte, die Hand grüßend erhob und sich nach ihrem Befinden erkundigte, wurde sie zurück in eine plausiblere Gegenwart geholt und sie wollte sich schon für die freundlichen Worte bedanken, als ihr ebenfalls zu Bewusstsein stieg, dass Lew wieder just an dem am Abend, an dem die Geistergestalten erschienen waren, das Weite gesucht hatte. "Nein, den Herrn Eulenspiel habe ich nicht gesehen. Seit wann vermisst Ihr ihn denn?" Cleo nahm ihm noch das Versprechen ab die Augen offen zu halten und kehrte dann nach einigen Stunden des vergeblichen Wartens zurück in den Keller. Sie war abwechselnd betrübt und besorgt und sie konnte einfach nicht verstehen was ihn an so einem Abend auf die Straßen lockte.

Wenigstens regnete es nicht mehr.


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