Das Mädchen im Zuber
#1
Gloria Ganter 1382 - 1400


"Und doch wird es für alle diese Lärmenden, Lebenden, Lebensdurstigen bald so stille sein!
Wie steht hinter jedem sein Schatten, sein dunkler Weggefährte!"
F. Nietzsche


Dass die Totengräber mitten in der Nacht geweckt wurden, war keine Seltenheit, aber dieser Transport wich von der üblichen Routine ab, da die Leiche nicht aus dem Heilerhaus im Armenviertel zu holen war, sondern aus dem Badehaus davor und man war froh darüber, denn das bedeutete einen kürzeren Weg und je kürzer der Weg umso früher würde man wieder ins Bett und damit an den verdienen Schlaf kommen. Der Anblick, der sich den beiden im öffentlichen Badehaus bot war den nächtlichen Ausflug allerdings Wert gewesen. Ein junges Mädchen lag in einem der Badezuber. Ihr Kopf war regungslos an den Beckenrand gelehnt und blutiges Wasser war unterhalb des Mundes auf der Haut eingetrocknet. Neben dem Zuber sah Lew das kleine Messer liegen und nachdem er sich den Ärmel über den Ellbogen gekrempelt hatte, griff er zielsicher ins Wasser und nach dem Handgelenk und drehte es so, dass auch Cleo einen Blick darauf werfen konnte.

"Ohje"

Bevor das kleine Herz endlich aufgehört hatte zu schlagen, hatte es durch den schmalen Schlitz in der Haut literweise Blut ins Wasser gepumpt und als Lew und Cleo das nackte Mädchen nun aus dem Zuber hoben, war die Haut von einem dichten Netz aus unzähligen Rinnsalen benetzt. Man würde sie waschen müssen. Cleo nahm noch das Schreiben an sich, das auf dem kleinen Tisch neben dem Zuber lag und obwohl Blut und Wasser auf dem Papier eingetrocknet war und die Tinte verschwommen war, konnte sie doch ein paar Worte deutlich entziffern. Wohl ein Gedicht …

Der Zettel
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#2
Es war einen Tag später, als Malimmes, der Holzfäller des Hauses Ganter, um die Mittagszeit die Brücken der Tore passierte und die Stadt verließ.
Vor ihm breitete sich der Wald aus, und die Straßen führten zu den verstreuten Höfen.
Die langen Schritte des jungen Holzers führten ihn geradewegs zwischen die Bäume. Den Blick irgendwo in die Ferne gerichtet, bahnte er sich seinen Weg durchs Unterholz, ließ sich von keinen Ästen, keiner stechenden Brombeerranke abhalten, einfach das unsichtbare Ziel anzusteuern.
Irgendwann hielt er an, ließ sich auf einen gefallenen Baumstamm sinken und barg das Gesicht in seinen Händen, die sonst so kraftvoll die Axt umfassten, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Stumm saß er da und überließ sich der Trauer.
Von einem entfernten Baum rief ein Käuzchen.
[Bild: 42.jpg]
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#3
Irgendwann war er aufgestanden. Die ungestüme Kraft des Unwillens gegen das Geschehene, mit der er zuvor den Wald betreten hatte, hatte sich in einen trägen Schleier des damit Abfindens gewandelt. Und so begab sich Malimmes langsamer, aber nicht weniger zielstrebig zurück gen Löwenstein. Seine Schritte führten ihn zum Friedhof wo er zögerlich die Kapelle betrat.
Da lag sie, friedlich und ganz blass. Kurz verharrte er am Eingang, die Zähne aufeinander beißend und die Augen wurden ihm bei dem Anblick wässrig. Geschwind wischte er sich mit dem Handrücken darüber und trat näher.
Still sprach er ein Gebet zu Mithras, wie er es auch von früher kannte, wenn er in seiner candarischen Heimat einem Begräbnis im nächsten Ort beigewohnt hatte. Der Blick lag dabei auf der schönen Toten. Schwer schluckte er zwischen den andächtigen Zeilen. So verweilte er noch eine Zeit lang.
Dann wandte er sich langsam um. Sein nächstes Ziel, das er wie ferngesteuert anstrebte, war der Holzschuppen der Ganters. Dort suchte er eine Anzahl schöner, sauber gehobelter Eichenbretter zusammen. Es dämmerte inzwischen, also setzte er sein Werk im Schein der Fackeln fort. Bretter wurden abgelängt und zurecht gesägt, aneinander gefügt und mit Nägeln verbunden. Alle Handgriffe erfolgten präzise und in gleichmäßigem, zügigem Tempo.
So entstand der Sarg.
Es war schon spät in der Nacht, als der Holzarbeiter die letzten Tätigkeiten verrichtete: die Schnitzereien am Sargdeckel. Im fahlen Licht der Kienspäne wirkte er beinahe die die verstorbene Gloria in der Kapelle - blass und schön, die herben Züge der bitteren Trauer waren über die Arbeit aus seinem Antlitz gewichen und es war nun ebenmäßig und bar von heftigen Emotionen. Fast schon zeichnete sich ein Lächeln ab, als er die fast weiße Rosenblüte betrachtete, die er aus dem Ahornholz geschält hatte. Ein Rankenkranz umrahmte sie und das darunter liegende Mithras Symbol. Dies war aus einem Stück geschnitzt und wurde nun am Deckel angebracht. Liebevoll strich er über das Relief und damit die letzten Späne fort.
Dann machte er sich auf, den Sarg in zwei Gängen hinüber zum Friedhof zu schaffen, wo er ihn neben der Verblichenen abstellte.
In dieser Nacht kehrte er nicht zurück ins Haus.
[Bild: 42.jpg]
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#4
Gwendolyn hatte am Fenster gestanden, eine Spule in der Hand, die sie geistesabwesend aufwickelte, als der stille Transport eines stillgewordenen Körpers erfolgte. Sie zog sich viel zurück diese Tage und suchte nicht nach Gesellschaft. Ihre Beschäftigung war möglichst geistlose Arbeit. Fäden aufwickeln, Flaschen sortieren, Salzkörner zählen. Sie schlief viel und versuchte, nicht an die Entschwundenen zu denken, nicht an Janusch, nicht an Lucius, nicht an Viktor. Eigentlich versuchte sie, gar nicht mehr zu denken.

Löwenstein schlief aber selten so ganz, und auch in dieser Nacht waren die Straßen von Unruhe beherrscht. Da ein Ruf nach einem leichtbekleideten Mädchen, dort ein unflätiger Kommentar, danach eine scharfe Ermahnung irgendeines Wichtigtuers. Absolute Stille fand sich selten im Haus an der Kreuzung ein. Gwendolyn blieb stehen und starrte die bunten Butzenscheiben an, monoton Wollknäuel um Wollknäuel aufwickelnd. Erst als die Kerze verlosch, wurde sie wohl oder übel aus ihrem bilderlosen Wachtraum verjagt. Draußen nur fahler Laternenschein. Dann zwei aufrechte Gestalten, die eine Bahre trugen. Ein Aufruhr nebenan im Badehaus. Eine Weile später erkannte sie die beiden Träger. Das Sonnenzeichen wurde spätnachts im Hause Veltenbruch geschlagen. Welche arme Seele hatte der Herr zu sich gerufen?
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