FSK-18 Über Gotmar
#1
Einen Moment lang hatte er das Gefühl das Bewusstsein zu verlieren. Alles um ihn herum verschwamm. Die Konturen der Umgebung wurden immer schwächer und die Farben vermischten sich zunehmend und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er diesen Kampf gegen den eigenen Körper verlieren würde. Seine Brust unter dem Wappenrock der Stadtwache Löwensteins war wie zugeschnürt. Hilflos versuchte seine Lunge nach Luft zu schnappen, doch es schien als würde seine Atmung ihm schlichtweg den Dienst verweigern. Ja, genau das war es: Befehlsverweigerung mit absehbarer Fahnenflucht.
Heftig bebte seine Brust, als er sich langsam in Richtung Boden zu senken versuchte. Mit der Hand fuchtelte er in jene Richtung, wo er das Kätzchen vermutete, um den armen Fellknäuel nicht unter sich zu begraben. Der zum Rand gefüllte Becher mit Milch, welchen er für den tierischen Bewohner der Wachstube vorbereitet hatte, entglitt seiner Hand und fiel scheppernd auf den Steinboden. Die kostbare Kuhmilch bildete innerhalb weniger Augenblicke eine große weisse Pfütze. Eine Riesensauerei, die ihm allerdings im gegenwärtigen Moment herzlich egal war.

Mehr oder weniger erfolgreich am Boden angekommen, lehnte er sich mit dem Rücken an die Stufen, die zum oberen Stockwerk der Wachstube führten. Ja, diese Position half etwas. Es dauerte nicht lang bis er sich schon ein wenig besser fühlte. Nachdem er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, sah er sich kurz um. Stille – ein gutes Zeichen. Offensichtlich hatte aufgrund der späten Uhrzeit niemand aus der Wachmannschaft diesen Vorfall mitbekommen. Ein Umstand, der ihm nur ganz recht war. Erleichtert starrte er abwesend vor sich, auch das verängstigte Kätzchen schien den Schrecken mit dem Holzbecher bereits verdaut zu haben und traute sich hinter dem Milchfass hervor, wo es zuvor Schutz gesucht hatte.

Gotmar fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Beinahe ungläubig hielt er die mit Schweiss benetzte Handfläche vor sich. Es war doch bloß eine Frage, mahnte er sich. Es ist doch alles solange her, keuchte er. Doch für etwas, dass schon viele Jahre her gewesen sein soll, war die Auswirkung ziemlich gegenwärtig. Ein pochender Schmerz breitete sich entlang der schlecht verheilten Narbe aus, die an seiner linken Wange bis zu seinem Kinn herablief.

Die Worte aus dem Gespräch vorhin hallten noch immer in seinem Kopf, wie als wären sie unfähig diesen zu verlassen. „Was wäre, wenn Du die Person, die Du liebst, töten musst? Wer kann Dir verzeihen und kannst Du Dir noch verzeihen?“, hatte er seinen Kameraden Koris als Gedankenspiel zur Aufgabe gegeben. Doch als dieser ihm statt einer Antwort die Frage „Kommt drauf an. Warum musstest Du diese Person töten?“ stellte, war es nicht mehr Koris, der ein vermeintliches Denkspiel zu bewältigen hatte. Gotmar verlangte eine Antwort von Gotmar!
Wie ein unerwarteter Hieb hatte ihn die Frage getroffen, völlig unvorbereitet und überraschend, wenngleich es eine Frage war, die er sich schon unzählige Male gestellt, aber nie eine Antwort darauf gefunden hatte. Sie war doch so wichtig für ihn.
Irgendwie hatte er es dann doch geschafft das Gespräch beiläufig zu beenden und sich nichts anmerken zu lassen. Zumindest hoffte er das. Und nun befand er sich gegenüber dem Kätzchen in der Wachstube, eingeholt von den Dämonen der Vergangenheit.

Die Erinnerungen an jenen verhängnisvollen Tag wurden wieder wach, der sein Leben in ein Vorher und Nachher geteilt hatte. Alles war wieder so real und greifbar, wie als wäre er in jenem schicksalhaften Moment, wo er einer Entscheidung gegenüber stand, die jemand anders für ihn treffen würde. Über die Jahre war seine Erinnerung verblasst, eine Erinnerung an die er sich doch so sehr klammerte. Wie hatte sie ausgesehen? Sie hatten doch soviel Zeit miteinander verbracht! Wieso erinnerte er sich bloß nicht mehr an sie?
Das einzige, woran er sich noch richtig erinnerte konnte, war das ganze Blut. So viel Blut. So unglaublich viel Blut.

Warum konnte er sich nicht mehr erinnern? Er musste sich doch daran erinnern!

Sie hatte ihm gesagt, dass es die Entscheidung für sie beide wäre. Er müsse so handeln. Sie hatte ihn angefleht. "Gotmar, wenn Du es nicht für uns tun kannst, dann tue es für mich." Das war es, was sie ihm dann gesagt hatte. Doch anstelle ihnen beiden eine Zukunft zu geben, wurde sie ihnen genommen.

Gotmar ließ seinen Kopf zwischen den Beinen sinken. „Warum nur, warum bloß …“, sagte er immer wieder vor sich. Mit Tränen in den Augen sah er wieder hoch und erblickte das Kätzchen, welches sich nun über die ausgeschüttete Milch hermachte.

Sie war es, die Katzen liebte. Er selbst hatte vorher nie eine besondere Beziehung zu diesen Tieren gehabt. Vielleicht lag es daran, dass sein Vater generell keine Tiere mochte und dadurch auch nicht welche im Haus duldete. Seine Mutter hatte vermutlich wohl nichts gegen ein Haustier, aber sie durfte da ohnehin nicht viel mitreden.
Aber sie hingegen – sie war regelrecht vernarrt in diese samtpfotigen Vierbeiner. Während in den vielen Jahren alles andere von ihr verblasste, traf dies aus irgendeinem Grund auf diese Eigenschaft von ihr, der Leidenschaft für Katzen, nicht zu.

Als er dann vor wenigen Wochen das Kätzchen hilflos im Burggraben erblickt hatte, war diese Erinnerung wieder so präsent in seinen Gedanken, so real. Mit einem Augenblick auf den anderen war es als würde sie wieder da sein. Bei ihm. Wenn das Kätzchen da ist, dann würde sie doch wieder lebendig werden. Das würde sie doch, oder? Das musste sie.

Bitte.
"If bin Leftat, der freklife Letharf! Fürchtet mif, ihr Fterblifen!" (MPS)

"Die Bekehrung Viktors ist wie nach dem kleinsten Stofftier zu angeln mit so einer Angelgreifzangenmaschine." (PO Gwendolyn)
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#2
Wie kleine Glühwürmchen entzündeten sich nach und nach die Wärme spendenden Lichtquellen in den Häusern der Stadt. Die Nacht war bereits hereingebrochen, und so mancher Bewohner der Stadt versuchte noch auf diese Weise etwas Tag in die Dunkelheit der späten Stunde zu retten. Im Königsviertel hatten die Bediensteten bereits einen halben Stundenlauf vor dem erwarteten Einbruch der Nacht damit begonnen wie Bienen auszuschwärmen, um die nobelste Gegend der Stadt in helles Licht erstrahlen zu lassen, damit selbst zu dieser Zeit die Frage zweifellos absurd wäre, welches Viertel denn das prächtigste der Stadt sei. Dieses Bestreben wurde jedoch vom Viertel selbst ungewollt gebremst, waren doch nicht alle Häuser dieser schönen Gegend bewohnt. Es zeigte sich einem aufmerksamen Spaziergänger somit in den Nächten ein unstetes Bild gemeinschaftlicher nobler Lichtspenden, die jedoch insofern eine gewisse Stetigkeit aufwiesen, vermochte man anhand der Kenntnisse über die Reise- oder Verweilgewohnheiten der Bewohner eine recht genaue Aussage über das zu erwartende Lichtbild treffen.
 
In dieser Nacht blieben die Kandelaber im Haus von Gotmar Ering Seysbald unbenutzt, lediglich das matte Licht des Mondes gab vage Konturen der Einrichtungsgegenstände preis. Inmitten dieser Dunkelheit saß der Ritter völlig unbewegt und regungslos, lediglich ein regelmäßiges Anheben und Absenken seines Brustkorbes widerlegte die Annahme eines flüchtigen Beobachters, es würde sich hierbei um eine in Stein gesetzte Statue handeln. Minuten um Minuten vergingen, bis es schließlich zu einer vollen Stunde wurde. Dann folgte die Nächste. Auch jetzt waren kaum Regungen des Mannes zu erkennen, offensichtlich hatte er noch immer nicht den Wunsch verspürt sich dem kollektiven Drang nach häuslicher Wärme durch das Entfachen von Lichtquellen anzuschließen.
 
"Marie. Jetzt auch Marie! Wie schon zuvor die anderen...". Die Atmung des Ritters wurde schwer, als verschiedene Namen, manche schon aus längst vergangenen Zeiten, wie ein unaufhaltsamer Wasserschwall durch seine Gedanken schossen. "Sie wird sterben, wie all die anderen, die den Fehler gemacht haben sich auf mich einzulassen..." Zu den Namen tauchten nun in seinen Gedanken die dazugehörigen Bilder der Personen auf, die jedoch sogleich wieder verblichen, wenn er versuchte sie zu fassen. Begegnungen aus der Vergangenheit wurden für den Bruchteil eines Augenblicks wieder lebendig, nur um im nächsten Moment zu verschwinden. Er sah Flynn, wie sie gemeinsam das Haus in der Altstadt bezogen. Farilda, die auf der Terrasse mehrfach mit ihm den Platz tauschte. Für einen Moment folgte er Elynia, die zornig durch die Stadt stapfte und sich über irgendetwas beschwerte. Dann stand er mit Fenia in der königlichen Burg, kurz bevor sie nach Indharim aufbrach. Susa in der Zone 3. Schließlich Felia, seine Mutter, als ... gerade als er sich diesem Gedanken zuwenden wollte, tauchte E. auf.
 
"Aber ... aber ... das ist unmöglich!" Ruckartig schoss Leben durch den bis dahin unbeweglichen Ritter, der dadurch vom Stuhl abrutschte und nach hinten taumelte. "Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Wieso ... du ... ich kann dich wieder sehen. Ich sehe kein Blut mehr ... ich sehe ... dich?" Als auch sie einen Wimpernschlag später wieder verschwand, senkten sich die kastanienbraunen Augen des Ritters augenblicklich auf die offenen Handflächen hinab, in der Hoffnung er würde dort eine Auflösung des gerade entstandenen Erinnerungswirbels vorfinden. In seinem Blick mischte sich der bestehende Unglauben mit Erkenntnis – einer Erkenntnis, die diesen in beinahe vollkommene Klarheit verwandelte. Seine Hand senkte sich auf seinen Brustpanzer, als wollte er noch den letzten kleinen Funkel Zweifel beseitigen wollen. Schwerer Atmen begleitete die Berührung seiner Handfläche mit dem kalten Metall, der dann von einem Augenblick der Atemlosigkeit abgelöst wurde, als sich ihm nach Anheben der Hand der Anblick eines neuen völlig unbefleckten Rüstungsteils bot.
 
"Schutz für Treue", während seine Lippen diese Worte sprachen, begannen die Hände eilig alle notwendigen Dinge zu sammeln. "Koste es, was es wolle." Er würde den Preis zahlen, der notwendig wäre. Jeden Preis.
"If bin Leftat, der freklife Letharf! Fürchtet mif, ihr Fterblifen!" (MPS)

"Die Bekehrung Viktors ist wie nach dem kleinsten Stofftier zu angeln mit so einer Angelgreifzangenmaschine." (PO Gwendolyn)
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