FSK-18 Der Sturmrufer
#1
Frieden. Ausgeglichenheit. Freiheit. Diese Worte schossen dem Nortgarder in den Kopf, als ihm die kühle Luft der Zwillingsberge um die Nase wehte. In der Höhe, in der er sich befand, erschöpfte sich die Schönheit der ihn umgebenden Landschaft in kargen und rauen Formen, die jeden Menschen bislang davon abgehalten hatten, hier sesshaft zu werden. Unnachgiebig forderten die schmalen Bergpfade mit jedem Schritt mehr Anstrengung, dessen Lohn nur die immer dünner werdende Luft zu sein schien. Am Ende aber, so befand Skaskar Sturmschlag, gab es einen Punkt an dem die Luft so klar und rein war, dass sie jedem Atemzug am Boden vorzuziehen war. Ein Felsvorsprung, der ihm den Blick über Hammerhall, ja sogar ganz Nortgard diesseits der Berge erlauben sollte, war hierbei oft das Ziel.

Der Berg hatte es ihm diesmal erneut gestattet, sich dort niederzulassen und die Schönheit seiner Heimat zu betrachten und sich zu vergegenwärtigen, warum dieses Lehen jedem anderen vorzuziehen war. Der raue, wilde Geist der alten Ulgard-Stämme war beinahe spürbar, wie ein alles überdeckender Mantel, den niemand wirklich von sich schütteln wollte, der sich einen wahren Mann aus Nortgard nannte.

Es war ein Ort der inneren Einkehr, der es ihm ermöglichte, sein Leben zu betrachten, als stünde er außerhalb, als sei er in der Lage seinem Körper zu entsagen und seine Taten von außen zu beurteilen. Wie ein offenes Buch lag alles vor ihm, bereit erneut vor seinem eigenen Gewissen geprüft zu werden, nur den familiären Pflichten ergeben, die mehr Selbstverständlichkeit als Zwang waren. Dieses Land bedeutete Freiheit – das tat es noch immer, viele Jahre nachdem es dem Königreich angegliedert worden war und er war froh ein Bewohner dieses fernen Lehens zu sein.

In dieses Bild, diesen Plan seiner Heimat, stahlen sich jedoch mehr und mehr die dreckigen und überfüllten Gassen Löwensteins. Ausschnitte einer Stadt, die mehr und mehr zu seinem Exil verkam, nachdem er es verpasst hatte, die Grenze rechtzeitig zu überschreiten. Die Ereignisse hinterfragten sich selbst, während sein geistiges Auge sich weiter auf dem Felsvorsprung des fernen Zwillingsgebirges wähnte. Prüfend, analysierend, ob der Streiter sich richtig verhalten hatte. Ob die Zugeständnisse, ihresgleichen wert gewesen waren, ob die Menschen die er getroffen hatte, das waren, was zu sein sie vorgaben. Er hatte eine Form der Gastfreundschaft von jenen erfahren, die selbst Fremde in diesem Lehen waren und sich mit seinen Unzulänglichkeiten bereits arrangiert hatten.

Interessanterweise, so mischten sich die diversen Bekanntschaften der letzten Tage nun ein, hatte vermutlich seine Herkunft und die Tatsache dass er ein bewehrter Streiter war, diverse Möglichkeiten eröffnet, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Der weniger erfreuliche Teil dieser Sache war, dass er sich damit einem der bestehenden Häuser anschloss und als einfacher Wachmann und Büttel beinahe alle der Freiheiten einbüßen würde, die er bislang genoss. Es musste andere Wege geben und der Umstand, dass man beinahe händeringend eherne Krieger in diesem Lehen suchte, überforderte ihn tatsächlich etwas. Es galt, niemanden vor den Kopf zu stoßen oder sich Feinde zu machen – eine Sache, die bereits bei dem Übungskampf zwischen dem Jehann und der Ganter-Jurin keine einfache Sache gewesen war. Die Ränkespiele der Häuser waren mithin ermüdend und nicht, was er sich auf lange Sicht vorstellte.

Nicht nur seiner Heimat entrissen zu sein, die sich für den kürzesten eines Augenblicks wieder vor dem geistigen Auge entfaltete, sondern sich auch noch zum Bodensatz eines der Häuser zu machen – dieser Gedanke lief ihm zuwider. Zumal ein Gespräch beim Rabenkreis noch ausstand und die junge Arys ihm den Bund der wachenden Schwerter nähergebracht hatte, der, wie er befand, sich eher mit dem deckte, was er in Zukunft suchen würde.

Und schlussendlich hatte er das diffuse, kaum greifbare Gefühl, dass sich seine Zukunft auch sehr gut im neuen Hafen abspielen konnte. Dieser Gedanke, dieses letzte Fragment dessen, was sich in den letzten Tagen in seinem Schädel festgesetzt hatte und sich nun, auf dem geistigen Hochplateau in Nortgard zu befreien, beschäftigte den Streiter noch lange, bis ein unaufmerksamer Moment ihn anhielt, die Augen zu schließen. Nur ein Moment, etwas länger als ein Blinzeln, hatte genügt um ihn der Ferne zu entreißen und den Nortgarder Gruß, der vormals über sein Gesicht strich, als den Lufthauch zu entmystifizieren, der durch den Eingang des Schlafzeltes im Rabenkreis drang.

Der Duft von Stroh und dem angewitterten Zelt wurde wieder wahrnehmbar und seine Augen erblickten nichts weiter als die Umgebung seiner provisorischen Schlafstatt. Die gleichmässige Atmung von Arys, ein Strohbett weiter, stahl sich in seine Wahrnehmung und wenige Augenblicke später war der Nortgarder gänzlich erwacht. Es sollten erst Stunden vergehen, die er mit dem Blick gen Zeltdecke gewandt verbrachte, bis der Schlaf ihn schließlich entgültig einholte. Diesmal jedoch, sollte sein letzter Gedanke sein, dass das einzige positive dieses von der Keuche zerfressenen Lehens war, dass seine Konstanten in seinem neuen Alltag endlich Namen bekommen hatten, Namen von denen er nicht behaupten konnte, sie jemals wieder missen zu wollen.

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#2
Der Dirigent

Der Morgennebel begann nur langsam der materiellen Welt zu entsagen und lag weiter beständig, als würde er an dieser Welt kleben, auf dem sumpfigen Morast Servanos. Die tiefen Rufe der im Sumpf lebenden Kröten durchschnitten die Stille dieses beinahe magisch wirkenden Ortes zu dieser Zeit als einziges Zeugnis darüber, dass in dieser rauen, trügerischen Umgebung, tatsächlich etwas leben – überleben – konnte. Der Streiter, dessen stetes Rasseln seiner penibel gepflegten Ringrüstung dem Gewirr aus Krötenrufen ein seltsames Hintergrundrauschen schenkte, wirkte in dieser Umgebung wie ein Fremdkörper in einem sonst perfekt aufeinander abgestimmten Szenario.

Ein Theaterstück, dessen Darsteller diesem Fremdkörper zur Zeit weder etwas abgewinnen wollten, noch ihm die vielleicht erforderliche Beachtung schenkten. Sie hatten sich verloren, in ihrer kleinen Welt, die sich nie auch nur über die feuchte Ausbreitung des Sumpfes erweitern sollte. Es war ihr eigener Kosmos, in dem Fremde keinen Platz hatten.

Beinahe als würde der Boden selbst entschieden haben, dass dieser Mensch keinen Platz hatte, sank der schwer bewehrte Mann mit jedem Schritt etwas tiefer in den wässrigen Untergrund, dessen Feuchtigkeit sich schnell und unbarmherzig durch die Lederstiefel bis zur Haut vorgearbeitet hatte. Den rastlosen Blick des Mannes nahmen die Tiere nicht wahr. Ihr Prinzip von der Wertlosigkeit des Lebens, dass sich nicht gegen vermeintlich stärkere Gegner durchsetzen konnte, galt auch für die Fremden, die Aussetzigen. Sie konnten sich ein Bleiberecht erkämpfen, wenn sie imstande waren, gegen die Darsteller des kleinen Stücks aufzubegehren, welches hier begonnen hatte.

Ohne das Wissen des kleinen Ensembles, welches sich dem Krieger hier bot, schrieb er bereits an einem anderen, einem weitaus umfassenderen Stück, dessen Verlauf ihm jedoch weiterhin verschlossen blieb. Ein Gefühl, wie in Ketten gelegt zu sein, hatte den einsamen Krieger aus seinem Nachtlager hinaus in das Lehen getrieben, in den Käfig, den so viele ihre Heimat nannte. Ein Wort, welches er für diesen Ort niemals nutzen würde, niemals konnte. Gedanken in Ketten, unterdrückt, gefesselt, hatte es ihn an einen Ort getrieben, der als einer von wenigen Plätzen nicht mit Ehrlichkeit geizte. Ohne Schein, ohne Blender, ging es hier einzig und alleine um Feindschaft. Klare Grenzen. „Ein Ulgard gegen eine Horde wertloser Tiere“ schoss es ihm durch den Kopf und damit Bilder von Sagen, Mythen und Legenden, die dem Mann als Kind wie Flügel in fremde Welten, bessere Zeiten gewesen waren.

Die Flügel waren Vergangenheit, vergraben unter der Last des Hier und Jetzt, wenngleich die Macht dessen, was damals die Kinderseele entflammen konnte, nun an den Fesseln zu Sägen begann. Erschütterungen des Wesens, dass sich in diesem Lehen eingesperrt fühlte, einem Ort, an den er niemals wollte und an dem einem Büttelanstellungen wie goldenes Wildbret angeboten wurde. Die kühle Luft des urzeitlich wirkenden Umfeldes hatte schon längst begonnen, seine Lungen zu füllen, dem geheimen Entfessler seiner Gedanken mit jedem Atemzug weiter Leben einhauchend.

Auf einem fernen Stein schließlich, sah der Streiter ihn, – oder es – wie ein Dirigent auf einem herausragenden Felsen sitzend. Schwarze, von Schuppen umrahmte Augen, die ihn genau beobachteten. Das gleichmäßige Züngeln, eine beinahe aggressiv wirkende Geste, an der ansonsten in völliger Ruhe verharrenden Kreatur, die wie ein Meister über seinem Volk thronte und dessen Geschicke durch rohe Gewalt zu lenken vermochte. Die vier kräftigen Läufe, bewehrt mit Krallen, die sich durch jedes Erdreich graben konnten ließen nicht den Hauch einer Bewegung erkennen, als der Mann zum Stehen kam. Ein Gefühl der Leichtigkeit begann sich auszubreiten, langsam, als würden die Ketten, die Fesseln, sich langsam aus den Wänden seiner Seele lösen und damit die erdrückende Wirklichkeit mit sich davontragen. Die drei stählernden, mit Spitzen gespickten Kugeln des Morgensterns fielen mit dem Rasseln der sie an den Streiter bindenden Ketten geräuschvoll, als die Waffen dem Gurt entrissen wurde. Für einen Augenblick glaubte der Streiter, erstarrte jedes Geräusch im Sumpf, als wäre es nun geboten, genau aufzumerken. Der Dirigent indes, hatte die Herausforderung verstanden. Schnelle, abgehackte Bewegungen, hatten den Leib des Tieres in Richtung des Streiters katapultiert, die sehnigen, muskulösen Beine füllten sich mit Anspannung, die schwarzen Perlen von Augen, beobachteten den Streiter genau, fixierten ihn. Ein Streit um die Herrschaft des kleinen Reiches war entbrannt, unerwartet, plötzlich.

Die Echse, unwillig ihre Vormachtstellung aufzugeben und vermutlich ihrer Natur um den erkannten Eindringling in ihrem Revier nachgebend, stieß sich mit kraftvollen Bewegungen von dem Felsen ab und begann nun direkt auf den Streiter zuzuhalten. Der indes, machte keine Anstalten, auszuweichen, sondern bemühte sich um einen stabilen Stand, hob den mit einer Tartsche geschützten Arm leicht und begann mit der rechten die Kugeln seines Werkzeuges in Drehung zu bringen. Leicht, locker, als wäre dies das natürlichste der Welt, ein Spielzeug, drehten sich die Kugeln mit endloser Duldsamkeit als die Kreatur auf den Mann zuhielt.

Das Reptil versuchte, mit einer überzeugenden Beißbewegung in Richtung des Armes klarzustellen, dass es hier nicht mehr nur um vorgeschobene Machthudelei ging, sondern um die Frage, wer von beiden das kleine Parkett übernehmen durfte. Ein Stoß mit dem kleinen Schild gegen die Kieferseite des Tieres jedoch, bewies dass der Gerüstete noch über genügend Schnelligkeit verfügte, absehbaren Angriffen die Stirn zu bieten. Mehr noch, der anschließend geführte Konter führte dazu, dass die drei stählernen Kugeln seines Werkzeugs sich wie kleine, alles verschlingende Tiere durch das Schuppenkleid in den Körper des Dirigenten fraßen. Unersättlich in ihrem Hunger, hinterließen sie drei klaffende, gerissene Wunden im Fleisch des Meisters. Der kraftvolle Schwanz der Echse hingegen, bewies den unbeugsamen Kampfeswillen einer Kreatur, die nichts zu verlieren hatte. Bruchteile eines Augenblicks, bevor die Attacke der Echse den Streiter zu Boden schickte, schien der Augenblick beinahe endlos, in dem der Streiter in den schwarzen Augen des Tieres sein eigenes Spiegelbild sehen konnte. Der Blick eines Raubtiers, einer hungrigen Kreatur, die nur darauf lauerte, endlich losgelassen zu werden.

Keine Panik überkam den Gerüsteten, als sich der sumpfige Untergrund für einen gleichsam ewigen Moment um ihn schloss und der Atem aus seinem Körper für diesen Augenblick herausgepresst wurde. Die Erschütterung, die durch seinen Körper wogte, hatte beinahe etwas unnatürliches, niemals vergleichbar mit irgendeinem anderen, irdischen Gefühl, als sei die Welt um ihn herum in einem Moment explodiert und hätte unter ihrer Schale etwas vollkommen anderes hervorgebracht.

Weder Ketten, noch Fesseln, spürte der Krieger nun, als die Kreatur nach ihm schnappte und diesmal tatsächlich seinen Arm zu packen bekam. Die Zähne durchbrachen Teile der Rüstung und begannen sich immer stärker darin zu verbeissen. Verzweifelte Versuche der Echse, die gewonnene Beute vom Körper zu reißen, wurden damit beantwortet, dass aus der Nässe und der Feuchtigkeit des Sumpfes erneut die stählernden Kugeln in einem Bogen auf das Tier hinabsausten, dessen Reaktion nur war, sich noch stärker um das zu bemühen, was sie ohnehin schon hatte.

Das Blut beider Kontrahenten begann sich in die sumpfige Feuchte zu mischen, dabei eine bräunliche Tinktur der Vergänglichkeit formend, in der sich in den Körper der Echse immer wieder neue, sternförmige Male einer todbringenden Gewalt mischten, welche das Reptil nie auch nur im Ansatz begreifen konnte. Erst als die Waffe der Hand des Streiter entglitt und er die freie Rechte nutzte, um dem Tier mit den Fingern eines der Augen einzudrücken, begann dem Dirigenten, dem Großmeister des amphibischen Orchesters zu dämmern, dass sich hier zwei Welten getroffen hatten, die sich gar nicht so unähnlich waren.

Weder Hass noch Furcht im Blick, die Gedanken vollständig unvernebelt, schien sich jeder Augenblick wie ein offenes vor dem Streiter niederzulegen. Er hatte das Reißen, die erneuten Nachbisse der Kreatur gespürt, jeden einzelnen Zahn, der sich in sein Fleisch bohrte und die Ketten seiner Rüstung Stück für Stück sprengte und begann nun mit der freien Hand in die Wunden zu schlagen, die seine Waffe bereits geschlagen hatte. Das weiche Fleisch unter dem Schuppenkleid gab mit jedem Schlag nach, jeder Schlag ein Verlust von Kraft und Kampfeswillen in seinem Gegegenüber. Der Streiter begann irgendwann, nach Dingen im Körper der Kreatur zu greifen, dessen Form und Sinn er nicht kannte, beförderte diese jedoch trotzdem nach außen. Wie metallbeschuhte Klauen grub er sich in das Wesen, das vorher keinen Gedanken an das Gefühl verschwendet hatte, wie es war, gewaltsam aus der Welt gerissen zu werden.

Nun gab es dazu keine Gelegenheit mehr – der Biss hatte sich gelöst, alles Leben war erstorben und der Streiter begann, sich aus dem Kadaver der Kreatur zu befreien. Als wäre dies der einzige Zweck seines Eindringens in diese Welt gewesen, sammelte er seine Waffe auf, versorgte seine Wunden so notdürftig wie eben möglich und begann schon bald, diese andere Welt zu verlassen.

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Der Rabe

In Löwenstein versorgte er seine Wunden selbst, kommentarlos, aber diszipliniert. Die Rüstung wurde gereinigt, die auszubessernden Kettenringe wurden eingeflechtet. Ein Tagewerk, welches den verbliebenen Morgen bis zum frühen Abend in Anspruch nahm. Mit endloser Duldsamkeit vollführte er seine Tätigkeiten, als gab es nun genügend Zeit für alles und jeden. Wenngleich der Streiter spürte, dass die Ketten sich wieder langsam um ihn zu legen begannen, hatte er die Zeit gewonnen, über seinen Verbleib in diesem Lehen nachzudenken, während er seinen Pflichten nachkam. Es stand mittlerweile außer Frage, dass er sich in irgendeinen Wachdienst begeben würde, nur dem Wohl eines einzelnen Hauses untergeordnet. Die Meister ihrer jeweils eigenen Ränkespiele tendierten dazu, früher oder später an ihrem eigenen Machtbegehren zugrunde zu gehen. In diesen Häusern würde er vielmehr immer ein Aussetziger, ein Fremder sein. Ein einsamer Streiter im Sumpf von Kröten, Schlangen und Echsen.

Die letzten Brocken von Fleisch, Schuppen und Dreck aus Handschuhen und Waffe entfernend, schien es ein beinahe dem Faunreich entsprungener Bote, als Skaskar ein Rabe auffiel, der auf der Straße mit gediegener Neugier herumhüpfte. Dreingaben aus Echsenfleisch nahm er dankend entgegen, während seine Gedanken nicht umhin konnten, sich für die Freiheit eines Tieres zu begeistern, dass sich im Günstigen Moment entschied, Möglichkeiten auch zu ergreifen, die sich boten.

Welche Möglichkeiten, fragte sich der Streiter, würden dies sein? Der Gedanke daran, beim Bund der wachenden Schwerter vorstellig zu werden, schien sich wieder über alle anderen Angebote der vergangenen Tage zu legen. Keinem Lehen beugsam gegenüberstehend, für Ordnung und Recht eintretend, ungeachtet der weltlichen Rechtssprechung. Viele Gedanken, die sich aus der Vergangenheit eines freien Nortgard speisten, allen voran die Kameraderie und die Treue, die Arys so offenkundig beschrieben hatte.

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Der Glockenturm

Über den Dächern der Stadt, auf einem baufälligen Glockenturm, besiegelte die Anwesenheit seiner Begleitung vielmehr die Entscheidung, sich einem derartigen Bund anzuschließen. Die Keuche raffte alles dahin, das Reich war im Aufruhr und Menschen wie seine Begleiterin litten darunter. Sie verloren ihre Perspektiven und ihre Heimat, während sich die rechtmässig eingesetzten Herrscher ihrer Ränkespiele hingaben. Der Gedanke, dieser einen Person im Speziellen ihren Platz im Leben wiederzugeben, die Freude wieder zu entzünden, die zu oft von Sorge und Bitterkeit durchzogen wurde, schien das Leitmotiv für den Mann zu sein, der über alledem die Abgeschiedenheit von dem Hier und Jetzt unter ihm genoss.

Zwischen Scherzen und Ernsthaftigkeit kontrastierte das Treffen mit der Frau, die wie eine wichtige Konstante erschien, die niemals wirklich weg gewesen war. Die Leichtigkeit, die er noch am Morgen im Überlebenskampf dem Reptil empfunden hatte, kehrte auch hier zurück. Es gab keine Ketten, keine Grenzen, nur Fenster, die aus dieser Welt hinausführten und ihnen Reisen zu Orten ermöglichten, die noch immer hinter schweren Gittern verborgen blieben. Es war das andere Extrem, ein Ausblick darauf, wie ein Leben aussehen könnte, wenn das Raubtier nicht gefordert war, sich nicht an der Ungerechtigkeit und den Problemen der Realität nährte.

Der Wert seines Handelns musste sich irgendwann in Taten widerspiegeln, die sichtbar waren und ihn nicht nur weiter nachdenklicher werden ließen. Der Bund könnte hierfür den richtigen Ansatz bieten, wie er befand, ohne ihm die Fesseln aufzuerlegen, die er in jedem anderen Haus unter Löwensteins Dächern gespürt hätte. Fesseln, die er mit der Zeit gänzlich abzuschütteln gedachte um vielleicht einstmals das Erbe anzutreten, dass noch immer in seinem vom Glauben an die Mondwächter und den Traditionen des Zwillingsgebirges geformten Blut die Hoffnung aufwallen ließ, die Fragmente der Ulgard tief in seinem Innern zu finden, die zweifelsohne dort sein mussten.

Das Raubtier indes, hatte auf diesem Glockenturm einen Platz gefunden, an dem es rasten konnte und zufrieden an der Seite eines Menschen Fenster öffnete, die für den Augenblick einen Ausweg boten. Das Langzeitziel jedoch, würde sich nur mit Hilfe des Schwertbundes realisieren lassen, wenn auch nur die Hälfte der Tugenden, die sie für sich requirierten, tatsächlich gelebt wurden.

Diese Nacht würde der Streiter wieder ohne Schlaf verbringen, diesmal jedoch mit Aufgaben. Gestellten und unausgesprochenen Aufgaben, die den Weg von Skaskar Sturmschlag neu beleuchteten und darob anzeigten, dass es noch ein langer, steiniger Weg war. Aber das Ende dieses Weges vermochte es, jeden Stein wie eine Hürde erscheinen zu lassen, die sicher nicht immer mit Freuden, dafür aber aus reinster Überzeugung nehmen würde. Unbeirrt, Unbeugsam.

[Bild: Glockenturm_sv_stosija.jpg]
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#3
Kinder der Keuche

Die klingende Münze mochte nicht gerade ein Ort der Einkehr sein, sondern vielmehr einer der Angelpunkte in einer Stadt die zwischen Keuche und Zunftkriegen zerrissen schien. Wenngleich er dann und wann bei seinen Notizen, Berichten und sonstigen Schriftstücken gestört wurde – mittlerweile vielmehr eine willkommene Abwechslung zum Dienst an der Südfront und den Wachgängen im neuen und alten Hafen – gefiel es Skaskar dort. Nicht zuletzt war es der Ort, an dem die Wahrscheinlichkeit am höchsten war, auf Kristin zu treffen.

Genau diese Treffen waren es, die der kleinen Taverne vermutlich mehr Positivum beigeordnet hatten, als sie eigentlich verdiente und der Streiter hatte sich dabei ertappt, wie er die Anwesenheit der Frau zu vermissen begann, war sie doch ein Garant dafür gewesen, dass man wenigstens für wenige Stunden dem Dreck und der Krankheit in den Straßen Löwensteins entfliehen konnte. Es hatte stets etwas Angenehmes, Zeit mit ihr zu verbringen und selten hatte der Mann aus Nortgard das zwingende Empfinden, dass die Einundzwanzig ihm eine Dame zugeleitet hatten, deren Schicksal vielleicht zukünftig enger mit seinem eigenen Leben verwoben sein würde, als er vor ihrem ersten Treffen noch geahnt haben mochte. Ein gutes Gefühl.

Sein Fenster für den letzten Abend jedoch hatte er verpasst – und dies war ausgerechnet der einen Sache geschuldet, wegen der sie oftmals ihre Stirn in Sorgenfalten gelegt hatte: Der Keuche. Die sonst vollkommen ereignislose Patroullie im neuen und alten Hafen wäre beinahe vorüber gewesen und streng genommen hatte der Streiter bereits auf einer Bank vor der klingenden Münze Platz genommen, als die Rufe nach einem Heiler ihn aus dieser Tagträumerei rissen und ihn wie Nackenschläge seiner Pflicht gemahnten.

Der Rest seines Wachtrupps, dessen rückwärtige Sicherung er übernommen hatte, hatte schließlich eine Kriegerin der Grauwölfe als jene ausgemacht, die man im Armenviertel bereits in Behandlung gebracht hatte und weshalb eine beinahe ewig scheinende Zeit des Wartens folgte, während seine Schwertschwester Arys sich um die verdachtsweise Totgeweihte kümmerte.

Jeder Augenblick den er im Armenviertel zubrachte schien die Keuche wieder präsenter werden zu lassen. Die Ratten und weiteres Viehzeug stiegen immer aggressiver, auch bei Tag, durch die Straßen und man musste täglich dafür sorgen, dass die sich ausbreitende Plage durch das Töten der Tiere zumindest langsamer voranschritt. Die Krankheit wirkte wie ein übermächtiger, unsichtbarer Feind, den der Streiter mit keiner seiner weltlichen Waffen schlagen konnte. Eine Erinnerung, nahezu die Mahnung keimte in ihm auf, den Rat des Rabenkreises zu suchen und schnellstmöglich die Lehren des Zirkels zu einer weiteren Priorität in seinem Leben zu machen.

Hoch oben auf dem Glockenturm Löwensteins formten sich all' diese Gedanken und führten dazu, dass sein Kopf sich anfühlte, als könne er jeden Augenblick platzen, als gäbe es kein Ventil, was ihm hier Luft verschaffen könnte. Zumindest keines, welches er hier innerhalb der Stadtmauern finden konnte. Noch in dieser Nacht eilte er, dieser inneren Eingebung folgend, hinaus. In den Wald, in das Gewimmel von Augen und Silhouetten fremder Wesen in der Dunkelheit eines gebeutelten Lehens.

Das einzige, was in dieser Nacht zurückblieb, war ein Botenjunge, der geduldig vor dem goldenen Schnitt ausharrte und Kristin ein Schreiben überbringen würde, so sie sich dort zur Arbeit begab. Bereitwillig würde der Junge Auskunft über den Urheber der Nachricht geben und ihr einen erfolgreichen Tag in der Schneiderei wünschen.

[Bild: seuchen-pest116~_v-image512_-6a0b0d9618f...7967693988]
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#4
Unter meiner Wacht

Langsam schloss die Hand des Streiters sich um die mit Spitzen bewehrte Stahlkugel, einer von dreien, die mit Ketten an deinen Griff geschmiedet waren. Unfreie Instrumente eines Handwerks, das sowohl Kunst als auch Vernichtung bedeuten konnte. Der Blick des Kriegers hatte sich auf die Kugel gerichtet, sie in seiner Hand gebettet wie den Schädel eines Toten – des Toten.

Ein Mann war gefallen, unter seiner Wacht, wenngleich er erst auf dem Weg dorthin gewesen war. Es fühlte sich an, als sei es in seine Zuständigkeit gefallen, dass dieser arme Narr, ein unausgebildeter Bauer, sich zu weit vorgewagt hatte. Sein Verlust hatte zweifelsohne eine Kaskade von Ereignissen in Gang gesetzt, die dem Streiter mehr als ungelegen kamen. Zum einen riss es möglicherweise ein Loch in die Motivation der Streitkräfte und zum anderen würde es vielleicht die Angst davor schüren, an der Front Dienst zu tun. Nicht genug, dass man dort immer mehr das Gefühl zur Untätigkeit verdammt zu sein, eine baufällige Mauer bewachend, die für diesen ganzen Feldzug zu stehen schien: Angefangen, aber nicht zu ende geführt.

Die Hand begann sich stärker um dem kühlen Stahl zu schließen, ein beinahe erlösender Druck, den der Streiter von den Dornen in der Kugel spürte, beinahe, auch nur beinahe einen Moment der Intimität mit diesem seelenlosen Werkzeug zu schaffen, dass ihm bislang gute Dienste erwiesen hatte. Die Augen Skaskars schlossen sich, als er den Moment in sich aufzusaugen begann, als wolle er aus dem Zusammenspiel von Stahl und Fleisch lesen, wie es dort weitergehen würde. Die Antwort, jedoch, wurde verdrängt. Der Impuls, den der Streiter anfangs heruntergekämpft hatte, die Wut und der Wille jeden Schützen der Gegenseite dreifach dafür zu Brei zu schlagen, dass sie nichts weiter als einen einfachen Feldarbeiter getötet hatten, schob sich wieder vor sein geistiges Auge. Ein Zwang nahezu, den Dornen des Morgensterns Nahrung zu geben, jeder Widerdruck in seiner Hand ein Flehen:“Ich bin nur ein einfaches Instrument deines Willens, gib mir zu essen, gib mir zu trinken – ich darbe!“

Der Krieger stellte sich vor, dass die in seinen Händen liegende Waffe derart verzweifelt klingen musste, könnte sie sprechen. Ihr Wunsch nichts weiter als der verlängerte Wille ihres Herrn, dessen Drang danach, zu jagen, zu bestrafen, seine Feinde wie eine Horde Tiere zu dominieren, sich immer stärker intensivierte und nichts anderes als ein diffuses Gefühl der Lust in seinem Körper zu imitieren begann, eine grausame Art der Verlockung, die unter dem Panzer zu brodeln begann und mit jedem Unrecht, dass er nicht sühnen konnte, weiter genährt wurde. Das Rauschen des nahen Flusses, an dessen Felskante er sich niedergelassen hatte, hallte in seinen Ohren wie das Rauschen des Blutes in den Körpern der Feinde, sein eigener Herzschlag fühlte sich an, als schlage er im Widerklang all' derer, die einen einfachen Mann ohne erkennbaren Grund um sein Leben gebracht hatten und in seinem Kopf manifestierte sich nicht weniger als der Wunsch die Brustkörbe all derer mit den Stahlkugeln seines Morgensterns zu durchschlagen und sie ihr eigenes Innerstes sehen zu lassen, ihnen mit Pinselstrichen der Gewalt ein Gemälde zu malen, dessen abartige Schönheit ihre eigenen Vergehen vergessen ließ. Am Ende durfte nichts bleiben, als die Qual und die Erkenntnis, einen furchtbaren Fehler begangen zu haben.

Das Verlangen, jetzt den Fluss zum Südwald zu queren und solange zu wüten, bis er seinen letzten Atemzug tat, eine Kreatur aus Amok und Todeslust zu werden, wuchs immer weiter an. Wie in Trance beführte der Streiter die unbeirrt fließenden Wasser des Südwaldflusses, fernab des Lagers. Fernab der Schützen. Hier gab es nur die Dunkelheit seiner Gedanken und die Dunkelheit des Stromes, dessen Querung er am liebsten vollzogen hätte.

Wie ein eiserner Dorn jedoch, drängte sich das Bild eines weiteren Felsens in das gedankliche Gewirr aus Gewalt und Verlangen. Der Stein gegenüber des Grenztores zu Candaria drängte sich in schattenhaften Schemen und mit respektabler Ausdauer in die Gedankenwelt, die ihm abrang, jegliche Kontrolle zu verlieren. Die Erinnerungen, die Ereignisse, die er mit diesem Fels verband, formten langsam aber sicher das Band des inneren Friedens, welches den Streiter aus seiner schwarzen Utopie zurückholten. Der eiserne Dorn der Erinnerung gemahnte ihn, dass er die Rückkehr gelobt, versprochen hatte, sie nicht alleine mit dieser Stadt zu lassen. Und sie war es – vermutlich ohne es zu wissen – die maßgeblich dazu beitrug, dass er den Weg zurückfand. Zurück in das Hier und Jetzt, das Verlangen des Wüters zumindest zeitweise verbannend und es darauf vertröstend, dass die Gelegenheit vielleicht kommen möge, all das auszuleben und am Ende doch den Frieden zu spüren, der nun wieder auf seiner Seele brannte. Skaskar entließ etwas Luft aus seinen Lungen, als seine Gedanken sich an immer mehr Teile dieser allzu präsenten Ereignisse klammerten, die, dabei ohne jegliche Anzüglichkeit auskommend, ein Band von Nähe und Vertrauen geformt hatten, die nun wie rettender Schirm wirkten.

Wie einer diffusen Macht beraubt, sank der Krieger an den Fels und blickte kraftlos in den Nachthimmel. Mit der Ruhe kehrte tatsächlich so etwas wie Wehmut ein – zum einen darüber, nicht dem unheimlichen Verlangen von Wut und Verderben nachgegeben zu haben, zum anderen darüber die Erinnerung nicht wieder zur Realität werden zu lassen. Die Nähe und das Vertrauen mochten zwar präsent sein, nicht aber der Mensch, der all dies auslöste und zu erwidern wusste. Irritation erfasste den Streiter für einen Moment, die letztlich darin gipfelte, dass sich die Worte Twyllos und Gawins wie ein Band durch seinen Schädel zogen und die stille Konstante seines Lebens, das Pantheon der Mondwächter gerade und vor allem in den Vordergrund rückten.

Die Namen seiner Schicksalsgötter blendeten auf, als wollten sie etwas bemängeln, vielleicht sogar das Naturell des Streiters in Frage stellen und mit Ablehnung der Tatsache begegnen, dass er nicht ihrem Ruf gefolgt war. In der Feststellung, dass es gute Opfer gewesen wären, schien sich das Gedankenspiel von selbst zu bestätigen und er sich vor allem selbst zu ermahnen, sich dringend um Führung zu bemühen.

Der Gedanke wirkte wie ein Abschluss, ein Deckel, der auf eine Büchse mit giftigen Pilzen genagelt wurde. Dementsprechend ereignislos und leer wirkte der Heimweg des Streiters. Der Kopf schien leer, all' seiner Elemente beraubt, als hätten sie beschlossen, sich in einen dunklen, schattenhaften Winkel zurückzuziehen und sich erst später wieder zu zeigen. Ein Aufblitzen seiner streikenden Gedankenwelt erfuhr er nur als er an der Schneiderei Greiffenwaldt zum Hort der wachenden Schwerter zuückging. Er hoffte um Kristins Willen, dass sie einen ruhigen Schlaf haben mochte, abgeschottet von den Ereignissen der Nacht, abgeschottet von Blut, Tod und Schmerz. Etwas in ihm verzehrte sich danach, dies überprüfen zu wollen, einfach nur um sicherzugehen, dass dieser seiner Meinung nach verdiente Zustand eingetreten war. Seine Beine jedoch, trugen ihn, dem letzten Rest rationalen Denkens folgend, zum Hort.

Die ersten Sonnenstrahlen begannen bereits die Fenster zu durchscheinen, als der Bericht auf dem Platz des Protektors lag und ein kleiner Junge sich vom Haus aufmachte, die Schneiderin zu erwarten, die dem Krieger eine Lebenskonstante geworden schien.

[Bild: luebeck-altstadt-540x304.jpg]
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#5
Genesung & Pflicht

Wach. Die Welt um ihn herum begann sich erneut mit Leben zu entflammen und riss den ruhenden Streiter aus dem Exil von Schlaf und Kraftlosigkeit. Die Augen zunächst geschlossen, versuchte er sein Umfeld zu erspüren. Das feine Zusammenspiel aus Gerüchen und Geräuschen schien wie sanfte Gauklerei um ihn herumzutanzen, als besinge es den Umstand, dass Odem und Blut den von Kampf und Erschöpfung gezeichneten Körper nicht verlassen hatten. Es schien wie eine wohltuende Form von Magie, wie sich die Sinne ganz auf das zu konzentrieren schienen, was die Augen nicht sehen konnten. Die hölzerne Einrichtung, die Felle auf denen er lag, der frische Luftzug, der durch das halb geöffnete Fenster drang, alles schien für den Moment des Erwachens so wahrnehmbar, wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Sein eigener Körper stimmte in das Spiel mit ein, gewährte ihm eine Hörprobe seines Atems, während sich der Brustkorb im Gleichschlag dazu heben und senken würde.

Erst jetzt schien Skaskar bewusst zu werden, dass ihm ihre Nähe und die damit einhergehende Wärme, keine die ein Fell oder eine Decke je geben konnten, fehlte. Der geschlagene Streiter öffnete seine Augen. Die Zimmerdecke. Aus den Augenwinkeln: Ein leeres Fell. Die Hand strich in einer sanften Geste über die Stelle, die ihm die Erinnerung an sie am nächsten brachte. Heimkehr beschrieb das hierdurch aufkeimende Gefühl und sorgte dafür, dass sich unbemerkt ein Lächeln auf das Gesicht des Mannes stahl. Vermutlich hatte sie sich längst wieder dem Arbeitsalltag hingegeben, während er mit nicht weniger beschäftigt war, als seinem Körper bei der Genesung zuzusehen. Ein unhaltbarer Zustand.

Das Fell fein säuberlich zusammengelegt, hinterließ er Kristin noch eine Notiz mit seinem Verbleib, bevor die Haupttür des Gebäudes hinter ihm ins Schloss fiel. Die nun geballt auf ihn einströmende Luft des Morgens, dessen Kälte die Sonne noch nicht gänzlich vertrieben hatte, füllte seine Lungen und blies Skaskar erneut Leben in den Leib. Ein Moment, der Klarheit und Einkehr zurückbrachte, ihn an die Pflichten erinnerte, denen er sich beugen müsste. Ein kurzes, stechendes Aufkeimen. Musste er? Der innere Krieger, sein geliebtes Erbe, dem er entgegenstrebte, meldete sich so unvermittelt wie roh in seinem Schädel. Seine Freiheit hatte er Stück um Stück anderen zum Untertan gemacht und viel war bis zum Tag der Schlacht nicht mehr davon geblieben. Ein getriebener Blick dominierte für einen Augenblick die Züge des Kriegers, während er für den Moment des folgenden Atemzuges darin versagte, eine Form der Besänftigung zu finden. Als erneut der Austausch von verbrauchter Luft aus seinen Lungen vollzogen war und er den geisterhaften Ballast durch das Absenken seines Brustkorbes aus dem Körper gepresst hatte, setzte sich Skaskar Sturmschlag in Bewegung. Heute würde sein erster Schritt nicht der Bund sein, weder um die Schäden seiner Rüstung zu reparieren, noch um sein Versagen in der Schlacht zu erklären, welches ihn zunächst ins Lazarett und kurz darauf in ihre Arme gesandt hatte. Es galt, Abbitte zu leisten.

Beim Verlassen der Stadt erwiderte der Krieger den neugierigen Blick eines Raben, der offensichtlich darauf lungerte, eine Mahlzeit oder etwas zum Nestbau vom Friedhof stehlen zu können. Im Blick des Kämpfers lag ein Versprechen, eines welches er weder artikulieren konnte, noch musste. Skaskar hatte das Gefühl, dass das schwarze Federvieh ihn verstand. Das gleiche Gefühl von Verständnis und Einsicht begleitete den Kämpfer beim Durchstreifen der Wälder Servanos. Die Feuchtigkeit des Blattwerks benetzte Rüstung und Haut, die noch viel klarer wirkende Luft drang beinahe gewaltsam in seinen Körper und schien den letzten Rest von Wundbrand und Kraftlosigkeit aus seinem Leib zu treiben. Das Pulsieren des Jagdtriebs begann sich wieder in den Vordergrund zu schieben, der Drang zu dominieren, zu töten, zu opfern. So klar wie schon seit der Zeit in seiner Heimat nicht, schossen diese drei Gedanken durch sein Denken, forderten ihren Platz hier draußen in der Wildnis, die weder Besänftigung, Gerechtigkeit oder Gnade kannte. Der Körper des Kriegers spannte sich beinahe erregt unter dem Griff an, der sein Denken nun fest umschlossen hielt. Zahllose Tiere kreuzten seinen Weg, schwache, einfache Apparate der Natur, nicht wert gejagt zu werden. Unter jedem Lidschlag konnte Skaskar das Raubtier spüren, wie es nach vorne drang, ungeduldig, fratzenhaft. Es verlangte einen Ausgleich dafür, dass er sich an der Südwaldfront mit Pfeilen hatte spicken lassen. Zu wenig Blut, zu wenig Seelen, die er ins Nichts geschickt hatte. Es galt zu beweisen, dass er mehr Wert besaß als ein Nadelkissen. Das Unterholz knackte unter seinen Schritten, bog sich unter den Gedanken des Jägers.

Auf einer Lichtung schließlich, hielt der Streiter inne. Das Gefühl, am Ziel angelangt zu sein beschlich seinen Geist. Der Blick wanderte durch den Wald, der sich hinter dem ovalen, freien Feld wie eine Wand um ihn herum schloss. Der Ort glich einer kleinen Arena des Waldes, nicht einmal groß genug, um einer kleinen Hütte Platz zu bieten, weckte in ihm jedoch auch zeitgleich ein Gefühl der Alarmierung. Knacken im Unterholz. Getrappel. Schwer auszumachen. Das Raubtier empfing seinen Gegner. Er verlangte einen Feind, der sich zu wehren wusste, einen Feind, der den Beweis in Blut würdig erscheinen ließ. Skaskar hatte die Hände erhoben, der Morgenstern blieb am Waffengurt. Ein Kampf Klaue gegen Klaue.

Der Moment, in dem der Streiter das sich nähernde Getrappel ausmachen konnte, kam rasch. Gerade eben konnte er den Keiler noch sehen, der durch das Unterholz hervorbrach und sich von den Waldschatten abhob, um in das Licht der Arena zu preschen. Das Tier schien kein Halten zu kennen, als habe er das Innerste seines Reviers durch seine Anwesenheit verunreinigt. Keine Möglichkeit auszuweichen, nur die Möglichkeit sich vorzubereiten. Der Einschlag der Hauer und des massiven Kopfes fühlten sich an, als habe jemand den Streiter mit voller Wucht einem riesenhaften Hammer ausgesetzt. Der Körper beugte sich unter dem Druck des Tieres, hob vom Boden ab und prallte gegen einen nahen Baum. Atem entwich dem Krieger, von irgendwoher drang der Geschmack von Blut in seinem Mund. Es fühlte sich in diesem Moment genussvoll, erhebend an, während sein Körper darum kämpfte, seine Form zu bewahren und sich langsam wieder erhob. Der Morgenstern wurde vom Gürtel entlassen und sank zu Boden. Zu viel Gewicht. Das Jagdmesser hingegen, fand den Weg in seine Hand, während das Tier schnaubend und mit einem Huf im Boden der Lichtung scharrte. Eine Aufforderung, eine Warnung vielleicht.

Ohne sich dem Gesetz des Tieres zu beugen, begann der Streiter sich frontal auf das Tier zu werfen, dass nun selbst mit seinem zahnbewehrten Schädel nach ihm zu stoßen und wild auszuschlagen begann. Während sich ein Arm um den dicken Nacken des Tieres schloss, dass sich derweil nicht anders zu helfen wusste, als den Kämpfer mit sich zu schleifen, um ihn irgendwie abzuschütteln, fand das Messer seinen Weg unter die Haut des Tieres. Warmes Blut floss aus dem Leib, ergoss sich über Borsten und Haut, bildete einen feuchten Mantel. Etwas traf den Kämpfer am Rücken, vielleicht eine Wurzel, vielleicht ein Stein. In jedem Fall schmerzhaft. Ein weiterer Stich unter das Schulterblatt des Tieres. Und noch einer. Wildheit umfing das bereits im Überlebenskampf begriffene Tier, während Skaskar immer mehr und immer tiefere Wunden und Schnitte in den Leib des Tieres trieb, während sein Griff um den Hals sich langsam zu lösen begann.

Erneut traf den Streiter etwas hart an seiner Seite und der Griff musste schließlich entkräftet einsehen, dass er nicht bis zum Tod des Tieres durchhalten konnte. Das Messer indes, verkeilte sich zwischen den Rippen des Keilers als Skaskar vom Gegner abfiel und im Gras landete. Pochende Wellen der Schmerzen wanderten durch seinen Körper, als er mit Genugtuung zusah, wie das Schwein nach nur wenigen Schritt nicht mehr in der Lage war, wegzulaufen. Es war ein leichtes, das Tier einzuholen, das Messer aus der verkeilten Position zu lösen und das Elend mit einem Kehlenschnitt zu beenden. Zufriedenheit breitete sich aus.

Am nahen Morrigú Schrein legte er das Tier ab und benetzte den Sockel der Statue mit dem Blut des Tieres. „Ein gutes Opfer.“, wie Skaskar befand und sich vor dem toten Leib und der Statue dahinter auf die Knie begab. Kaum hörbare Worte der Einkehr, aber auch der Reue fanden den Weg zu Leib und Kultstätte. Er hatte im Kampf vielfach versagt, seinem Räuber nicht das gegeben, was er eingefordert hatte. Nicht das, worauf dieser ganze Konflikt, einem stimulierenden Vorspiel gleich, gipfeln sollte. Dies war der erste von vielen Beweisen, die er in der kommenden Zeit bringen musste. Skaskar sah sich in der Bringschuld dem Pantheon gegenüber und vermutete hinter seinem Versagen vielleicht sogar eine Strafe für sein Verhalten. Seine Schicksalsgötter vergaßen weder schnell, noch kannten sie viel Gnade. Ein Umstand, der sich erneut gezeigt hatte.

Noch lange, nachdem Skaskar seinen Rückweg nach Löwenstein angetreten hatte, begleiteten ihn die Gedanken seiner Bringschuld – eine Pflicht, die nur langsam dem Gestank der Hauptstadt des Lehens wich und damit auch wieder die Pflicht zur Pflege seiner Rüstung, zur Ausbesserung ihrer Schäden und zur Einkehr in den Hort zurückbrachte.

[Bild: keiler_im_rauhreif.jpg]
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#6
Eine Welt, die sich um den Kämpen bog, elastisch und aus Federn, die dem Gewicht seines Körpers nachgab, als die Koordination seiner Hände mit dem Gleichgewichtsempfinden im Widerstreit lag. Nach einem kurzen, aber heftigen Kampf, zwang sich das mangelhafte Koordinationsbewusstsein seiner Hände nach vorne und entschied, dass ein besonders kräftiger Schluck aus dem Krug die beste Idee des Abends sein würde, nachdem die diversen Vorrunden des Trinkwettbewerbs bereits ihr übriges getan hatten. Sein Gleichgewicht gab sich hierdurch nicht nur in einer Hinsicht geschlagen: Unfähig, den mit Kopf und Krug nach hinten gelegten Streiter weiter auf seiner Bank zu halten, konnte man einen Mann wie einen Baum von seiner Sitzgelegenheit purzeln sehen – mit der sehr gehaltvollen Ausnahme, dass anstatt einem 'Baum fällt!' allseitiges Lachen die Szenerie begleitet hatte, während der Krieger zunächst auf dem Rücken und mit in die Luft gestreckten Beinen auf dem Boden lag. Manchmal musste man einfach einsehen, dass der Wille den Körper überstieg.

Seinen Rest an Würde überwindend, entschied der Streiter, dass jeder Versuch sich aufzurichten, vermutlich in einer Totalentleerung enden würde und beschied, dass es zunächst ein veritabler Erfolg sein dürfte, sich auf bäuchlings zu drehen und anschließend auf allen Vieren das Schlachtfeld zu verlassen. Nebenbei wurde ihm hierbei eine Weisheit zuteil, wie sie nur durch Met, Wein und Branwen-weiß-was-noch hervorbringen konnten: Die Luft war besser, je tiefer man sich fortbewegte. Sich nicht weiter über die Sinnhaftigkeit dieses Gedankens kümmernd, hatte Skaskar in jedem Fall einen weiteren Teilerfolg zu verbuchen: Die Getränkefässer in der Nähe boten die perfekte Möglichkeit, sich auf dem Boden sitzend anzulehnen, bevor er sich auf den Heimweg machte. Heimweg. Ein kurzes Aufzucken, der letzten, noch nicht vollständig durch den Alkohol betäubten Zellen, das eine große und umso bedrohlichere Überschrift vor sein geistiges Auge zauberte:'Kristin wird mich umbringen.' Das darauf folgende, dümmliche Grinsen, vermutlich hervorgerufen durch den Namen und die damit doch wieder recht angenehmen Gedanken, stand im deutlichen Kontrast zu dem kurzen Versuch, eine Lösung für das Dilemma zu finden. Jenes nämlich bestand, so konnte Skaskar sich selbst folgend, darin, dass seine Gefährtin vermutlich wenig begeistert über einen hinreichend und abstoßend betrunkenen Krieger sein würde, vor allem wenn er nach all den Getränken, die er zu sich genommen hatte, stank.

Ein schweres Ausatmen beendete das Gedankenkarussel mit einem Entschluss. Es gab genug Wasser in Löwenstein, um sich zu waschen. Damit konnte man dem Gestank beikommen. Aber den Rausch – den musste Branwen zu sich nehmen. Und wie jeder gute Mondwächter wusste, hörte er am besten zu, wenn man laut und kraftvoll sang. Diesem inneren Rat folgend, setzte sich der Streiter also, absolut sicher bis zur Haustür der Schneiderstube vollkommen nüchtern zu sein, in Bewegung. Vermutlich hätte er es auch geschafft. Zwar weniger nüchtern, aber irgendwann das passende Haus wiederzufinden, dabei Kristin zu wecken und absolut nicht zu verstehen, was es an der Gesamtsituation jetzt noch auszusetzen gab. Vermutlich hatte jedoch irgendjemand ein Einsehen mit der jungen Liebschaft, so dass Skajars helfende Hand entschied, dem Krieger den Weg zum Hort zu weisen. Zumindest waren die Gedanken des Kriegers nicht so vernebelt, dass die Erinnerung sich seinem Geist verwehrte, als er in voller Rüstung und den entsprechenden Kopfschmerzen im Hort des Bundes aufwachte, als die ersten Sonnenstrahlen durch die Fenster drangen. Die Luft schien sich im Laufe der Nacht mit den diversen Abfallprodukten aus den Lungen der Schwertbundler, vor allem aber dem Restalkohol, angedickt zu haben und es fühlte sich an, als müsste man tatsächlich körperliche Anstrengung aufwenden, um dem Gemisch aus diversen Dingen, die man besser nicht roch, entgegenzutreten.

Vor allem aufgrund dieser Tatsache, nahm Skaskar sich die Zeit seine Rüstung soweit möglich im Liegen abzuschnallen und anschließend ein Fenster zu öffnen. Die frische, einströmende Luft wirkte auf eine ekelhafte Weise feindselig und tadelnd, als sie den Inhalt des Bundodems herausbeförderte und in alle Winde zu zerstreuen gedachte. Ein erschöpfter und zugleich erleichterter Blick trat auf die Züge des Kriegers, der sich im Anschluss, soweit es sein Kater erlaubte, einer Waschung unterzog, bevor er sich in frische Kleider warf. Die Hand der Klinke der Tür vom Hort, sah der Krieger nochmals zurück und hinauf zur Treppe, als das Urteil:“Ein guter Abend.“ sich in seine Gedankenwelt schlich, gefolgt von der triumphalen Gewissheit, dass sein Magen nicht alles wieder herausbefördert hat, was darin gelandet ist.

Also verließ der Krieger den Hort des Bundes im verschlafenen Dämmerungsdunkel der Stadt. Die zugleich eiligen aber auch sehr konzentriert wirkenden Schritte führten ihn schnell zur Schneiderstube, in der seine Gefährtin wahrscheinlich längst das Nachtlager aufgeschlagen hatte. Eine kurze Beurteilung seines eigenen Zustandes wähnte ihn in der Sicherheit, sich nicht dem vollständigen Groll der Schneiderin aussetzen zu müssen, nun da er seinen Körper wieder zurück hatte – zumindest teilweise. Die Knochen wirkten erschöpft, schwer und schienen Skaskar Sturmschlag für die Idee, das Nachtlager im Band zu verlassen, mit jedem Schritt zu tadeln. Sie verlangten – und hatten es sich auch verdient – nach mehr Ruhe, wo sie doch eine ganz eigene Schlacht zu schlagen hatten. Der eigentlich sehr kurze Weg schien eine Ewigkeit anzudauern und genau genommen wusste der Krieger auch nicht mehr, wie lange er vor der Treppe zum ersten Stock des Hauses gestanden hatte, als der Weg dorthin endlich hinter ihm lag. Den mit dem Aufstieg hatte er schon nicht mehr gerechnet. Sorgfältiges Abwägen führte dazu, dass er von der Idee, die Treppen auf allen Vieren zu nehmen, Abstand gewann, auch wenn es vermutlich einfacher gewesen wäre.

Also stieg er langsam und konzentriert auf. Stufe für Stufe, immer weiter dem Ende der Anstrengung entgegen. Das Ergebnis jedoch, schien ihm alle Schwere aus dem Gesicht zu treiben. Dort nämlich, lag sie und hatte hoffentlich nichts von dem beschwerlichen Aufstieg mitbekommen. Das gleichmäßige Heben und Senken des Brustkorbes schien das zumindest annehmen zu lassen, als der Krieger sich leise, um nicht einmal ein Knarzen der Hölzer unter sich zu provozieren, neben ihr unter die Decke schob. Eine zaghafte Berührung ihrer Seite, ohne sich allzu stark zu nähern und den damit bislang vermiedenen Groll heraufzubeschwören, war alles, was an Nähe nötig war, um den Krieger wieder in einen besseren, sanfteren Schlaf zu geleiten.

Der Abend war im Vorfeld unterhaltsam und angenehm gewesen, eine willkommene Abwechslung in dieser Stadt, die er ansonsten so sehr hasste und insoweit war die Übernachtung im Bund auch eine gute Idee gewesen. Die Rückkehr zu seiner Gefährtin jedoch, war nicht nur eine notwendige Sache gewesen, um späteren Fragen aus dem Weg zu gehen. Jetzt, hier neben dieser Frau zu liegen, fügte unsichtbare Teile zusammen, Teile die erst jetzt wieder ein Ganzes ergaben und in dem Krieger ein Gefühl aufkeimen ließen, dass er schon lange nicht mehr verspürt hatte, seit er die Grenzen Nortgards verlassen hatte: Heimat.

Und auch wenn die Zeit, bis sie wieder aufstehen und sich der Arbeit in der Schneiderstube zuwenden musste, nicht mehr allzu lange sein würde, hielt der Krieger an diesem Gedanken fest, als könnte er aus dem Sand in seiner Hand einen festen Stein formen, der das Schicksal dieser beiden Menschen zementieren würde und jeder Welle trotzen konnte.

[Bild: Fels-in-der-Brandung.jpg]
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#7
Die gewohnte Fassade vom geschäftigen Treiben Löwensteins hatte es schon oft vermocht, Skaskar das Gefühl zu geben, dass in dieser Stadt eben doch nicht alles so bis in die Wurzeln verdorben war, wie es ihm oftmals erschien. Auch an diesem Morgen ertappte er sich dabei, wie das Treiben von vorbeirumpelnden Marktkarren, ihre Waren anpreisenden Händlern und in Eile hastenden Stadtmenschen ihm kurz das Gefühl gab, in einer völlig normalen Stadt zu sein. Der Gedanke schien sich auch nach einem längeren Marsch durch die Stadt nicht verflüchtigen zu wollen, als grabschte eine unbeholfene Hand nach dem in seinem Schädel eingesperrten Wissen in dem Bestreben es vor dem Streiter zu verstecken und ihn zu einer weiteren, seelenlosen Hülle dieser Totenschmiede zu machen. Als wäre dieses Gefühl eine greifbare Sache, vollführte der Krieger eine wegwischende Geste, so wie man auch eine lästige Fliege verscheucht, die nicht einsehen will, dass es am lebenden Menschen nichts zu holen gibt.

„Noch hast du mich nicht umgebracht, Löwenstein...“ stahl sich ein weiterer Gedanke in seinen Schädel, der sich anfühlte, als hätte man ihn in einen Schreibstock gezwängt. Skaskar schien jedoch bestätigt, dass sowohl Geste auch als Gedankendialog dazu führten, dass die grabschende, fette, fleischige Hand vorerst abgelassen hatte und sein Wissen und seine Seele sich wieder etwas Zeit erkauft hatten. Wo jedoch das Gefühl von Freiheit einkehren sollte, als habe man ihm ein schweres Gewicht von den Lungen genommen, drehte sich das Gedankenkarussel weiter. Die Erleichterung blieb ein ferner Wunsch, ein Verlangen, ein Herbeisehnen sogar und selbst der Blick auf das Meer, den er als passablen Ersatz für seine Heimat befunden hatte, seit seine Gefährtin ihm von der darunter liegenden Welt erzählt hatte, wollte ihm nicht einmal den Hauch von Ruhe und Einkehr schenken.

Es war anstrengend der Außenwelt, seinen Brüdern und Schwestern im Bund der wachenden Schwerter und auch Kristin, die beim Pantheon selbst genug Probleme hatte, das vorzuenthalten, was sich langsam als Entschluss zu manifestieren begann. Der Weggang Merandors hatte die Führung des Bundes auf mehrere Schultern verlagert und natürlich waren Vegard und Askir bestrebt, immer voran, immer vorwärts mit dem alten Orden zu gehen. Skaskar hingegen, war sich nicht sicher, ob das tatsächlich auch sein Weg sein würde. Das Verschwinden von Arys hatte geschmerzt, vielleicht sogar mehr als das von Merandor. Dennoch fühlte sich sein plötzlicher Wechsel zur Kirche des Mithras an, als hätte man ein Loch in die Fassade des Bundes und tatsächlich auch in sein eigenes Mauerwerk, welches eigentlich Stabilität bringen sollte, geschlagen. Letztlich hatte sich alles überschlagen und zwar derart schnell, dass Skaskar nur am Rande wahrgenommen hatte, dass seine Gefährtin irgendeine Art von Vertrag mit den Jehanns eingegangen war. Er war nicht einmal dazu gekommen, sie dazu genauer zu befragen. Das Gedankenkarussel begann sich schneller zu drehen, ging nun mit Schwindel einher. Skaskar bemerkte beinahe zu spät, dass die Welt um ihn herum zu schwanken begann und der kalte Stein der Brüstung, an der er nun mit dem Rücken hinab zu Boden rutschte, fühlte sich wie ein unbarmherziger, distanzierter Griff an, der sagen wollte:“Sieh genau hin, ich lasse nicht zu, dass Du die Augen schließen kannst, egal wie schlimm es aussieht.“

Dass der Streiter nun selbst seine Augen schloss, half nicht. Im Gegenteil drehte sich das Karussel, nun mehr einem Sturm auf hoher See gleich, noch schneller und sein Magen befand, dass es genau der richtige Zeitpunkt wäre, um ihm das Gefühl zu geben, sein Inhalt werde mit Gewalt von einer zur anderen Magenwand gedreht, nahezu umgegraben. Skaskar glaubte, seine Hand auszustrecken, nach Kristin, nach seiner Familie, nach seiner Heimat. Irgendeiner musste sie nun ergreifen, dem gefallenen Krieger aufhelfen – aber auch nach einer Myriade von Augenblicken, in denen er sich blind und am Boden glaubte, war da niemand. Natürlich nicht. Er war an diesen Ort geflüchtet und wusste bei diesem Gedanken zum ersten mal nicht sicher, ob damit dieser Platz im neuen Hafen oder sogar seine Reise von Nortgard nach Servano gemeint war und bislang stets nur von der Liebe zum nördlichen Lehen überschattet wurde. Schwärze begann sich in dem lichtlosen Dunkel unter seinen Augenlidern auszubreiten, eine Schwärze die das Dunkel darunter sogar noch sichtbar überschatten konnte und erstmals begann das Karussel in weite Ferne zu rücken. Die Geräuschwelt um ihn herum begann leiser zu werden, als seien sie die Beigabe einer fernen Traumwelt, in der Skaskar nur Beobachter war. Die Gerüche begannen stumpf und fahl zu werden, als verloren sie ihre Farbe. Der leichte Wind, der hier immer am Wasser wehte, hielt inne und ereiferte sich, einer drückenden Hitze Platz zu machen, die dem Krieger schließlich auch die Luft dick und schwer machte. Als Skaskar Sturmschlag merkte, dass die Ohnmacht ihn gänzlich in ihren Fängen hatte und nicht mehr loslassen würde, begann er mit allen Gliedmaßen zu rudern, als könnte er sich an ein Ufer aus der schwarzen See retten, die sich um seine Gedankenwelt schloss und ihn unbarmherzig in ihre Tiefe zog.

Was dort unten lag, wollte der Krieger nicht wissen, hatte nie das Bedürfnis danach gehabt. Auch jetzt hatte er das Gefühl, dass etwas dort unten lauerte, während sein Körper Signale sandte, als würde er immer weiter in eine diffuse, schwarze Tiefe gezogen, in der es nichts für die Welt der Tagwesen gab und selbst Löwenstein wirkte auf einmal wie ein Ort des Friedens und der Eintracht gegenüber der Panik und der Abscheu gegenüber dem, was dort unten lauerte und vermutlich schon immer gewartet hatte. Der Krieger sehnte sich zurück, der flehende Blick dorthin, was er für die Oberfläche hielt, enthielt den unausgesprochenen und vor allem unerfüllten Wunsch, aus dieser Geistesfolter erlöst zu werden. Ungehört. Unbeachtet. Die Barmherzigkeit wie die Luft aus seinen Lungen nach einem schweren Leberhaken gewichen und einzig Hoffnungslosigkeit blieb an dem einsamen Ort, den seine Seele nun einforderte.

Einzig seine Finger begannen, das Gefühl zu vermitteln, der Streiter würde steinernes Mauerwerk mit den Kuppen berühren. Ein zunächst vertrautes Gefühl, das von Heimat sprach. Von guten Gedanken, die in dem Moment, da sie sich aus der diffusen Schwärze heraus manifestieren wollten, mit der Fassade, die er berührt hatte, zu bröckeln begannen. Erneut das aufwogende Gefühl von Panik und Hilflosigkeit und der absurde Gedanke, das steinerne Bröckeln rühre von seinem Gesicht her und bald wäre nichts mehr als der unter der Haut liegende Knochen übrig, wenn er nichts unternehmen würde. Aber der Krieger konnte nichts unternehmen und das Gefühl von losem Geröll, welches ihm durch die erlahmten Finger glitt, schien von einer Unendlichkeit beseelt, während die angenehmen Gedanken seiner Vergangenheit in weiter Ferne und unerreichbar blieben. Wie enttäuschte Eltern schienen sie ihn zu betrachten, während sein steinernes Antlitz - ja, es musste wirklich sein Gesicht sein – weiter durch seine Finger glitt, in eine Leere, die unwiderbringlichen Verlust bedeutete. Unter dieser Kruste jedoch, begann der Streiter mit wachsendem Erschrecken wieder Leben zu erspüren, ein rotes Pulsieren, verlangend, dominant und fürchterlich hungrig. Es war die Wiederkehr einer Abbitte, wie er fürchtete, vielleicht sogar die Strafe dafür, dass er zu wenig Leidenschaft für das Geschenk entwickelt hatte, was man ihm zuteil werden ließ. Die Frage, ob Tiere noch genug der Gabe waren, führte zu einem Gefühl, als ohrfeigte ihn irgendetwas sofort für diese Frage und die Antwort, die gleich darauf an die Stelle der Frage trat, ging mit einem Moment der Resignation und Aufgabe einher, einem kurzen Augenblick in dem das Strampeln endete und Skaskar erstmals das Gefühl hatte, das Lauern würde für die Dauer dieses Augenblicks von ihm ablassen und ihm einen Moment der Ruhe gewähren – vermutlich um zu Begreifen.

Ein Reißen begann seinen Körper zu erfassen als der Moment mit grausamer Gewalt aus seinem Kopf getriebe wurde. Der Krieger brauchte einen Augenblick um zu begreifen, dass es tatsächlich sein Körper und kein weiteres Traum(Trug-)bild war, welches mit seiner Gedankenwelt Schindluder trieb. Etwas griff nach ihm, nach der Kleidung an seinem Körper und erneut stieg der Krieger die schweren Stufen eines tiefen Schlafes hinauf um zu begreifen, dass er sich noch immer im alten Hafen befinden würde. Der Wind begann wieder anzuheben, als sei er gewillt, diese Vermutung zu bestätigen. Das ferne Kreischen der Möwen wirkte alarmierend für den Krieger, der unter Aufbietung vermeintlich titanischer Kräfte seine Augen aufriss um in den überraschten Blick eines Mannes zu sehen, der einen Beutel, Skaskars Münzbeutel, in der Hand hielt, in der anderen einen Dolch. Der feige Diebstahl war etwas, das ihm die Verderbtheit der Stadt zwar vor Augen führte, der Dolch jedoch, ließ dem Krieger keine Möglichkeit, sich auch nur ansatzweise an diesen, ersten Gedanken zu klammern. Das Rot in seinem Innern, das Pulsieren, stieg gewaltsam nach vorne, führte seine Hand mit einer fürchterlichen Freude, als die kraftvolle Hand des Streiters das Handgelenk des Diebes ergriff, ihm das Werkzeug entwandt und anschließend die andere Hand um die Kehle des jungen Mannes zu legen begann. Überraschung wich Furcht, während der kraftvolle Griff des Kriegers den Körper an seinem Hals zu Boden rang und Skaskar sich auf den Oberkörper setzte, den jungen Leib zu Boden drücken, während seine Hand an der Kehle sich für den Hauch eines Augenblickes zurückzog, nur um anschließend mit geballter Faust im Gesicht zu landen, sich anschließend mit seiner anderen Faust abwechselnd. Immer wieder sausten die Fäuste des Streiters nieder auf denjenigen, der nun zum Opfer ward. Jeder weitere Schlag begann das Gesicht aus dem Körper des Diebes zu treiben, nahmen ihm jegliche Möglichkeit, sein Befinden über die veränderte Situation auszudrücken und letztlich vollführte der Krieger an seinem Opfer die wundersame Verwandlung, die aus einem festen Körper eine ungeformte Masse gemacht hatte, die langsam die Fugen zwischen den Steinplatten des Neuen Hafens zu füllen. Zufriedenheit war das letzte Gefühl, das Skaskar empfand, bevor die Schwärze erneut Besitz von ihm begriff, nur um ihn kurz darauf tatsächlich aufwachen zu lassen.

Der Krieger realisierte mit wachsender Irritiation, dass die Geschehnisse nichts weiter als Träume gewesen waren, während seine Hand alarmiert an seinen Münzbeutel am Gurt griff und dort tatsächlich eine Hand ertasten konnte. Erneut der überraschte Blick eines – des? - Diebes, der sich soeben am darnieder liegenden Skaskar bereichern wollte. Die Überraschung jedoch, dass dieser offensichtlich während der Tat erwacht war, reichte aus, um den Tagedieb das Weite suchen zu lassen. Wortlos, angstvoll. Erneut das Gefühl einer von Dominanz und Stärke geprägten Zufriedenheit, eine Empfindung, die Skaskar nun, da er wieder zu Sinnen kam, wieder Angst zu machen schien. Eine Angst, die er vorerst wieder einsperren und niederzurren musste, genau wie das Raubtier, das sie verursachte.

Erst als Skaskar den neuen Hafen verlassen und sich wieder in das Treiben von Löwensteins Stadtkern begeben hatte, bemerkte er, dass seine Kopfschmerzen, das Gefühl in einem Schraubstock gefangen zu sein und die Atemnot verschwunden waren.
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#8
Der Regen, der den heraufgezogenen Morgen wie ein sanfter Vorhang, ein halbweißer Seidenschleier zu beiden Seiten der Pfade Servanos säumte, hatte erstmals nach den warmen Mondläufen keinen Zweifel daran gelassen, dass das Klima umzuschlagen begann. Vielleicht würde es nochmals ein kurzes Aufbaumen der warmen Gezeiten geben - Mithras solle daran ersticken – und dem Volk, dass sich in die Wärme floh, wie ängstliche Nager in ihre Bauten, wenn ein großes Raubtier in der Nähe war, ein Aufflammen der Hoffnung zu ermöglichen, dass die kalten Monde noch weiter auf sich warten ließen. Aber Skaskar Sturmschlag wusste, dass das Rad der Gezeiten sich unbarmherzig weiterdrehte, unbeeindruckt von den schwächlichen Befindlichkeiten der Menschen. Es hatte, so stellte der Krieger auf seinem Weg in die Berge des Südwalds fest, nicht viel mit Zufall zu tun, dass Nortgard nun einmal das beste Schlachtenmaterial – an Mensch und Stahl gleichermaßen – stellte. Nicht nur, dass das Blut der Ulgard noch immer kochend heiß durch die Adern derer floss, die sich weigerten, ihr Erbe abzuschütteln. Vielmehr wurden sie auch täglich von ihrem Lehen, ihrer Heimat geprüft und beurteilt.

Selbst die warmen Monde konnten nicht viel Wärme spenden, je nachdem in welchen Höhen man sich herumtreiben musste und die kalten Mondläufe hätte wahrscheinlich jeden Mann oder jede Frau eines anderen Lehens den einen oder anderen Zeh oder Finger einbüßen lassen, bis Klarheit in ihren von Schmutz und Gestank der Kleinstädterei vernebelten Schädeln einkehrte. Die Zeit dort wirkte nun wie in weite Ferne gerückt, beinahe in zu weite Ferne, wie er fand. Die Auszeit, die er im Bund aufbegehrt hatte, war ein sinnvoller Schachzug im Widerstreit mit seinem inneren Kontrahenten gewesen, einer der ihm einerseits Luft zum Atmen schenkte, Lungen die sich nach der kühlen Bergluft verzehrten, die es hier genausowenig gab wie die Treue zu Mythen und Sagen, unter denen er im fernen Norden aufgewachsen war. In vielerlei Hinsicht wirkte der Schleier aus weichen Tropfen um ihn herum wie ein schattenhaftes Stück von Heimat, als blende er schemenhaft die längst bekannten Teile des Lehens aus, die ansonsten perfekt kartographiert und erforscht schienen.

Die Schritte des gerüsteten Streiters erklommen zielgerichtet und mit einer festen Bestimmtheit das Bergland des Südwaldes und weckten dabei, stets das regenverhangene Servano unter sich im Blick des Kriegers, die Erinnerung daran, wie wenig die Menschen Nortgards doch über die entlegensten, unwirtlichsten Winkel der Berge wussten, aber gleichwohl vollständig zufrieden mit diesem Zustand waren. Sie wussten, dass diese Teile des Landes die Heimat für vielleicht wundersame, vielleicht grausame Kreaturen waren, Figuren aus Sagen und Mythen, die nicht ohne Grund in Abgeschiedenheit, fernab der Menschen lebten. Es hatte den Anschein, als wüsste jeder Nortgarder im Herzen, dass diese Wesen verschwinden würden, breitete sich das Volk in diese Winkel aus. Ein aufkeimender Gedanke korrigierte den Krieger beinahe unmittelbar nach diesem Gedanken:“Nicht verschwinden, nur flüchten, in eine Tasche dieser Welt, in die wir nicht greifen können.“ Alleine der Gedanke, ohne den Quell vieler Geschichten, die seine Kindheit begleitet hatten, ein Dasein auf dieser Welt zu fristen, löste ein schmerzvolles Stechen in seiner Brust aus und hieß den Krieger anzuhalten und erneut seinen Blick in die Ferne schweifen. Ein kurzer Windhauch, als sei der seidenwässrige Schleier kurz aus seinem Gleichklang gebracht worden, benetzte Skaskars ohnehin feuchtes Gesicht und förderte ein Lächeln auf seinen Zügen zu Tage. Mehr noch, er hob sein Kinn leicht, als sei dies eine liebkosende Bewegung gewesen, ein ferner Handstrich aus der Vergangenheit, der ihn für die Einkehr zu belohnen suchte und ihm zu verstehen gab, dass sein Erbe ihn nicht vergessen hatte, nun da er sich nicht erneut in Ketten hatte legen lassen. Weder vom Bund, noch von Löwenstein.

Nachdem sein Weg ihn weiter geführt hatte, hinauf zu der alten Ruine, auf deren Stufen er sich setzte und über das sich vor ihm erstreckende Land blickte, wirkte der Streiter, in völliger Ignoranz der mittlerweile in sein Unterkleid einziehenden Kälte und Nässe, zufrieden. Die Stelle erinnerte ihn an den Felsvorsprung, den er in seiner Heimat entdeckt hatte, der Vorsprung, der ihm den Blick über die Schönheit Nortgards ermöglichte und so mancher Zeiten der Platz gewesen war, an dem seine besten Gedanken Form angenommen hatten. Er war ein Mann der Berge, egal wo es Skaskar Sturmschlag hinzog. Der feste, felsige Stein war ein Teil seines Körpers, tief in seinem Fleisch verankert und unfähig – unwillig – dieser wundervollen Tatsache zu entsagen. In den Bergmassiven seiner Heimat lag so viel Wahr- und auch Weisheit, dass es unmöglich erschien, sich davon lösen zu können, selbst wenn man es wollte. Ob die Menschen, die so nah' am endlosen Meer wohnten, ähnlich dachten? Der Krieger konnte es sich, angesichts der Welt, die wohl unter der See liegen mochte, vorstellen. Wasser. Geheimnisvoll wie der tiefe Stein der Berge. Und doch so unbarmherzig und gleichzeitig vollkommen weich. Faszinierend, wie Skaskar Sturmschlag befand. Sein Blick verfolgte im Sturm dieser Gedanken das Aufplatzen der Regentropfen auf dem Boden, während viele weitere Tropfen ihren Weg noch vor sich hatten, getragen von Wind und Gewicht, bis das Pantheon wieder beschloss, den Schleier wieder zu lüften und die Welt wieder zu dem ekelerregend schrecklichen Ort zu machen, der sie war – zumindest was Servano betraf.

Ein fernes Donnergrollen kündigte jedoch an, dass dieser Augenblick noch auf sich warten lassen würde. Ein Lächeln zu dem fernen Zucken von Blitzen im heraufziehenden Wolkengewirr, als Skaskar Sturmschlag begann, in einem trockenen Bereich der Ruinen Schutz zu suchen.

[Bild: IMG_5623.JPG]G
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#9
Heimat

Die letzten Tage waren beschwerlich gewesen. Der Gerüstete hatte sich wie ein entflohener Vogelfreier gefühlt und er vermutete, dass nicht wenige, die genau ein solcher Richtspruch ereilt hatte, die gleichen Wege bemüht hatten.

Und wahrscheinlich waren sie genauso überstürzt aufgebrochen, wie er – ohne eine Möglichkeit, sich zu verabschieden. Man hätte meinen können, der Streiter durchlitt körperlichen Schmerz als seine Gedanken zurück nach Servano gingen. Sein Begleiter kannte diesen Anblick bereits. Nicht nur, dass er sah, wie der Streiter sich selbst im wachen Zustand zusehends quälte, sondern auch dass er bei Nacht hörte, wie er nach Menschen rief, die er offensichtlich zurückgelassen hatte. Er war nicht der erste und würde wahrscheinlich auch nicht der letzte sein, den er durch die geschlossenen Grenzen in sein Heimatlehen führte, wenngleich dieser Krieger mitunter von allen, die er bislang gesehen hatte, am Stärksten litt.

Es war nicht die Art des Hohenmarscheners, sich mit seiner „Ware“ anzufreunden, die für gewöhnlich weit weniger wehrhaft war. Dennoch sah er sich genötigt, dem Krieger eine Hand auf die Schulter zu legen und ihm zu versichern:“Wir sind bald da, deine Leiden werden bald ein Ende haben, Freund.“ Der Blick des Kriegers wanderte eher geprügelt als stolz zu seinem Führer, quälte sich allerdings immerhin ein kurzes, zuversichtliches Lächeln ab. „Wenn ihr das sagt.“ antwortete der Streiter lediglich daraufhin.

Neben all' dem Schmerz waren die letzten Tage der Wanderung vor allem von Stille geprägt gewesen. Der Hohenmarschener hatte mehr als einmal erkannt, dass der Krieger seine Entscheidung zu hinterfragen begann und rechnete eigentlich täglich damit, dass er seine Entscheidung zu revidieren gedachte und sie den langen, beschwerlichen Weg zurückgehen mussten. Zurück nach Servano in dieses Dreckloch. Das würde er sich in jedem Fall einiges kosten lassen, obgleich er sich fragte, wie er das wohl eintreiben sollte. Insgeheim hoffte er auf das Ehrgefühl des Kriegers, für die Unannehmlichkeiten extra zu zahlen, sollte es dazu kommen.

Letztlich jedoch, passierte nichts dergleichen. Er verfolgte seinen Weg beinahe trotzig, als sei es eine besondere Herausforderung, ein Kampf, den er unbedingt zu gewinnen gedachte.

Und Skaskar Sturmschlag kämpfte tatsächlich mit sich. Seine Gedanken schafften es nur mühsam sich von denen zu lösen, die er zurückgelassen hatten. Lanyana, Vegard, Askir, Maria, Kathryn, Aygo. Er hatte sich aus ihrer Mitte geflüchtet. Ohne ein Wort, ohne einen Hinweis. Und Kristin, nunja. Sie war die erste Kette, die er gesprengt hatte, nachdem er Servano verlassen hatte. Es war einfach gewesen, sie zurückzulassen, einfacher als er gedacht hatte und vermutlich einfacher als sie es verdient hatte.

Es war gerade einmal Tage her und seine Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit verblasste bereits. Er fühlte Schuld – vor allem dafür, was er ihr versprochen und ihr in Aussicht gestellt hatte und für das er sich bereitwillig zu einem Haustier der Löwensteiner hatte machen lassen. Mit dem Verlassen von Servano hatte er das Gefühl von diesem sanften Schleier, von diesen Ketten, die ihn am Boden hielten, befreit zu sein. Wo ihre Nähe fehlte, spürte er seinen eigenen Körper, die Kraft und den Kampfeswillen zurückkehren. Und mit jedem Tag, an dem ihr Duft in seiner Erinnerung verblasste, hatte er das Gefühl, besser atmen zu können. Und am Ende würde auch die Schuld verblassen, wie der Schatten einer schönen Fantasie, die doch nie Wirklichkeit hatte werden können.

Die anderen hingegen, sie blieben stete Begleiter seines Weges. Sie mahnten ihn, umzukehren, zurück zum Bund, dorthin wo sein Platz nun war – eine Entscheidung, die der Krieger nicht mehr treffen konnte. Nicht jetzt, wo er seinem Ziel so nah war, seiner Heimat, Nortgard.

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#10
Vater & Sohn

Der Winter kam. Und mit ihm war Skaskar in seine Heimat zurückgekehrt und hatte seiner Familie das Wunder beschert, für das sie lange gebetet hatte. „Ein Sturmschlag verschwindet nicht einfach. Entweder ist er damit zu beschäftigt, ruhmreiche Schlachten zu schlagen oder er ist dabei umgekommen. Und dann wird er später durch die Lieder der Barden unsterblich bis in alle Zeit.“ hatte sein Vater gesagt, als der Streiter durch die Tür in das Haus trat, in dem er aufgewachsen war, während alle anderen nicht mehr als gaffen konnten. Seine Mutter hatte geweint als sie erst begriffen hatte, dass ein Totgeglaubter vor ihr stand, ein verloren geglaubter Sprößling, während sich das Rad der Zeit in seiner Heimat weitergedreht hatte.

Sie alle hatten so viel zu erzählen, zu verkünden – und Skaskar war es vorgekommen, als sei er Jahrzehnte fort gewesen, auch wenn dem lange nicht so war. Also hatte man alle Reserven angezapft, die man im kleinen Eisenheim eingelagert hatte, reichlich Fleisch wurde über das Feuer gehalten und alle verfügbaren Nachbarn eingeladen und man hatte gefeiert. Es war nicht nur ein Wiedersehen mit der Familie, sondern mit dem ganzen Dorf, der eingeschworenen Gemeinschaft, die hier am Fuße der Zwillinge aufeinander acht gab. Es dauerte erstaunlicherweise nicht lange bis Skaskar das Gefühl hatte, nie seinem geliebten Berglehen entflohen zu sein.

Geschichten darüber wer die besseren Turniere gekämpft, die wilderen Tiere erschlagen oder die besseren Schwerter geschmiedet hatte, überschlugen sich mit steigender Stundenzahl – bis am Ende der Boden mit Schlafenden oder eben leeren Krügen und Tellern gesäumt war und Stille im Haus der Sturmschlags eingekehrt war. Während Skaskars Vater noch die letzten Versprengten eines mehr als zünftigen Trinkgelages mit der zugleich strengen und sanften Fürsorge zudeckte, die nur jemand wie der alternde Schmied entwickelt haben konnte, blickte Skaskar in die Dunkelheit hinaus, die das kleine Eisenheim nun vollständig umhüllt hatte.

Erst die Stille der Nacht ließ seine Gedanken kurz in die Vergangenheit, nach Servano entfliehen und sich daran erinnern, wie gerne er diesen Abend, diese Nacht, mit einigen der Zurückgelassenen geteilt hätte. Sein Vater hätte nicht einmal das Spiegelbild des Kriegers in der Scheibe des Hauses gebraucht, um diese Gedanken lesen zu können und die fleischige, kräftige Hand des Schmiedes legte sich schließlich auf die Schulter des Streiters. Sie beide hatten sich stets ohne viel – oder überhaupt – Worte verstanden. Meist reichte eine Berührung oder ein brummender, knurriger Laut aus um eine Botschaft des Verstehens zu übermitteln, wo andernorts ganze Aufsätze gesprochen wurden.

Diese Situation war so eine, in der es nur um dieses Urverständnis ging. Zumindest so lange bis ein Schatten am Fenster vorbeischritt, der die Aufmerksamkeit des Kriegers auf sich zog. Die Silhouette eines Menschen, einer Frau, welche mindestens mit einem Bogen an dem Haus vorbeigegangen war. Aufrechte Haltung, stolz vielleicht sogar und gleichzeitig elegant, vollendet in ihren Bewegungen. Skaskar musste schlagartig an einen lauernden Wolf denken, der an seiner Beute vorbeigeschlichen war, obwohl sie ihn weder angesehen, vielleicht nicht einmal wahrgenommen hatte. „Frye.“ sagte sein Vater nur, als sei das eine hinreichende Erklärung gewesen. „Keiner wusste, dass sie so sehr an dir hing wie deine Geschwister oder deine Mutter dich lieben – vermutlich sogar mehr.“ erklärte die basstiefe Stimme des Mannes als die Silhouette bereits wieder in die Dunkelheit getaucht und längst nicht mehr als der Schatten des Eindruckes war, der nur einen Lidschlag gedauert hatte.

Ohne seinen Blick vom Fenster zu nehmen, rollte Skaskar die offensichtlichste aller Fragen über die Lippen:“Warum war sie dann nicht hier?“ Die Frage wurde zunächst mit nicht mehr als einer langen Stille beantwortet, gefolgt von dem Tiefen Seufzen eines Mannes, der einräumen musste, eine wichtige Schlacht verloren zu haben. „Niemand kannte ihren Schmerz, bis sie sich zu verändern begann – sich von der Gemeinschaft entfernte, oft tage, sogar wochenlang fortblieb und niemand etwas über ihren Verbleib wusste. Sie kehrte zwar immer wieder zurück, jedoch meist so verdreckt und zerzaust, als habe sie keinen Tag geschlafen – und wenn dann hatte sie das nur unter freiem Himmel getan. Manchmal brachte sie sogar frische Wunden mit, die alle in Sorge zurückließen – wobei sie nur so tat als wären es minimale Kratzer. Wahrscheinlich wüsste bis heute niemand, dass Du der Grund für ihren Schmerz warst, wenn man sie nicht eines Tages mit gebrochenem Bein an einem Flussbett, der Besinnungslosigkeit nahe, deinen Namen wimmern hörte.“ Erneut kehrte eine Stille ein, wobei sie sich diesmal wie ein bleierner, schwerer Schleier über die beiden Männer legte. Der eine schien Scham zu empfinden, der andere eine seltsame Mischung aus Mitgefühl und Faszination. Mitgefühl für den Schmerz, den sie empfunden haben musste – Faszination für die Stärke und erlittenen Qualen. „Das Bein verheilte, ihre Wunden hier oben nicht.“ und dabei konnte Skaskar hören wie sich sein Vater mit einem fleischigen Finger kräftig, mehrfach an die Stirn tippte.

Der alte Hrothgrim Sturmschlag nahm die erneut einkehrende Stille als Anlass das Thema dann jedoch jeder weiteren Erforschung zu berauben: „Es ist spät und dein alter Vater ist müde. Sei nur so gut Skaskar – und sei morgen früh noch hier. Sonst brichst du allen das Herz.“ Die Stimme des Alten klang ehrlich und fürsorglich. Sie hatte diese seltsame Eigenschaft, einen zu ergreifen und selbst in der eigenen Heimat an einen anderen Ort zu tragen, an dem man das Gefühl hatte, stets behütet zu sein. „Und vielleicht kannst du Frye ja wieder zurückholen in diese kleine Gemeinschaft. Eisenheim braucht seine Bewohner. Gute Nacht.“ schloss der Alte das Gespräch ab, während Skaskar noch immer aus dem Fenster starrte, ohne etwas anzublicken.

Er war in seinem Leben nicht oft anderer Meinung als sein Vater gewesen, doch offenbarten sich diese Momente meist recht schnell: Skaskar war sich sicher, dass er auf Frye eher früher als später treffen würde – doch im Gegenteil: Er wusste bereits in dieser Nacht, dass er sie nicht „zurückholen“ würde, wenngleich ihm nicht annähernd klar war, wie weitreichend dieser Entschluss, diese Erkenntnis, sein würde.
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