Wege in Schatten und Licht
#1
Adrans Schritte hallten in der großen Halle der Kathedrale des Herrn zu Löwenstein wieder, als er durch den Seitengang auf einen der nahezu heruntergebrannten Kandelaber zutrat. Das Abendlicht schien durch die Buntglasfenster und warf freundliche Muster auf die steinernen Bodenfließen. Nur vom Markt her drangen einige Stimmen heran, und letzter Lärm von den Vorbereitungen für den kommenden Tag der Ankunft.

Am mannshohen Kerzenleuchter angekommen pustete er rasch zwei der herabgebrannten Kerzen aus. Die Bewegungen waren ihm in den letzten Tagen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß er meinte, noch im Schlaf die Kerzen der Kirchenhalle austauschen zu können ohne fehlzutreten oder gar über eine der Bänke zu stolpern. Die alten Wachsreste entfernend und in eine der Robentaschen steckend zog er bereits zwei neue Kerzen heraus, entzündete sie am verbleibenden dritten Stummel, tropfte etwas Wachs in die Halterung und setzte endlich die Kerzen ein. Dann folgte der dritte Stummel, bis das Licht des Kandelabers wieder hell erstrahlte, wie es sich geziemte für den Tempel des Herren - und die anstehende Predigt des Novizen Greiffenwaldt.

Es gab für Anwärter nicht viel zu tun in der Kirche. Man hiess sie abwarten. Worauf, das wurde nicht gesagt. Wie lange, das blieb ebenso unklar. Doch dem Herren in Demut zu dienen, das war eine Lektion die man nicht häufig genug wiederholen konnte - ob als junger Anwärter, der kaum alt genug war, die Wunder des Werkes des Herren kennenzulernen, oder als Laienpriester, der erst nach Jahren des Dienstes am Herren endlich den Mut gefunden hatte, sich ihm vollends zu verschreiben.
Dem Herrn in Demut zu dienen, das war das Wichtigste. In Demut, und mit Freuden.
Ganz gleich, ob der Dienst, den er Mithras heute erwies klein und unbedeutend war - mit Freuden wollte er die Kerzen austauschen, und sei es das letzte, das er tat.
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#2
Andacht, 26. Heuert 1400


Die Zeiten sind schwerer geworden - die Bänke unserer Kirche leerer.
So mancher fiel der furchtbaren Keuche zum Opfer, die die Indharim so bösartig über uns brachten.
Manche sind mit unserem König in den Krieg gezogen, um das Unrecht, daß man uns tat, zu strafen.
Manche verwenden ihren Leib und Leben darauf die Gefahr, die uns derzeit im Süden des eigenen Lehens droht, zurückzuschlagen.
Und manch einer schliesslich - manch einer hat die Hoffnung verloren in diesen schweren Zeiten, die Hoffnung, daß die Lage sich wieder bessert, den Glauben daran, daß unser Herr Mithras uns erlöst.

Warum, so mag man sich fragen - warum lässt der Herr es zu, daß die Keuche und die Wirren von Krieg und Politik ganz Amhran überziehen?
Warum müssen wir erdulden, wie andere Lehen sich abwenden, wie die Politik sich verhärtet, wie selbst in diesen Tagen Intrigen und Abneigung unsere Mitmenschen treiben, während zugleich die Keuche mit kalter Hand nach uns greift? Hat Mithras uns vergessen, oder zürnt er uns gar allzu sehr für unsere Sünden?

Wohl mag es sein, daß uns die gerechte Strafe trifft für unsere Verfehlungen, für Intrigen und Hass, für Unzucht und dem Vergessen unserer Werte und unseres Glaubens. Doch es ist keine strafende Hand, die sich herabsenkt über uns uns alle mit unseren Fehlern auszulöschen - Es ist eine Prüfung, die Mithras uns aufbürdet, um daran zu wachsen, um uns wieder ihm, unseren Werten, und schliesslich unserem Nächsten zuzuwenden. Eine Prüfung, damit wir wieder lernen, daß Glauben, Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft, Vertrauen in unsere Mitmenschen und, zuoberst, Vertrauen in unseren Herren Mithras, uns aus dieser Notlage erretten wird.

Und so müssen wir vertrauensvoll weitergehen, Tag für Tag, ob Keuche oder Krieg: Wir vertrauen in die Schutzmaßnahmen, die man uns mitgeteilt hat, das regelmäßige Händewaschen, das Erschlagen von Ratten, das Verbrennen unserer Toten.
Wir versuchen selbst unser Bestes, um die Lage für den Nachbarn oder gar den Fremden auf der Straße besser zu machen, indem wir ein Lächeln, ein freundliches Wort oder eine Münze spenden.
Wir lassen ab von unserem persönlichen Groll, von alten Feindschaften und von Intrigen.
Und allen voran sprechen wir das tägliche Gebet im festen Glauben daran, daß Mithras uns erretten wird.

So wollen wir es halten, und die Hoffnung und die Überzeugung davon, daß die Lage sich wieder bessern wird, und wir gestärkt aus ihr hervorgehen, auch an jene weitertragen, denen sie noch nicht den Tag erhellt hat.
Denn wer Hoffnung und Trost Anderen bringt, dem gibt Mithras Hoffnung und Trost vielfach zurück!

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